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# taz.de -- Debatte um Wehrpflicht: Wehret der Pflicht
> Viele fordern lautstark die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht. Unser Autor
> sagt, niemand darf gezwungen werden, auf andere Menschen zu schießen.
Bild: Abschlussprüfung der Grundausbildung beim Panzerbataillon 431 Torgelow i…
Da ist sie also wieder, die Diskussion über die Wehrpflicht. Dabei ist die
Tinte unter dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD kaum trocken. „Wir
schaffen einen neuen, attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf
Freiwilligkeit basiert“, hatten die drei Regierungsparteien erst im April
vereinbart. Trotzdem werden auch – und gerade – aus den Reihen der
Koalitionäre die Stimmen lauter, denen das nicht reicht. Verstärkt wird der
Chor von einem Großaufgebot an Sofagenerälen, denen auch nichts Besseres
einfällt, als wieder junge Männer zum „Dienst mit der Waffe“ zwingen zu
wollen.
Glaubt man den Meinungsforschungsinstituten, dann gibt es eine deutliche
Mehrheit in der Bevölkerung für die Rückkehr zur Wehrpflicht. Laut einer in
dieser Woche veröffentlichten [1][Forsa-Umfrage sprechen sich 59 Prozent
dafür aus, 37 Prozent dagegen]. Die größte Zustimmung kommt von den
Anhänger:innen der Union (78 Prozent) und der AfD (71 Prozent), nur bei
den Linke-Wähler:innen spricht sich eine Mehrheit dagegen aus (62 Prozent).
Allerdings gibt es einen kleinen Haken: Es sind vor allem diejenigen für
die Wehrpflicht, die davon nicht betroffen wären – also die Älteren.
In der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen sind nur 29 Prozent dafür, 61 Prozent
dagegen. Rechnet man hier noch die Frauen heraus, blieben nicht mehr viele
Wehrpflichtfans übrig, die selbst in die Kaserne einrücken müssten. Das
korrespondiert mit einer weiteren Forsa-Umfrage vom März, nach der
lediglich 17 Prozent der Bevölkerung „auf jeden Fall“ bereit sind,
Deutschland im Falle eines militärischen Angriffs mit der Waffe zu
verteidigen. Eine Mehrheit von 60 Prozent will das jedoch „auf keinen Fall“
oder „wahrscheinlich nicht“. Ist es wirklich akzeptabel, andere zu etwas
zwingen zu wollen, wozu man selbst nicht bereit ist?
Die heutige Größe der Bundeswehr verdankt sich der Wiedervereinigung und
der Auflösung des Warschauer Pakts. Damals „von Freunden umzingelt“, wie es
der damalige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (CDU) 1992
formulierte, wurde keine Notwendigkeit einer große Armee zur Landes- und
Bündnisverteidigung mehr gesehen.
## Der Zwei-plus-Vier-Vertrag
Noch 1989 zählte die Bundeswehr rund 486.800 Soldaten, hinzu kamen rund
155.300 Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR – wobei die damaligen
Truppenstärken nicht der realen Bedrohungslage geschuldet, sondern vor
allem ideologisches Produkt der Zeit des Kalten Kriegs waren. Mit dem im
März 1991 in Kraft getretenen [2][Zwei-plus-Vier-Vertrag] verpflichtete
sich die Bundesregierung zu einer Obergrenze der Streitkräfte des vereinten
Deutschlands von 370.000 Mann.
Bis zur Aussetzung der Wehrpflicht 2011 sank die Personalstärke schließlich
auf 206.100 Soldat:innen. Zuvor war bereits die Dauer des Wehrdiensts von
15 Monaten im Jahr 1990 immer weiter reduziert worden, zuletzt betrug sie
nur noch sechs Monate. Im Sinne der Wehrgerechtigkeit war die von CDU, CSU,
FDP und Grünen beschlossene Aussetzung nur konsequent, da nur noch ein
Bruchteil eines Jahrgangs überhaupt „eingezogen“ wurde. Allerdings war sie
umstritten: Die SPD stimmte dagegen, weil sie die Wehrpflicht beibehalten
wollte, die Linke lehnte sie ab, weil sie für deren Abschaffung war.
Dass die Verhältnisse angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine
heute anders sind, lässt sich nicht bestreiten. Trotzdem bleibt die
Aussetzung der Wehrpflicht eine zivilisatorische Errungenschaft. Noch
besser wäre es gewesen, sie tatsächlich ganz abzuschaffen. Denn für den
Spannungs- oder Verteidigungsfall gilt die Aussetzung nicht.
Geradezu absurd ist es, dass für diesen Fall auch das [3][im vergangenen
November in Kraft getretene Selbstbestimmungsgesetz] der Ampel eine
Ausnahmebestimmung enthält: So sieht das Gesetz zwar eigentlich vor, dass
Menschen frei ihren Geschlechtseintrag ändern lassen können – aber nur bis
zwei Monate vor der Feststellung des Spannungs- oder Verteidigungsfalls.
Danach hat eine trans Frau rechtlich ein Mann zu bleiben – um zum „Dienst
mit der Waffe“ gezwungen werden zu können.
So ernst haben es SPD, FDP und Grüne wohl mit der Selbstbestimmung dann
doch nicht gemeint. Generell sollte jedoch gelten, dass niemand und unter
keinen Umständen gezwungen werden darf, auf andere Menschen zu schießen.
Vom 21. bis zum 22. Juni veranstaltet die Deutsche Friedensgesellschaft –
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen in Kassel einen
„Kriegsdienstverweigerungskongress“. Das passt gut in die Zeit, auch wenn
allzu viele die pazifistischen Organisationen wie die DFG-VK fälschlich für
aus der Zeit gefallen halten.
## „Massenheer“ und „stärkste Armee Europas“?
Aktuell tragen rund 182.500 Menschen die olivgrüne Uniform, davon rund
112.800 Zeitsoldat:innen, 57.700 Berufssoldat:innen sowie rund
12.000 freiwillige Wehrdienstleistende. Der Frauenanteil liegt bei knapp 14
Prozent. Wie die Ampel plante auch Schwarz-Rot noch bis vor Kurzem, die
Truppenstärke schrittweise bis zum Jahr 2031 auf 203.000 Soldat:innen
anwachsen zu lassen. Hinzu kommen sollten bis dahin insgesamt 260.000
Reservist:innen, die im Verteidigungsfall mobilisiert werden könnten.
Derzeit nehmen etwa 34.000 Reservist:innen an regelmäßigen Übungen teil.
Allerdings gelten diese Zielzahlen inzwischen als überholt. Am Rande des
Treffens der Nato-Verteidigungsminister Anfang Juni in Brüssel bekundete
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), nunmehr würden
perspektivisch 50.000 bis 60.000 Soldat:innen in den stehenden
Streitkräften benötigt, wobei das „nur eine Daumengröße“ sei.
Patrick Sensburg, der Präsident des Reservistenverbands, denkt bereits in
anderen Dimensionen: Um Deutschland in der Fläche mit modernem
Kriegsmaterial zu verteidigen, bräuchte man zwischen 300.000 und 350.000
Soldat:innen, sagte der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete dem
Nachrichtenportal t-online. Die Zahl der Reservist:innen müsse noch um
das Dreifache höher sein, also bei rund einer Million liegen.
„Wir brauchen ein Massenheer, um in einem möglichen Krieg zu bestehen“, so
Sensburg. Dazu passt die Ankündigung von Bundeskanzler Friedrich Merz aus
dem vorigen Monat in seiner ersten Regierungserklärung, die Bundeswehr
solle „konventionell zur stärksten Armee Europas“ werden. Ein solches Ziel
klingt schon verdammt geschichtsvergessen für ein Land, das in
militaristischem Wahn zwei Weltkriege angezettelt hat und dessen Soldaten
den größten Zivilisationsbruch der Menschheitsgeschichte möglich gemacht
haben.
Selbstverständlich plädiert Sensburg wie viele in der Union für eine
Reaktivierung der Wehrpflicht. Aber selbst bei den personellen
Größenordnungen, die ihm vorschweben, wäre das keineswegs eine
erforderliche Konsequenz.
## Reden wir über Geld
Im Auftrag des Bundesfinanzministeriums hat das Münchner [4][ifo Institut
im Juni 2024 eine interessante Studie veröffentlicht.] Darin geht es um die
volkswirtschaftlichen Kosten einer Wiedereinführung der Wehrpflicht. Falls
25 Prozent einer Alterskohorte eingezogen würden, was einem ähnlichen
Umfang wie bei der alten Wehrpflicht entspräche und 195.000 Personen
betreffen würde, verursachte das Staatsausgaben von etwa 3,2 Milliarden
Euro und volkswirtschaftliche Kosten von 17,1 Milliarden Euro pro Jahr.
Damit wäre die Rückkehr zum Zwangsdienst teurer, als die Attraktivität der
Bundeswehr zum Beispiel über höhere Gehälter so zu steigern, dass sich
ausreichend Personal freiwillig meldete, haben die Wissenschaftler
errechnet. Denn wenn freiwillige Wehrdienstleistende nicht nur 42 Prozent,
sondern 100 Prozent des Gehalts, das auf dem zivilen Arbeitsmarkt gezahlt
wird, angeboten bekämen, wären zwar die jährlichen Staatsausgaben um 7,7
Milliarden Euro höher, die volkswirtschaftlichen Kosten aber mit 9,4
Milliarden Euro deutlich niedriger.
Eine solche „Marktlösung“ würde es „erlauben, die militärischen Fähig…
im gleichen Maße wie bei einer Wehrpflicht günstiger zu steigern“,
konstatiert das ifo Institut. Auch mit Blick auf eine gerechte
Lastenverteilung biete eine solche Lösung Vorteile gegenüber einer
Wehrpflicht, bei der die ökonomische Ungerechtigkeit für die
Wehrpflichtigen gegenüber nicht Wehrpflichtigen erheblich sei. Man muss
also nicht einmal Pazifist oder Antimilitarist sein, um sich gegen die
Wehrpflicht auszusprechen.
## Ü-50-Maulhelden
Die gegenwärtige Debatte ist geprägt von einem bedenklichen Alarmismus.
Auch wenn Putin ein übler autokratischer Herrscher mit imperialistischen
Ambitionen ist, der für alle Länder, die aus der Sowjetunion hervorgegangen
sind, eine ganz reale Bedrohung darstellt, ist es schon erstaunlich, wie
die militärischen Fähigkeiten Russlands überhöht werden und das bestehende
Abschreckungspotenzial der europäischen Nato-Staaten kleingeredet wird.
Vielleicht sei dieser Sommer „der letzte Sommer, den wir noch im Frieden
erleben“, fabuliert beispielsweise der Militärhistoriker Sönke Neitzel. Die
SPD bezeichnete er als „Sicherheitsrisiko für Deutschland“, weil sie
derzeit noch nicht für die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht ist. Aber
wenigstens war der 56-jährige Professor einst mal selbst bei der Bundeswehr
und hat [5][im taz-Interview] versprochen, er „wäre auch heute wieder
bereit, einen Dienst an der Waffe zu leisten“. Das unterscheidet ihn von
etlichen Maulhelden.
Jedenfalls ist es gratismutig, wenn beispielsweise ein über 50-jähriger
Spiegel-Redakteur mit viel Pathos öffentlich mitteilt, er habe seine
Kriegsdienstverweigerung von anno dunnemals zurückgezogen. Denn es bleibt
für ihn folgenlos. Das gilt ebenso, wenn der 55-jährige Robert Habeck
verkündet, er würde sich heutzutage nicht mehr für den Zivildienst, sondern
die Bundeswehr entscheiden.
Absolut wohlfeil ist es, wenn sein grüner Parteifreund Joschka Fischer im
Spiegel-Interview zu Protokoll gibt, die Aussetzung der Wehrpflicht sei ein
Fehler gewesen und er sei dafür, sie jetzt wieder einzuführen. Der heute
77-Jährige war selbst nie bei der Bundeswehr – wobei unklar ist, ob er
verweigert hat oder wegen einer Sehschwäche ausgemustert wurde. Statt zum
Bund zu gehen, machte seine militante „Putzgruppe“ seinerzeit übrigens
lieber paramilitärische Übungen im Taunus. Wenn junge Leute auf beides
heute keinen Bock mehr haben, geht das schon in Ordnung.
15 Jun 2025
## LINKS
[1] https://www.n-tv.de/infografik/Forsa-Sonderauswertung-Wiedereinfuehrung-Weh…
[2] https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/zwei-plus-vier-vertrag/
[3] /Selbstbestimmungsgesetz-tritt-in-Kraft/!6046447
[4] https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Oeffentliche-Fi…
[5] /Militaerhistoriker-ueber-Kriegstuechtigkeit/!6087358
## AUTOREN
Pascal Beucker
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