| # taz.de -- Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz: Der Nestbeschmutzer | |
| > Supermarkt-Mitarbeiter:innen klagen über einen Kollegen. Der | |
| > Beschwerdeführer wird herabgestuft, Mitarbeiter kündigen. Der Kollege | |
| > arbeitet weiter. | |
| Bild: Kann man einfach abstellen: Einkaufswagen von Edeka. Bei Mitarbeitern ist… | |
| Berlin taz | Es fing schon beim Einarbeiten an, vor zwei Jahren, in der | |
| Edeka-Filiale in Berlin-Steglitz. Da war Annika With 19 Jahre alt. Da habe | |
| Schichtleiter Marko S. ihr gesagt, sie solle nicht so mit dem Arsch | |
| wackeln. Sie steckte das weg, es war ihr erster Job. Beim Einsortieren von | |
| Obst fragte With, ob sie noch etwas helfen könne. „Du kannst dir auch an | |
| der Muschi spielen“, habe S. da sinngemäß geantwortet. Eine Kollegin stand | |
| daneben. | |
| With wandte sich an Ronny Buruck, 32 Jahre alt, ebenfalls Schichtleiter, | |
| allerdings auf 450-Euro-Basis neben dem Studium und nicht wie S. fest | |
| angestellt – ein Fakt, der noch relevant werden sollte. Buruck gab die | |
| Beschwerde an den Filialleiter weiter. Doch außer einer mündlichen | |
| Verwarnung an S. passierte nichts. „Es gab keine Entschuldigung“, sagt | |
| With. Stattdessen habe S. zu Buruck gesagt, bei anonymen Beschwerden könne | |
| er sein Verhalten nicht ändern. Er arbeitet weiter, sogar als | |
| stellvertretender Filialleiter. | |
| An dieser Stelle könnte die Geschichte zu Ende sein. Marko S. macht weiter | |
| mit seinen Sprüchen. Ronny Buruck bemerkt, dass die Beschwerden nicht an | |
| den Geschäftsführer Stefan Voelker, dem fünf Edeka-Filialen gehören, | |
| weitergeleitet werden. Obwohl jede Beschwerde, wie Voelker auf Anfrage | |
| betont, ernst genommen und in der Regel sofort bearbeitet werde. | |
| Anastasia Lisovenko hat in derselben Filiale ähnliche Erfahrungen wie With | |
| mit Marko S. gemacht. „Gleich in meiner ersten Schicht hat er gefragt, ob | |
| ich auch auf Titten stehe, so wie er“, sagt die 23-Jährige, „Was sagt man | |
| da?“ Kolleg:innen hätten es heruntergespielt, das sei nun mal so seine | |
| Art. „Aber das rechtfertigt das doch nicht!“, sagt Lisovenko. Als sie | |
| einmal Kopfschmerzen beklagt, soll er ihr geraten haben: „Weißt du, was | |
| hilft? Ficken!“ | |
| Da waren die Mitarbeiterinnen der Nachtschicht und Ronny Buruck noch nicht | |
| so weit, dass sie gemeinsam eine Beschwerde einreichten. An diesen Punkt | |
| kamen sie erst nach und nach, als Stellungnahmen und Gespräche nicht | |
| fruchteten. | |
| Ein Freitagabend Anfang September 2020, Spätschicht an der Kasse. Michelle | |
| P. geht es nicht gut. Tagsüber war sie beim Arzt und kurz unter Narkose. | |
| Gegen 22.30 Uhr kommen zwei Kolleginnen, darunter Lisovenko, um sie zu | |
| besuchen. Sie bemerken, dass P. sich nicht gut fühlt, und wollen dem | |
| Schichtleiter S. deshalb vorschlagen, die letzte Stunde für sie | |
| einzuspringen. So erzählen es Lisovenko und Michelle P. am Telefon und so | |
| steht es in der Beschwerde, die an die Edeka-Zentrale weitergeleitet wurde | |
| und die der taz vorliegt. 20 Minuten lang hätten sie Marko S. nicht finden | |
| können, bis der plötzlich aus einem verschlossenen, dunklen Büro herauskam. | |
| Sofort habe er die Kolleginnen angeschrien, die für P. einspringen wollten: | |
| Sie sollten den Laden verlassen. | |
| Marko S., so die Darstellung, habe P. dann dazu aufgefordert, im | |
| angegliederten Büro die Kasse zu zählen. Ihre Kollegin Lisovenko habe er | |
| als Schlampe beschimpft, sagt die 19-Jährige. Während sie Geld zählte, | |
| führte S. ein privates Telefongespräch. Weil er dabei anzügliche Kommentare | |
| machte, legte sich Michelle P. die Hände auf die Ohren. | |
| Daraufhin habe S. sie am Handgelenk gepackt, nicht losgelassen und gesagt, | |
| sie solle jetzt zuhören. Sie hatte sich kurz zuvor die Haut am Handgelenk | |
| mit Öl verbrannt. „Erst als ich gesagt habe, das tut mir weh, hat er | |
| losgelassen“, sagt sie. | |
| ## Beschweren – aber wo? | |
| Über das Wochenende beraten sich die Kolleginnen. Sex-Witze, Kommentare zum | |
| Aussehen – der Vorfall reiht sich in ihre Erfahrungen mit S. ein. Am Montag | |
| beschweren sie sich mündlich und schriftlich beim Filialleiter Andreas | |
| Müller. Der gibt die Beschwerde aber nicht an Geschäftsführer Voelker | |
| weiter. Voelker sagte der taz, diese habe ihn „nicht gleich“ erreicht. Wann | |
| er genau von der Beschwerde erfahren habe, sagt er nicht. Filialleiter | |
| Müller habe im Gespräch „weder Sympathie gezeigt noch etwas dagegen | |
| geäußert“, sagt Lisovenko. Die Kolleginnen bitten darum, nicht mehr mit | |
| Marko S. in einer Schicht arbeiten zu müssen. Das sei abgelehnt worden, | |
| stattdessen habe Müller ihnen eine Kündigung nahegelegt. Das lehnten die | |
| Mitarbeiterinnen ab. Dann aber habe es geheißen, sie würden nicht mehr | |
| zusammen mit S. eingeteilt. | |
| Als alle drei anderthalb Wochen später dennoch mit S. in eine Schicht | |
| eingetragen werden, kommen sie eine Stunde früher, um das Gespräch mit | |
| diesem zu suchen. Dazu, so die Darstellung der Mitarbeiterinnen, sei dieser | |
| jedoch nicht bereit gewesen. „Wie soll man mit einer Person arbeiten, mit | |
| der man nicht mal reden kann?“, fragt Lisovenko. Sie lassen einen Zettel | |
| für Filialleiter Müller da und gehen. | |
| Dieses Verhalten wertete die Filialleitung als Arbeitsverweigerung. Die | |
| drei Kolleginnen werden mehrere Wochen aus dem Dienstplan gestrichen, als | |
| „disziplinarische Maßnahme“, wie Filialleiter Müller gegenüber dem | |
| Mitarbeiter Buruck am Telefon gesagt habe. Bei einem Minijob bedeutet das | |
| Gehaltseinbußen. | |
| „Unangemessenes Verhalten oder jemand, der seinen Job schlecht macht, das | |
| gibt es immer wieder“, sagt Ronny Buruck, „fatal ist aber, wenn das von | |
| oben toleriert wird.“ Am 22. September entscheiden sich Buruck und sechs | |
| Mitarbeiterinnen dazu, eine schriftliche Beschwerde an den Kundenservice in | |
| der Edeka-Zentrale zu schicken – nicht ohne vorher Filialleiter Müller | |
| darüber telefonisch zu informieren. Der habe mit Drohungen reagiert: Wenn | |
| sie das täten, bräuchten sie nicht mehr zu kommen. „Das Telefonat hat uns | |
| nur bestätigt“, sagt Buruck. | |
| Doch warum mussten sie den Weg über den Kundenservice gehen? Weder With, | |
| Lisovenko, P. noch Buruck wissen von einer Ombuds- oder | |
| Antidiskriminierungsstelle bei Edeka Voelker. Es gibt auch keine. | |
| ## Keine Ombudsstelle für Edekas Markt-Mitarbeiter:innen | |
| [1][Edeka] ist ein genossenschaftlicher Verbund aus mehr als 3.700 | |
| Einzelhandelsbetrieben. In der Edeka-Zentrale existiert eine | |
| Beschwerdestelle, die aber nur für die Angestellten der Zentrale zuständig | |
| ist. Zu der gehört zum Beispiel die Pressestelle. Die Zentrale verfüge | |
| „seit mehreren Jahren über eine unabhängige Ombudsstelle“, heißt es auf | |
| Anfrage. Der Kontakt sei im Intranet und in einer Betriebsvereinbarung zu | |
| finden. Doch die Zentrale führe keine eigenen Märkte. Sie koordiniert | |
| Markenauftritte, also Kampagnen wie „Wir lieben Lebensmittel“ und die | |
| strategische Weiterentwicklung des Verbunds. Damit ist die Ombudsstelle für | |
| alle Angestellten der Märkte nutzlos. | |
| Die Edeka-Märkte selbst sind unabhängig und werden von selbstständigen | |
| Kaufleuten geführt. Sie entscheiden über ihr Personal. Eine Ombudsstelle | |
| müssten sie selbst einrichten. Ansprechpartner:innen für Angestellte sind | |
| so meist die Vorgesetzten. Wenn das Fehlverhalten aber von einer solchen | |
| Person ausgeht, haben Betroffene es besonders schwer. Sie können versuchen, | |
| eine Ebene höher Gehör zu finden. Fatal ist es, wenn Vorgesetzte einen Fall | |
| offenbar nicht ernst genug nehmen – so wie bei Edeka Voelker. | |
| Nachfrage bei einer Expertin. [2][Charlotte Diehl] ist Sozialpsychologin | |
| und hat über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz an der Universität | |
| Bielefeld geforscht. Was soll man tun, wenn es keine Ansprechperson gibt? | |
| „Dann am besten extern Hilfe suchen bei Beratungsstellen“, empfiehlt sie. | |
| Zum Beispiel bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes oder beim | |
| Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen des Bundesamts für Familie und | |
| zivilgesellschaftliche Aufgaben. | |
| Zweiter Tipp: Es helfe, Zeug:innen im Kollegium zu suchen. „Das ist einmal | |
| psychologisch gut, sich zusammenzutun, erhöht aber auch die Glaubwürdigkeit | |
| und den Druck“, sagt Diehl. So werde klar, dass es sich nicht um einen | |
| Einzelfall handele. So weit scheinen With, Lisovenko, P. und Buruck alles | |
| richtig gemacht zu haben. | |
| Allerdings, betont Diehl, dürften Betroffene, die sich beschweren, keine | |
| negativen Konsequenzen fürchten. Doch schon Kurt Tucholsky schrieb: „Im | |
| übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel | |
| gefährlicher als der, der den Schmutz macht.“ Edeka Voelker scheint das | |
| wörtlich genommen zu haben. Bis auf eine Abmahnung wurde das Verhalten des | |
| festangestellten Schichtleiters Marko S. bisher nicht geahndet. | |
| Mit den Vorwürfen konfrontiert, sagte Voelker der taz, dass in dem Fall | |
| alle möglichen Sanktionsmaßnahmen ausgeschöpft worden seien. S. räume | |
| „verbales Fehlverhalten ein, streite aber die Absicht der sexistischen | |
| Diskriminierung massiv ab“. Er wolle sich „vorbehaltlich“ entschuldigen. | |
| Die drei Kolleg:innen dürfen inzwischen wieder arbeiten. Und Ronny Buruck, | |
| seit acht Jahren im Unternehmen und Schichtleiter auf 450-Euro-Basis? Weil | |
| er die Beschwerde der Kolleginnen an die Zentrale weitergeleitet hat, wurde | |
| er mehr als einen Monat lang nicht eingeteilt. Er hat erst einmal Urlaub | |
| genommen. | |
| ## Der Vorwurf: Vertrauensbruch | |
| Voelker sagte der taz, diese „als Repressalien wahrgenommenen Maßnahmen, | |
| wie kurzfristige Versetzung oder Freistellung“, seien ein wichtiges Mittel, | |
| zerstrittene Parteien zu trennen und schlichten zu können – auch wenn sie | |
| „für den Moment nicht immer die Richtigen treffen“. | |
| 17 Kolleg:innen der Nachtschicht haben in einer Petition gefordert, dass | |
| Buruck bleiben darf. Vor zwei Wochen bekam dieser einen Anruf der | |
| Betriebsleitung von Edeka Voelker: Wegen des Vertrauensbruchs könne er | |
| nicht weiter in leitender Funktion arbeiten. „Loyalität geht hier offenbar | |
| über Kompetenz“, sagt Buruck. Man habe ihm, dem „Nestbeschmutzer“, | |
| angeboten, an der Kasse zu arbeiten. Buruck will nun kündigen. | |
| With, Lisovenko, P. und zwei weitere Kolleginnen haben aus der Erfahrung | |
| ihre Schlüsse gezogen: Sie haben ihre Kündigung bereits eingereicht. | |
| Weitere Kolleginnen wollen folgen. Bei einer anderen Berliner Edeka-Filiale | |
| hatte Lisovenko bereits ein Vorstellungsgespräch. „Da hat die Marktleiterin | |
| gesagt, dass Pauschalkräfte wie normale Mitarbeiter behandelt werden.“ | |
| 11 Nov 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://verbund.edeka/ | |
| [2] /Psychologin-ueber-Aufschrei/!5071720/ | |
| ## AUTOREN | |
| Tobias Hausdorf | |
| ## TAGS | |
| sexuelle Belästigung | |
| Supermarkt | |
| Arbeitnehmer | |
| BVG | |
| Schwerpunkt #metoo | |
| sexuelle Belästigung | |
| Schwerpunkt #metoo | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Sexualisierte Gewalt im ÖPNV: Der Zu-Nah-Verkehr | |
| Wer sexualisierte Gewalt im öffentlichen Nahverkehr erlebt, sucht oft | |
| vergeblich nach Hilfe. BVG und S-Bahn könnten etwa von London lernen. | |
| Publizistin Sara Hassan über sexuelle Belästigung: „MeToo hat einiges verä… | |
| Sexuelle Belästigung beginnt subtil und fußt oft auf sozialer Ungleichheit. | |
| Die Publizistin Sara Hassan spricht über den Mythos der „Grauzone“. | |
| Finnischer Gesetzentwurf: Auch ein Foto kann belästigen | |
| Finnland plant Haftstrafen für konsensloses Versenden von „Dick Pics“. Ein | |
| wichtiger Vorstoß gegen sexuelle Belästigung. | |
| #MeToo-Vorwurf beim SWR: Versetzt, befristet, vertuscht? | |
| Vor dem Arbeitsgericht in Stuttgart klagen zwei SWR-MitarbeiterInnen gegen | |
| ihren Sender. Ein mutmaßlicher #MeToo-Fall wirft im Prozess Fragen auf. |