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# taz.de -- Publizistin Sara Hassan über sexuelle Belästigung: „MeToo hat e…
> Sexuelle Belästigung beginnt subtil und fußt oft auf sozialer
> Ungleichheit. Die Publizistin Sara Hassan spricht über den Mythos der
> „Grauzone“.
Bild: Forschte bereits zwei Jahre vor metoo zum Thema: Die Publizistin Sara Has…
taz: Frau Hassan, seit drei Jahren [1][läuft die #MeToo-Debatte]. Die einen
sehen darin eine Chance, andere befürchten das Ende der sexuellen Freiheit.
Das Narrativ „Alles ist verboten, jeder Flirtversuch ist gleich eine
Belästigung“ hat sich bei Kritiker:innen durchgesetzt. Was entgegnen Sie
darauf?
Sara Hassan: Es ist nicht schwer herauszufinden, was der Unterschied
zwischen einem Flirt und Belästigung ist. Man sollte vorher fragen, ob die
entsprechende Person etwas möchte oder nicht. So einfach lässt sich Konsens
herausfinden. Die Aussage, dass es schwer wäre zu unterscheiden, gibt
allein die Täterperspektive wieder. Von einer Grauzone kann man also nur
sprechen, wenn man die Perspektive der Betroffenen ignoriert – und das
wurde lange gemacht.
Wenn mir mein Vorgesetzter ein Kompliment für mein Outfit macht, dann kann
ich mich darüber freuen oder es als übergriffig empfinden, dass mein
Aussehen am Arbeitsplatz kommentiert wird. Ist das nicht eine klassische
Grauzone?
Auch diese Grauzone löst sich auf, wenn man guckt, wie die Adressierte sich
aus dieser Situation befreien kann. Kann eine Angestellte zu ihrem Chef
sagen, dass sie nicht möchte, dass ihr Aussehen kommentiert wird, ohne
negative Konsequenzen zu spüren? Das ist nicht nur abhängig vom Chef,
sondern auch vom Umfeld.
Überall geht es um Macht und um die soziale Position: Arbeite ich
beispielsweise als Praktikantin in einem Büro mit starren Hierarchien, in
dem ein großer Wettbewerb herrscht und Angestellte gegeneinander
ausgespielt werden? Ein solches Umfeld lässt es nicht zu, dass man solche
Kommentare zurückweist. Das Umfeld ist eine wichtige Kategorie, um
herauszufinden, ob es sich um Missbrauch handelt. Deswegen haben wir es als
Red Flag, also als Warnhinweis, markiert.
Wie sind diese Red Flags entstanden?
Als ich 2015 angefangen habe, im EU-Parlament in Brüssel zu arbeiten, waren
in meinen ersten Wochen meine Kolleginnen und ich vielen Übergriffen
ausgesetzt. Doch sie wurden als vollkommen normal abgetan. Gemeinsam haben
wir dann beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen, und haben das
feministische Netzwerk „Period.“ gegründet. Dort haben wir in zahlreichen
Gesprächen mit Frauen Erfahrungen ausgetauscht und Strategien erprobt, wie
man sich gegen Belästigung zur Wehr setzen kann.
Also zwei Jahre [2][vor #MeToo].
Ja, genau. 2017 haben wir dann gemerkt, dass unsere Erfahrungen kein
Brüssel-Spezifikum sind, sondern leider globale Wirklichkeit ist. Wir haben
angefangen, die Erfahrungsberichte auf Regelmäßigkeiten hin zu untersuchen,
und gemerkt, dass die Geschichten immer den gleichen Mustern folgen.
Belästigung beginnt meistens schleichend und bleibt für die Öffentlichkeit
lange unsichtbar. Um sie frühzeitig zu erkennen, haben meine Co-Autorin
Juliette Sanchez-Lambert und ich dann ein Warnsystem mit vier Kategorien
entwickelt.
Welche drei Kategorien haben Sie neben dem Umfeld noch ausgemacht?
Eines haben wir unter dem „Netter Kerl“-Syndrom zusammengefasst. Menschen,
wie ein geschätzter Politiker oder ein beliebter Freund, werden zu Idolen
erkoren. Werden Vorwürfe gegen sie erhoben, mündet das im Umfeld meist in
einem Verteidigungsreflex: „Nein, für diese Person würde ich meine Hand ins
Feuer legen.“ Menschen, die in der Mitte der Gesellschaft stehen, werden
häufig von ihrem Umfeld gedeckt, während Marginalisierte viel häufiger
angezweifelt werden. Es geht also darum: Wem glauben wir und wem nicht. Die
dritte Kategorie sind klassische Strategien von Tätern.
Wie sehen solche Strategien aus?
Ein Beispiel ist das Podest. Dabei wird eine einzelne Person zuerst
glorifiziert. Das erleben viele, wenn sie einen neuen Job beginnen und dann
erst mal überschwänglich für ihre Arbeit gelobt werden. Doch aus dem Nichts
heraus werden sie dann von den Tätern vom Podest gerissen und nichts von
dem, was sie tun, ist mehr richtig. Das wirkt für Betroffene
destabilisierend und erzeugt emotionale Abhängigkeit, über die sie deutlich
leichter kontrolliert und manipuliert werden.
Und die vierte Kategorie?
Da geht es um die Reaktionen der Betroffenen. Wenn wir Belästigung
erfahren, versuchen wir uns das meist erst mal auszureden. So was wie „Das
hat er sicher nicht so gemeint“ oder „Alle anderen haben es als Scherz
wahrgenommen“. Aber auch ein schlechtes Bauchgefühl, ein Erstarren oder das
Zurückbleiben eines brennenden Gefühls, wenn man unwillentlich angefasst
wurde, können Indikatoren für ein belästigendes Verhalten sein. Wir können
auch an unserem eigenen Verhalten ablesen, was Grenzüberschreitungen sind.
Sollte ich als potenziell Betroffene die Red Flags auswendig lernen?
Nein, es geht nicht darum, dass man alle Muster und Kategorien ständig im
Kopf haben muss, sondern darum zu verstehen, welche Verhaltensweisen
vorkommen können und welche System haben. Sobald man weiß, wie Belästigung
anfängt und abläuft, hilft es uns, damit besser umzugehen. Mit dem
Red-Flag-System sollen Betroffene missbräuchliche von normalen Situationen
unterscheiden können.
Das ständige Aufpassen und Analysieren hört sich trotz allem nach viel
Arbeit an. Ist es fair, dass die Betroffenen diese übernehmen müssen?
Natürlich ist es ungerecht, wie viel emotionale und Bildungsarbeit
Betroffene leisten müssen. Doch angesichts der Strukturen, in die wir alle
verstrickt sind, können wir leider nicht davon ausgehen, dass Personen in
Machtpositionen sich dazu bequemen, ihre Ressourcen bereitwillig
umzuverteilen. Unser Buch soll für Betroffene eine Orientierungshilfe und
Stütze sein; und die vermeintlich Unbeteiligten wollen wir aufrütteln.
Wenn ich als Unbeteiligte in einer Interaktion zwischen zwei Menschen Red
Flags erkenne, sollte ich mich dann einmischen, selbst wenn beide
Beteiligten die Situation als vollkommen okay empfinden?
Es wäre paternalistisch, jemandem einreden zu wollen, dass er oder sie
gerade Belästigung erfährt. Doch wir müssen davon ausgehen, dass
sexualisierte Momente in unserer Gesellschaft so normalisiert sind, dass
viele bestimmte Handlungen gar nicht mehr problematisieren. Mit einer „Das
ist halt sein Humor“-Haltung reden sie sich ein, dass kein übergriffiges
Verhalten stattgefunden hat.
Weggucken ist falsch, aber man will sich ja auch nicht aufdrängen. Was also
tun?
Ich würde in solchen Momenten dazu raten, dass man in Kontakt bleibt und
signalisiert, dass man die Situation nicht in Ordnung findet. Denn wir
wissen aus unseren Gesprächen, dass eine Einordnung von außen für die
Betroffenen extrem wichtig ist. Gerade, weil Täter den Übergriff häufig als
Missverständnis framen wollen oder der Betroffenen einreden, sie habe sich
selbst bereitwillig in die Situation gebracht.
Wir haben jetzt viel über Beispiele am Arbeitsplatz gesprochen. Ein
Großteil von Missbrauch und sexualisierter Gewalt findet jedoch in
(Ex-)Partnerschaften statt. Kann ich das Red-Flag-System auch dort
anwenden?
Wir haben unseren Schwerpunkt auf den Arbeitskontext, Uni und Schule
gelegt, im Bereich sexualisierte Gewalt in Partnerschaftsbeziehungen bin
ich keine Expertin. Doch viele Red Flags, die wir anführen, können auf
unterschiedliche Situationen angewendet werden. Also: Stehe ich in einem
Abhängigkeitsverhältnis zu dieser Person? Kontrolliert sie mich? Fehlen mir
Unterstützungsnetzwerke? Diese Fragen können in sehr vielen alltäglichen
Situationen ein gutes erstes Frühwarnsystem sein.
Belästigung erkennen, anzusprechen und die Menschen dazu bringen, Konsens
zu erfragen. Sind wir am Ziel, wenn das erreicht ist?
Es wäre schön, wenn es in ganz vielen Situationen normalisiert wäre, nach
einem Konsens zu fragen. Aber das reicht nicht aus. Die meisten
Missbrauchsvorfälle sind auf soziale Ungleichheit zurückzuführen. Menschen
werden marginalisiert, prekarisiert, in unsichere Arbeitsverhältnisse
gedrängt oder aufgrund von Klasse, race oder Gender unglaubwürdig gemacht.
Wenn wir also wirklich etwas ändern wollen, müssen wir an Ungleichheits-
und Machtstrukturen ansetzen.
Sind wir auf einem guten Weg dahin?
Auch wenn es manchmal nicht danach aussieht, muss ich das glauben, um
weitermachen zu können. Mir ist aber auch klar, dass Fortschritt nicht
immer linear ist. Ich glaube, es ist ein großer Wandel im Gange. Doch die
Frage ist natürlich immer, wie die Gesamtgesellschaft darauf reagiert.
#MeToo hat schon einiges verändert, aber darauf dürfen wir uns nicht
ausruhen. Wir müssen es uns häufiger unbequem machen, und unsere eigenen
Positionen und Privilegien hinterfragen. Also auch für andere Menschen
etwas riskieren, sonst verändert sich nichts.
11 Nov 2020
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## AUTOREN
Carolina Schwarz
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