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# taz.de -- #MeToo in Dänemark: Gehört und geahndet
> Seit Wochen erheben viele Frauen Vorwürfe gegen Männer aus der Kultur-,
> Medien- und Politikbranche. Kopenhagens Oberbürgermeister trat nun
> zurück.
Bild: Langfristig erfolgreicher Protest: Eine #MeToo-Demo in Kopenhagen im Jahr…
„Wenn du nicht meinen Schwanz lutschst, dann werde ich deine Karriere
fucking zerstören.“ Das soll ein einflussreicher Medienchef zu Sofie Linde,
einer bekannten dänischen TV-Moderatorin, gesagt haben. Zwölf Jahre ist es
her, doch den Versuch der sexuellen Nötigung machte sie erst vor einem
Monat bei der „Zulu Comedy Galla“ öffentlich – und setzte damit eine neue
#MeToo-Debatte in Gang. Und auf einmal steht nicht nur die Medienszene
unter Druck, sondern auch die politische bis hin zur dänischen Regierung.
Im Oktober 2017 erhoben Dutzende Frauen in der New York Times und dem New
Yorker Vorwürfe gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein und lösten damit
eine weltweite Debatte über sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch aus.
In Dänemark gab es damals einen Fall in der Filmbranche, über den
diskutiert wurde, doch Konsequenzen gab es für den beschuldigten
Produzenten keine. Richtig angekommen ist #MeToo in dem kleinen
skandinavischen Land nie – bis jetzt. Denn nun scheint es, als hätte ein
Kulturwandel stattgefunden.
Anfang Oktober musste Morten Østergaard, Chef der Sozialliberalen Partei
(Radikale Venstre), wegen eines zehn Jahre zurückliegenden Falls sexueller
Belästigung einer Parteikollegin zurücktreten. Østergaard soll eine
Kollegin ohne ihre Zustimmung am Schenkel angefasst haben. Er stritt die
Vorwürfe ab, doch nachdem Kritik aus der eigenen Partei an seinem Umgang
mit dem Vorfall aufkam, gab er seinen Posten ab. Seit seinem Rücktritt
erhoben weitere Frauen Belästigungsvorwürfe, manche gab Østergaard zu.
Und er ist nicht der einzige Politiker, der momentan im Verdacht steht,
seine Macht missbraucht und Frauen sexuell belästigt zu haben. Am Montag
ist Kopenhagens Oberbürgermeister und Vizevorsitzender der Sozialdemokraten
Frank Jensen zurückgetreten. Zuvor gab es Vorwürfe der Belästigung von
mehreren Mitarbeiterinnen, darunter ungewollte Berührungen und Küsse. Er
räumt zwar Fehlverhalten in seinem 30-jährigen Wirken als Politiker ein,
gibt aber den Mediendruck als Grund für seinen Rücktritt an. Er könne sein
politisches Amt unter diesen Umständen nicht mehr ausführen.
## Auch Soldatinnen und Politikerinnen berichten
Vergangene Woche musste ein Verlagschef seinen Posten niederlegen, ein
Journalist und Zeitungsgründer wurde angeklagt, und ein prominenter
Radiomoderator sieht sich mit Vorwürfen konfrontiert. Dass Männer wegen
sexueller Belästigung und Nötigung ihre Jobs verlieren, war bis vor Kurzem
unvorstellbar in Dänemark. Ganz anders als im Nachbarland Schweden.
Dort legten Tausende Frauen das Fehlverhalten von mächtigen Männern offen,
die Vorwürfe reichten von ungewollten Berührungen über sexuelle Belästigung
bis hin zu Vergewaltigungsvorwürfen. Betroffen war nicht nur die
Kulturszene, auch Soldatinnen und Politikerinnen berichteten von sexuellen
Übergriffen, die sie in ihrem Arbeitsalltag erlebt hatten. Einen Höhepunkt
erreichte die Debatte, als der Kulturschaffende und Ehemann eines Mitglied
der Schwedischen Akademie, Jean-Caude Arnault, wegen Vergewaltigung
verurteilt wurde. Infolgedessen wurde 2018 kein Literaturnobelpreis
vergeben.
Die Debatte führte dazu, dass das Thema der sexualisierten Gewalt und
Belästigung in den Lehrplan eingeführt wurde. 2018 trat dann ein
verschärftes Sexualstrafgesetz in Kraft, seitdem ist Sex nur mit
ausdrücklicher Zustimmung legal, physische Gewalt ist nun keine Bedingung
mehr, um eine Tat als Vergewaltigung zu bezeichnen. „Nirgendwo hat #MeToo
so große Auswirkung gehabt wie in Schweden“, schrieb die schwedische
Journalistin Åsa Linderborg kürzlich in der dänischen Zeitung Information.
Doch was war in Schweden so anders als in Dänemark?
Es könnte an der unterschiedlichen Medienberichterstattung beider Länder
liegen. Das sagen zumindest die Wissenschaftlerinnen Tina Askanius von der
Universität Malmö und Jannie Møller Hartley von der Universität Roskilde.
Die beiden veröffentlichten 2019 eine Studie zur Berichterstattung in
Schweden und Dänemark, die zeigt, dass sich schwedische Medien deutlich
intensiver mit #MeToo beschäftigt haben. Von Oktober bis Dezember 2017 gab
es in den vier größten Zeitungen Schwedens fünfmal so viele Beiträge zu der
Thematik wie in Dänemark. Zudem wurden die Texte dort prominenter
platziert. In Dänemark fand die Berichterstattung meist weiter hinten im
Meinungsteil der Zeitung statt. Und auch der Tenor der Beiträge – etwa 10
Prozent – war der Debatte kritischer gegenüber eingestellt. In Schweden
betraf dies nur 1 Prozent der Texte.
## Eine „größere Toleranzschwelle“?
Doch heute ist die Lage in Dänemark anders. Lindes erhobene Vorwürfe wurden
live im Fernsehen übertragen. Daraufhin unterschrieben 1.600 Frauen aus der
Medienbranche einen Brandbrief in der Tageszeitung Politiken, der Sexismus,
Übergriffe und sexuellen Missbrauch in der Branche beklagte. Darin erzählen
sie von unangemessenen Bemerkungen über ihr Aussehen, sexualisierte
Nachrichten und grenzüberschreitendes Verhalten, die sie im Arbeitsalltag
erleben.
Auf den Brief folgten weitere Schreiben: In dänischen Zeitungen erzählten
300 Frauen aus der Politik, mehr als 500 Ärztinnen, über 750 Forscherinnen,
fast 700 Mitarbeiterinnen der Filmbranche und mehrere Kellnerinnen und
Köchinnen, dass sie Ähnliches erlebt hatten. Fast jeden Tag werden neue
#MeToo-Fälle in Dänemark publik. Doch warum sprechen sie erst jetzt?
„Vielleicht haben die Dänen eine größere Toleranzschwelle“, meinte Ning …
Coninck-Smith, dänische Professorin für Geschichte an der Universität
Aarhus, 2018 in einem Interview der Zeitung Berlingske. „Wir waren die
Ersten, die Pornografie und Abtreibung legalisiert haben. Die Frage ist, ob
diese Freizügigkeit auch eine Schattenseite hat. Einerseits erkennen wir
das Recht der Frauen über ihren eigenen Körper an. Auf der anderen Seite
ist es für uns schwieriger zu akzeptieren, dass Frauen auch Opfer von
Missbrauch werden können“, sagte sie.
Schweden und Dänemark unterscheiden sich hier. Aus Spaß nennt man in
Dänemark die Nachbar*innen oft „Verbotsschweden“, aber für viele Dän*inn…
beinhaltet dieser Scherz eine ernste Seite. Während sie sich selbst als
locker verstehen, sehen sie die Schwed*innen als versteift an. Liberal zu
sein hat in der dänischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. In Schweden
sei es wichtiger, sich möglichst korrekt zu verhalten, so die schwedische
Journalistin Åsa Linderborg. „In Dänemark war #MeToo eine Frage, über die
man legitim streiten konnte. In Schweden wurde sexuelle Belästigung als
indiskutabel angesehen“, sagte sie der Zeitung Information.
## Neues Licht auf einen alten Fall
Nun aber hat sich etwas verändert. Das dänische Sexualstrafrecht soll sich
dem schwedischen Modell anpassen. Und auch ein gesellschaftlicher Wandel
ist zu erkennen. Das zeigt ein alter Skandal, der nun den dänischen
Außenminister Jeppe Kofod zu Fall bringen könnte.
Im Jahr 2008 hatte Kofod, damals 34 und Abgeordneter der Sozialdemokraten,
auf einem Parteilehrgang Sex mit einem 15-jährigen Mädchen gehabt. Der Fall
ist der Öffentlichkeit seitdem bekannt, doch wirkliche Folgen gab es für
Kofod nicht. Der damals 34-Jährige entschuldigte sich für seinen „Mangel an
Urteilsvermögen“ und die „moralisch unangemessene Beziehung“ zu der
Jugendlichen, doch gab auch an, das Alter des Mädchens nicht gekannt zu
haben, was sein politisches Leben rettete: Er trat zwar als
außenpolitischer Sprecher der Partei zurück, blieb aber Abgeordneter,
verlor nur seine Ausschussämter und ging später ins EU-Parlament. Erst
kürzlich wurde er zum Außenminister ernannt.
Doch nun mitten in der zweiten #MeToo-Welle wird der Fall von damals von
verschiedenen dänischen Medien noch einmal ausgerollt. Die
Berichterstattung legt nahe, dass es wenig glaubhaft ist, dass Kofod das
Alter des Mädchens nicht gekannt habe, sie war damals Schulpraktikantin bei
den Sozialdemokraten im Parlament und hatte auch mit Kofod
zusammengearbeitet.
Nun fragen sich heute viele, ob Kofod wirklich der richtige Mann für das
hohe Amt sei. Manche Politiker fordern seinen Rücktritt als Außenminister.
Die Regierungschefin Mette Frederiksen sprach ihm jedoch ihr Vertrauen aus.
Wie der Fall ausgehen wird, werden wohl die nächsten Wochen zeigen. Denn
den Kulturwandel, den Dänemark in den letzten drei Jahren durchgemacht hat,
haben schon andere mutmaßliche Täter zu spüren bekommen. Immer mehr Frauen
werden laut und erfahren Gerechtigkeit. Männer verlieren ihre Posten,
werden angeklagt, und das für deutlich weniger schlimme Vorwürfe als bei
Kofod.
19 Oct 2020
## AUTOREN
Kåre Holm Thomsen
## TAGS
Schwerpunkt #metoo
Dänemark
Mette Frederiksen
Sexualisierte Gewalt
Dänemark
Schwerpunkt #metoo
Schwerpunkt #metoo
Harvey Weinstein
Schwerpunkt #metoo
Feminismus
Schwerpunkt #metoo
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