# taz.de -- Militärhistoriker über Kriegstüchtigkeit: „Wir brauchen als Re… | |
> Die BRD ist wehrunfähig – und in Gefahr. Der Militärhistoriker Sönke | |
> Neitzel fordert einen Wehrdienst und weiß: Frieden gibt’s nicht zum | |
> Nulltarif. | |
Bild: Uniformen des Panzergrenadierbataillons 411 in Pasewalk | |
taz: Herr Neitzel, Sie haben die SPD kürzlich [1][„ein Sicherheitsrisiko | |
für Deutschland“] genannt. Da wussten Sie noch nicht, dass mit Matthias | |
Miersch ein Freund von Ex-Kanzler Gerhard Schröder | |
SPD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag geworden ist. Wie würden Sie die | |
Aussage jetzt steigern? | |
Sönke Neitzel: Das mit dem „Sicherheitsrisiko“ bezog sich auf [2][die Frage | |
der Wehrpflicht.] Es war für mich erstaunlich, dass im Koalitionsvertrag | |
zwischen Union und SPD steht: „Wir schaffen einen neuen attraktiven | |
Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert.“ Jeder weiß, dass das | |
nicht funktioniert. | |
taz: Was sagen denn die Politiker, die Sie treffen, dazu? | |
Sönke Neitzel: Ein Argument, was dann immer kommt, ist: Wir haben erst mal | |
genug Freiwillige. | |
taz: Was spricht dagegen? | |
Sönke Neitzel: Die Bundeswehr kommt schon jetzt nicht auf die Sollstärke. | |
Außerdem: Von den aktuell 180.000 Soldaten müssten sie mindestens 20.000 | |
abziehen, weil die gar nicht mehr voll einsatzfähig sind. Ein anderes | |
Argument ist, dass es schädlich wäre für die Wirtschaft. Der eigentliche | |
Grund bei der SPD ist natürlich, dass der linke Flügel das nicht will. Es | |
gibt in einer liberalen Demokratie immer Widerstände. Nur erwarte ich von | |
Politik, dass sie die Lage analysiert und dann handelt. Adenauer hat nicht | |
gewartet, bis alle mit der Wiederbewaffnung einverstanden waren. Schmidt | |
und Kohl haben beim Nato-Doppelbeschluss die Lage analysiert, öffentlich | |
den klaren Sachverhalt benannt und dann entschieden. | |
taz: Hier reden drei ältere Männer über Dienstpflicht und Krieg. Wir werden | |
aber nicht diejenigen sein, die die Hauptlast zu tragen haben. | |
Sönke Neitzel: Ich habe das 15 Monate gemacht, meine Wehrpflicht als Soldat | |
erfüllt. Und ich wäre auch heute wieder bereit, einen Dienst an der Waffe | |
zu leisten. | |
taz: Was sagen Sie jungen Menschen heute? | |
Sönke Neitzel: Bei allen Klagen ist Deutschland immer noch ein sehr | |
attraktives Land. Es lohnt sich, für diese Gemeinschaft einzutreten. Wir | |
brauchen jedes Jahr 30 bis 40.000 Männer und Frauen für die Verteidigung | |
dieses Gemeinwesens. Wir sind 82 Millionen Menschen. Wenn wir sagen, wir | |
kriegen das nicht hin, dann läuft etwas schief. | |
taz: Männer und Frauen würden Sie gleichbehandeln? | |
Sönke Neitzel: Für eine Wehrpflicht für Frauen müsste das Grundgesetz | |
geändert werden, wofür es keine Mehrheiten gibt. Ich bin aber dafür: Männer | |
und Frauen werden gleichbehandelt. Wir hatten Frauen, die in Afghanistan | |
gekämpft haben, die Gruppen- und Zugführer waren. Wenn wir diese | |
Gesellschaft erhalten wollen, dann würde ich die Frauen prinzipiell auch | |
mit in die Pflicht nehmen. Es ist übrigens ein Trugschluss, dass ein Krieg | |
nur die Jüngeren betrifft. In der Ukraine kämpfen viele ältere Männer. Der | |
älteste Mann, den die Bundeswehr trainiert hat, war 71 Jahre alt. Und der | |
saß nicht im Büro, der ging an die Front. Das ist nicht unbedingt zur | |
Nachahmung zu empfehlen, aber ich meine, dass wir alle gefragt sind, unsere | |
Republik zu verteidigen – auf die eine oder andere Weise. | |
taz: Im Vergleich zu den Jahren, als Sie in der Bundeswehr waren, ist die | |
soziale und finanzielle Ungleichheit gewachsen, Rassismus wird klarer | |
benannt, Schwarze Menschen werden von der Polizei erschossen. Wir haben | |
nicht alle das Gleiche zu verteidigen. | |
Sönke Neitzel: Heute ist die Gesellschaft viel diverser. Und klar gibt es | |
Leute, die hier leben und keinen Bezug zu diesem Staat haben. Aber wenn wir | |
diesen Schritt nicht tun, wird der Krieg wahrscheinlicher: Weil wir nicht | |
abschrecken, weil wir Signale der Schwäche senden. Mit dem Motto: Auf | |
Kämpfen haben wir keinen Bock. das sollen die Amerikaner machen, kommen wir | |
nicht mehr durch. | |
taz: Was heißt das für heute konkret? | |
Sönke Neitzel: Dass man das eigene Land verteidigen muss und vielleicht | |
dabei sterben kann. Dass der Soldatenberuf etwas Besonderes ist, weil ein | |
Soldat Leben schützt und Leben nehmen kann, das wurde in Deutschland lange | |
bestritten. Inhalt des Diskurses war meist die Zivilisierung der | |
Bundeswehr. Das hat funktioniert, weil die Streitkräfte in der öffentlichen | |
Wahrnehmung zum bewaffneten Technischen Hilfswerk umfunktioniert wurden. | |
taz: Sie würden eher Tucholskys Zitat als Berufsbeschreibung sehen wollen? | |
Sönke Neitzel: Das mit den Mördern? Mörder würde ich natürlich nicht sagen, | |
ein Mord ist etwas anderes. Aber die Aufgabe von Soldaten ist in letzter | |
Konsequenz: kämpfen, töten, sterben. Und diese Realität haben wir von uns | |
ferngehalten. Und jetzt ist es für viele ein Schock. Jetzt fragen wir uns, | |
was machen wir denn, wenn Litauen angegriffen wird? Dann muss die deutsche | |
Panzerbrigade 45, die dort stationiert ist, möglicherweise kämpfen. Und | |
dann kommen nicht 59 Särge zurück wie aus Afghanistan, sondern vielleicht | |
2.000. | |
taz: Der letzte große Bundeswehreinsatz, in Afghanistan, endete [3][mit | |
einer totalen Niederlage]. Es gab Bilder, die an Vietnam erinnern, damals | |
haben sich Menschen, die aus dem Land fliehen wollten, [4][an | |
US-Hubschrauber geklammert] … | |
Sönke Neitzel: … ganz so war es nicht … | |
taz: … dieses Mal hingen Menschen an Flugzeugen. Es sind deutsche Soldaten | |
in diesem Einsatz gestorben, die hat die Politik hingeschickt. Ist | |
Afghanistan genug aufgearbeitet worden für eine ehrliche Diskussion über | |
das Militär und seine Rolle? | |
Sönke Neitzel: Nein, es wurde und wird nicht genug aufgearbeitet. Aber die | |
Frage Wehrpflicht, und wie stehen wir zur Bundeswehr, und der | |
Afghanistaneinsatz, sind zwei unterschiedliche Dinge. | |
taz: Inwiefern? | |
Sönke Neitzel: Nie in der Geschichte der Bundesrepublik wurde die | |
Bundeswehr positiver betrachtet. Eine hohe oder sehr hohe Meinung zur | |
Bundeswehr haben 85 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Obwohl Afghanistan | |
schiefgegangen ist. Und natürlich hat die Bundeswehr versucht, diesem | |
Scheitern eine positive Sinndeutung zu geben. Damit ist sie meines | |
Erachtens wiederum gescheitert. | |
taz: Welche positive Deutung? | |
Sönke Neitzel: „Wir als Bundeswehr haben unseren Auftrag erfüllt. Es war | |
die Politik, die versagt hat.“ Aber die Bundeswehr hat ihren Auftrag doch | |
nicht erfüllt, weil sie ihn niemals hat erfüllen können. Sie ist – so meine | |
ich – in eine „Mission Impossible“ geschickt worden, was dann immer auch | |
die Verantwortung der militärischen Führung aufwirft. Letztlich ist | |
Deutschland aber noch mit einem blauen Auge davongekommen, „Nur“ 59 sind am | |
Hindukusch gefallen. Gott sei Dank viel weniger als bei den meisten anderen | |
Bündnispartnern. Afghanistan ist für eine breite Öffentlichkeit abgehakt. | |
taz: Warum ist das bei der Wehrpflicht anders? | |
Sönke Neitzel: Da kann man eben nicht mehr sagen, das trifft nur ein paar | |
Fallschirmjäger aus Niedersachsen. Jetzt geht es potenziell um alle | |
Deutschen im wehrfähigen Alter und vor allem um einen ganz anderen Krieg. | |
Und denken die Deutschen über Krieg nach, denken sie an den Zweiten | |
Weltkrieg. Krieg ist für die Deutschen Genozid und Massenmord. Zu dieser | |
emotionalen Diskussion kommt die Erinnerung an die Gefahr des nuklearen | |
Krieges, Stichwort Kalter Krieg, hinzu. Die Angst vor einem globalen | |
Armageddon ist angesichts der deutsch-deutschen Erfahrungen verständlich, | |
aber ein wenig einfach gedacht. | |
taz: Verglichen mit den Debatten über Militär und Krieg in der Ukraine sind | |
die Diskussionen in Deutschland altbacken. Als würde Lothar Matthäus über | |
Fußball reden. Hier raunt es von alten Tugenden und Opferbereitschaft. In | |
der Ukraine wird oft diskutiert, wie eigene Opfer vermieden werden können, | |
mit dem Einsatz von Drohnen zum Beispiel. | |
Sönke Neitzel: Dreht sich die Debatte hier um Opferbereitschaft? Ich nehme | |
das anders wahr. | |
taz: Es gibt doch in der deutschen Gesellschaft Qualitäten, sich zu | |
organisieren, Menschen in Not zu helfen. Im Ahrtal. Im Mittelmeer. Da bauen | |
Menschen gewaltige logistische Ketten auf. Das widerspricht doch der auch | |
von Ihnen implizit geäußerten Annahme, den Menschen hier wäre Solidarität, | |
auch internationale, nicht so wichtig, dass sie dafür Leib und Leben | |
riskieren würden. | |
Sönke Neitzel: Wir reden über Werte, aber nicht über Opferbreitschaft und | |
über das Opfer als Begriff. Null. Das Opfer spielt als Begriff im | |
Nationalsozialismus eine große Rolle, und darüber reden wir natürlich | |
nicht. | |
taz: Sie beklagen doch ebenfalls eine Art Gratismentalität in Deutschland | |
dem Leben in Freiheit und Wohlstand gegenüber. Zugleich gehen in der | |
Ukraine viele Männer nicht zur Armee und am Wochenende in die Disco. Und | |
die Gesellschaft dort streitet pluralistisch und heftig, ob das so sein | |
darf. Im Gegensatz dazu scheint uns diese deutsche Debatte nicht zeitgemäß. | |
Sönke Neitzel: Ich bin mir nicht sicher, ob die deutsche und die | |
ukrainische Debatte prinzipiell wirklich so unterschiedlich sind. Was wir | |
allerdings wirklich von der Ukraine lernen können, ist die enge Verbindung | |
von einer jungen Start-up- und IT-Szene mit dem Militär. Durch das schnelle | |
Tempo in der Innovation schaffen sie es, Russland zumindest zeitweise | |
überlegen zu sein. Hier haben wir noch viel aufzuholen und wir haben in den | |
letzten Jahren viele Innovationen verschlafen. Meines Erachtens sind unsere | |
Strukturen viel zu schwerfällig und altbacken, um zum notwendigen | |
Innovationstempo zu kommen. Die Folgen sind dramatisch: Wenn die Bundeswehr | |
morgen in den Krieg ziehen würde, könnte sie wohl nur beweisen, dass sie | |
mit Anstand zu sterben versteht. Wenn sich jetzt nichts grundlegend ändert, | |
wird es noch weitere zehn Jahre dauern, bis die Bundeswehr auf der Höhe der | |
Zeit ist. Leider lernen Armeen oft nur im Notfall. | |
taz: Was gilt denn als Notfall? Wenn Russland in der Ukraine siegen sollte? | |
Sönke Neitzel: Der Notfall wäre dann, wenn eine deutsche Brigade in den | |
Kampf zieht. | |
taz: Zum Beispiel [5][die Panzerbrigade 45 in Litauen]. | |
Sönke Neitzel: Wo auch immer Deutschland eine große Einheit hinschickt und | |
sagt: So, die müssen jetzt die Nato verteidigen. Wenn die nicht richtig | |
ausgerüstet sind, sind die sehr schnell tot. Dann haben wir diesen Notfall. | |
taz: Glauben Sie, man sollte die Bundeswehr aufrüsten ohne AfD-Verbot? | |
Sönke Neitzel: Was ist die Verbindung zwischen beidem? | |
taz: Würden Sie eine aufgerüstete Armee einer Regierung mit einer | |
rechtsextremen Partei in die Hand geben, die auch noch Putin-freundlich | |
ist? | |
Sönke Neitzel: Das sind zwei verschiedene Dinge. Ich bin nach Lage der | |
Dinge durchaus für ein [6][Verbotsfahren gegen die AfD]. Die Partei ist | |
offenbar rechtsextremistisch, sie ist eine Gefahr für die Demokratie. | |
Solche Verfahren dauern jedoch lange, und man weiß nicht, was dabei | |
herauskommt. Was ist, wenn das Gericht Nein zum Verbot sagt? | |
taz: Dieses Risiko würden Sie eingehen? | |
Sönke Neitzel: Wir müssen jetzt handeln. Vielleicht ist es der letzte | |
Sommer in Frieden. | |
taz: Meinen Sie das ernst? | |
Sönke Neitzel: Ja. Die große Gefahr ist – und das sagen in den | |
Militärkreisen die Leute ganz offen –, dass Putin innerhalb der nächsten | |
zwei, drei Jahre die Nato herausfordert, etwa mit einem regional begrenzten | |
Angriff im Baltikum. Weil er glauben könnte, dass Trump die Nato nicht | |
unterstützt und Putin die Europäer als schwach einschätzt. | |
taz: Dann wäre dieser Sommer noch immer nicht der letzte in Frieden. | |
Sönke Neitzel: Wir können es aber auch nicht ausschließen, dass Putin schon | |
sehr bald eine ihm günstig erscheinende Gelegenheit ausnutzt. Was passiert, | |
wenn die Merz-Koalition nicht durchhält? Was ist, wenn wir eine schwierige | |
innenpolitische Situation in Frankreich haben? Putin wird immer pragmatisch | |
und opportunistisch unsere Schwäche ausnutzen und dabei auch militärische | |
Mittel einsetzen. Er hat den Rubikon überschritten und wir kriegen ihn | |
nicht wieder hinter diese Linie zurück. Wir sollten auch nicht den Fehler | |
begehen zu glauben, dass Putin dieses oder jenes schon nicht tun wird, weil | |
uns das als irrational erscheint. Nach so einer Logik hätte Hitler nie | |
Krieg führen dürfen. | |
taz: Denken Sie darüber nach, dass es den Westen so vielleicht auf Dauer | |
gar nicht mehr gibt? | |
Sönke Neitzel: Natürlich. Die Architektur und die Planungen der Nato sind | |
eng mit den USA verbunden. Und jetzt müssen wir darüber nachdenken, wie | |
eine Nato ohne die USA aussehen könnte. Und der noch schlimmere Fall ist: | |
Die USA blockieren die Nato. | |
taz: Wie würde das aussehen? | |
Sönke Neitzel: Trump wird den nächsten Alliierten Oberkommandierenden in | |
Europa ernennen – der derzeitige Amtsinhaber geht im Sommer. Was ist, wenn | |
der Trumpist sagt: Ich verlege keine Truppen in einer Gefahrensituation ins | |
Baltikum. Dann haben wir ein Problem. | |
taz: Also ein Durchmarsch nach Berlin, wie ihn Propagandisten im russischen | |
Staatsfernsehen immer wieder fordern? | |
Sönke Neitzel: Ich kenne keine Militärexperten, die das ernsthaft sagen. Es | |
droht ein begrenzter Konflikt. Es geht Russland und anderen Autokraten | |
darum, den Westen innenpolitisch so zu destabilisieren, dass dort der Wille | |
zum Kampf fehlt. Und dann einen Testschritt zu machen, mit dem das Gebilde | |
zusammenbricht. Aber es geht nicht um einen Marsch auf Berlin oder | |
Warschau. | |
taz: Russland schafft doch schon die Ukraine nicht. Wie sollen die sich | |
dann mit der Nato anlegen? | |
Sönke Neitzel: In öffentlichen Vorträgen stoße ich oft auf eine Art | |
kulturelles Überlegenheitsgefühl, so von wegen: Der Russe kann das nicht. | |
Aber in Sicherheitskreisen sagen viele: Unterschätzt die russischen | |
Streitkräfte nicht. Ja, die haben Probleme, gerade beim Gefecht mit | |
verbundenen Waffen und bei der Führung. Aber die Ukraine kann diesen Krieg | |
verlieren und zurzeit sieht es nicht gut aus für sie. Und sollte es einen | |
Waffenstillstand geben, dann ohne Sicherheitsgarantien. Es wird keine | |
westlichen Truppen in der Ukraine geben. Damit hätte Putin freie Hand. Er | |
kann ins Baltikum marschieren, er kann aber auch von Weißrussland aus eine | |
neue Front in der Ukraine aufmachen. | |
taz: Dafür hätte Russland die Ressourcen? | |
Sönke Neitzel: Russland arbeitet viel auf Halde und die Frage ist: Was | |
machen die mit den Reserven, die sie sammeln? Ein Panzer geht an die Front, | |
ein Panzer geht ins Depot. Masse ist auch eine Qualität. Putin hat rund | |
700.000 Soldaten in der Ukraine stehen. Wenn der 100.000 Mann rauszieht, | |
und woanders hinschickt, was dann? Wen haben wir denn in Estland? Es gibt | |
ein Bataillon Nato-Truppen von 1.000 Mann. Und wie groß ist die estnische | |
Armee? Knapp 8.000 Mann. Über die [7][Brücke in Narwa] werden die Russen | |
schon noch kommen. Zumal wenn die Amerikaner uns nicht unterstützen. | |
taz: Was würde das bedeuten? | |
Sönke Neitzel: Wenn die Russen angreifen, würde die Nato sicherlich erst | |
mal versuchen, die Luftüberlegenheit zu gewinnen. Einen Luftkrieg kann sie | |
im Baltikum aber nur führen, wenn sie in Kaliningrad die russischen | |
S-400-Stellungen ausschaltet, die Flugabwehr. Das ist nicht einfach, das | |
dauert. Und es geht nur mit den Amerikanern. Alle Luftkriege, die die Nato | |
geführt hat, waren letztlich amerikanische Operationen. Im Kosovo flogen | |
sie 75 Prozent der Einsätze, die Deutschen haben 4 Prozent geflogen, die | |
Briten 6 Prozent. | |
taz: Sie zeichnen ein anderes Bild als das der weithin überlegenen Nato. | |
Sönke Neitzel: Russland sollten wir einfach nicht unterschätzen und unsere | |
Fähigkeiten nicht kleinreden, aber gerade derzeit auch nicht überbewerten. | |
Und natürlich gibt es immer wieder Leute, für die von Russland keine Gefahr | |
ausgeht. Dabei fordert Putin Europa schon mit Cyberangriffen heraus. | |
Eigentlich hätten wir schon den Spannungsfall erklären müssen. | |
taz: Warum tut die deutsche Regierung das nicht? | |
Sönke Neitzel: Wenn wir das machen, müssten wir anerkennen, dass wir | |
umfassendere Gegenmaßnahmen ergreifen müssen. Und das wollen Teile der | |
deutschen Politik nicht. Sie wollen daran glauben: Wir sind im Frieden, | |
obwohl die Nato in ihrem Strategischen Konzept von 2022 – beschlossen auf | |
dem Gipfel in Madrid – festgestellt hat: [8][The Euro-Atlantic area is not | |
at peace]. Scholz hat das mitgetragen. Ein Problem ist, dass wir öffentlich | |
noch immer nicht deutlich genug auf die Gefahrenlage hinweisen. Die, die | |
viel wissen, sagen wenig, und die, die wenig wissen, sagen viel. | |
taz: Wer sagt zu wenig? | |
Sönke Neitzel: Die Cyberleute müssten viel stärker öffentlich deutlich | |
machen, was eigentlich passiert. Ich höre in der Szene immer wieder: Wir | |
sind bedroht! Aber was geschieht konkret? In meiner Realität als normaler | |
Apple-User fühle ich mich nicht von Russland angegriffen. Ich verstehe, | |
wenn viele Menschen nicht an eine Bedrohung glauben. | |
taz: Kennen Sie denn Fälle, über die Sie öffentlich reden können? | |
Sönke Neitzel: Ich kenne Fälle, aber über die kann ich Ihnen nur off the | |
record etwas sagen. Darüber zu sprechen, ist Aufgabe der | |
Sicherheitsbehörden, die das noch nicht in ausreichendem Maße tun. | |
Letztlich ist es natürlich eine politische Entscheidung, das zu ändern. | |
taz: Glauben Sie, dass die Bundeswehr im Fall eines Krieges die Fähigkeit | |
hat, autoritären und faschistischen Tendenzen zu widerstehen? | |
Sönke Neitzel: Große Kriege haben die Tendenz, dem Liberalismus massiv zu | |
schaden, weil sie mit Zwang und Kontrolle einhergehen. Es geht darum, | |
Informationen zu kontrollieren, Bevölkerungen zu kontrollieren, die | |
Wirtschaft zu kontrollieren. Also sollten wir Kriege tunlichst verhindern. | |
Und wie sich dann die Soldaten politisch entwickeln? Ich bin überzeugt, | |
dass die Bundeswehr demokratisch gefestigt ist. | |
taz: Der Bundeswehr und dem Militärischen Abschirmdienst MAD, der | |
Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen, Spionage- und | |
Sabotageaktivitäten analysiert, fällt es doch schon im Frieden schwer, | |
[9][Rechtsextreme zu erkennen und fernzuhalten] oder sie so zur | |
Verantwortung zu ziehen, dass das Eindruck macht. | |
Sönke Neitzel: Natürlich haben wir Rechtsextreme und Rechtsradikale auch in | |
der Bundeswehr, das wird sich leider nie ganz verhindern lassen. Jetzt gibt | |
es eine neue Studie vom Zentrum für Militärgeschichte und | |
Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Laut der sind das eigentliche Problem | |
nicht die Leute, die sich in der Bundeswehr radikalisieren. Das Problem | |
sind die, die schon mit solchen Einstellungen in die Bundeswehr kommen. Und | |
die muss man rausfiltern. Den Möglichkeiten des Rechtsstaats sind dabei | |
aber auch Grenzen gesetzt. Der MAD kann in seinen Sicherheitsüberprüfungen | |
natürlich nur mit rechtsstaatlichen Methoden vorgehen und die sind dann | |
eben auch limitiert. | |
taz: Im Krieg kommt der Einfluss der Kämpfe, der Gewalt dazu. | |
Sönke Neitzel: Ja. Wir müssen erkennen, was Kriege mit Menschen machen. Das | |
sind Welten, die mit unserer Zivilwelt nur noch bedingt etwas zu tun haben. | |
Soldatenkulturen sind gewissermaßen Tribal Cultures. Wir haben die | |
Funktionsweise dieser Kulturen in der Forschung zigfach beschrieben: Welche | |
Identifikationen gibt es? Welche Lieder singen Soldaten, welche Symbole | |
haben die, welche Abzeichen? Das alles ist wichtig für Soldaten, die in | |
existenziellen Situationen sind. Daraus folgt: Man sollte die Bedeutung | |
dieser Kulturen ernst nehmen und aktiv beeinflussen. Wenn wir aber sagen: | |
Ach, lass die doch machen, wir haben schließlich den | |
Verfassungspatriotismus und so einen Diskurs über den Wolken, dann können | |
Dinge auch mal schiefgehen. Mein Petitum an die Bundeswehr ist immer: | |
Kümmert euch darum. | |
taz: Wie kümmert man sich denn konkret darum? | |
Sönke Neitzel: Das System der Wehrmacht war relativ schlau. | |
taz: Ist das [10][das Beispiel,] das Sie wählen wollen? | |
Sönke Neitzel: Wir wollen ja nicht die Wehrmacht kopieren. Aber die | |
Wehrmacht hat sich als Institution intensiv mit Soldatenkulturen befasst | |
und verstanden: Ich muss Soldaten Identität, Kohäsion und Motivation | |
vermitteln. Wie mache ich das? Mit Liedern, mit Uniformen, mit | |
Auszeichnungen, mit Abzeichen, die für Soldaten funktionieren, die in einem | |
solchen Kampf sind. | |
taz: Aber es ist doch niederschmetternd, dass Ihnen als Positivbeispiel als | |
Erstes die Wehrmacht einfällt. | |
Es geht ja nicht darum, die Inhalte der Wehrmacht zu kopieren, sondern | |
darum, zu erkennen, wie wichtig Soldatenkulturen für die Kohäsion von | |
Truppe und Staat sind. Es geht darum, dass auch eine Republik die | |
Funktionsweise von Tribal Cultures verstehen sollte, um sie bestmöglich für | |
sich zu nutzen. Um es konkret zu machen: Warum kennt jeder Panzermuckel | |
immer noch das Panzerlied aus dem Jahr 1935? Weil es ein Lied ist, das für | |
die soziale Realität Panzertruppe funktioniert. Warum hat die Bundeswehr | |
kein einziges Lied aus Afghanistan? Was ist mit der Brigade in Litauen? | |
Auch hier sage ich immer: Kümmert euch um die Identität dieser Brigade. | |
Wenn ihr Leute dahin haben wollt, muss diese Aufgabe mit viel kulturellem | |
Kapital verbunden sein. Überlegt, was für die Soldaten Sinn stiftet und | |
vergesst nicht so vermeintlich altmodische Dinge wie Lieder, Fahnen und | |
Abzeichen. Denkt darüber nach, welche Vorbilder könnte es für Menschen | |
geben, die 2000 geboren sind oder 2002? Ich weiß nicht recht, ob man die | |
Bedeutung dieses Bereiches wirklich erkannt hat. | |
taz: Woran liegt das? | |
Sönke Neitzel: Die Bundeswehr ist dafür bekannt, die Traditionsarbeit als | |
einen eher lästigen Bereich zu vernachlässigen. Wollen wir das alles der | |
AfD überlassen? Das kann ja wohl die Lösung nicht sein. Dann müssen wir | |
aber auch ein Stück weit die Logik jener Männer und Frauen verstehen, die | |
für uns kämpfen sollen. Die Bundeswehr hat kein Liederbuch. Die Träger des | |
Ehrenkreuzes für Tapferkeit – des höchsten Ordens der Bundeswehr – stehen | |
nicht auf der Website des Verteidigungsministeriums. Warum nicht? Schämen | |
wir uns ihrer? | |
taz: Das klingt alles sehr nach Erschöpfung, nach Defätismus. | |
Sönke Neitzel: Wir tun uns als Gesellschaft schwer, den Kern des | |
Soldatenberufs zu akzeptieren. Das sollten wir aber tun, wenn wir wollen, | |
dass Männer und Frauen im Ernstfall für diese Republik kämpfen sollen. Wir | |
können diese Identität nicht beschränken auf Elbehochwasser und | |
Verfassungsdiskurs. Wir brauchen als Republik einen [11][demokratischen | |
Krieger.] | |
taz: Kann man Soldaten Ambivalenz vermitteln? Kann man sagen: Ihr begebt | |
euch in tödliche Gefahr, aber das verträgt sich mit der Demokratie nicht | |
ganz so gut? | |
Sönke Neitzel: Ich glaube nicht, dass sich das ausschließt, kein Franzose | |
und kein Brite würde das bezweifeln. Ich bleibe deswegen optimistisch. Wir | |
sind nicht völlig erschöpft. Demokratien haben in Zeiten der Bedrohung | |
gezeigt, dass sie willens sind zu kämpfen und trotzdem Demokratien bleiben. | |
Bei diesen ganzen Militärthemen ist die Gesellschaft meines Erachtens viel | |
weiter als die Politik. Wenn die taz schon anfängt darüber zu diskutieren … | |
taz: In der Ukraine haben viele junge Männer Angst vor der eigenen Armee: | |
vor Kommandanten, die sich nicht um ihr Leben scheren. Ist das in der | |
Bundeswehr anders? | |
Sönke Neitzel: In der Ukraine existieren viele Militärkulturen | |
nebeneinander. Da gibt es eine höhere Führung, die zum Teil noch sowjetisch | |
geprägt ist. Sie haben eine jüngere Führung, die von der Nato geprägt ist, | |
aber in unterschiedlichen Ländern ausgebildet wurde. Manch sowjetisch | |
beeinflusster General gibt Befehle, dass wir hier die Hände über den Kopf | |
zusammenschlagen. In anderen Dingen sind die Ukrainer aber sehr modern und | |
den Deutschen weit überlegen. Das Offizierskorps der Bundeswehr ist | |
handwerklich zweifellos sehr gut ausgebildet. Aber im Drohnenbereich können | |
wir noch viel von der Ukraine lernen. | |
taz: Sie reden viel vom Handwerk. Aber schätzen Offiziere der Bundeswehr | |
das Leben Ihrer eigenen Soldaten höher, als es Offiziere in der Ukraine zu | |
oft tun? | |
Sönke Neitzel: Ich würde bezweifeln, ob diese Einschätzung ukrainischer | |
Offiziere wirklich zutrifft. Auf Russland trifft das sicher zu. Wir haben | |
eine Forschungsgruppe zu militärischen Gewaltkulturen an der Universität | |
Potsdam. Und da sehen wir ein deutliches Delta zwischen den westlichen | |
Staaten und Russland. Die Gleichgültigkeit gegenüber eigenen Verlusten ist | |
einer der offensichtlichsten Unterschiede. Kein Bundeswehrgeneral würde so | |
Krieg führen. | |
taz: Das ist kein rassistisches Klischee? | |
Sönke Neitzel: Nein, wobei man sich natürlich vor einem essentialistischen | |
Verständnis von Kultur hüten muss. Die Unterschiede können wir aber recht | |
gut erklären, etwa mit der mangelnden Verrechtlichung der sowjetischen und | |
russischen Streitkräfte. Es gab zwar immer wieder Phasen der | |
Verrechtlichung unter Chruschtschow oder Gorbatschow, die aber nie wirklich | |
durchdrangen. Es gibt zweifellos einen Footprint der russischen Armee, eine | |
spezifische Gewaltkultur in Russland. Da geht es mir nicht um Gut oder | |
Böse, es sind schlicht Ergebnisse kulturgeschichtlicher Forschung. | |
29 May 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.n-tv.de/politik/Olaf-Scholz-hat-dem-Land-schweren-Schaden-zugef… | |
[2] https://www.vorwaerts.de/inland/spd-setzt-sich-durch-wehrdienst-bleibt-laut… | |
[3] /Abzug-aus-Afghanistan/!5789435 | |
[4] /US-Abzug-aus-Afghanistan/!5791512 | |
[5] /Pistorius-und-Merz-bei-Brigade-Litauen/!6087653 | |
[6] /Rechtliche-Folgen-des-AfD-Gutachtens/!6085724 | |
[7] /Grenzfluss-zwischen-Estland-und-Russland/!5933707 | |
[8] https://www.act.nato.int/wp-content/uploads/2023/05/290622-strategic-concep… | |
[9] /Rechtsextreme-in-der-Bundeswehr/!6054935 | |
[10] /Buch-zur-Ardennenoffensive-der-Nazis/!5395675 | |
[11] https://www.ullstein.de/werke/deutsche-krieger/taschenbuch/9783548065199 | |
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