| # taz.de -- Architektur nach der Nazi-Zeit: Lieblose Städte, kalte Städte | |
| > Was von den Bombern der Alliierten verschont blieb, fiel den Architekten | |
| > der jungen BRD zum Opfer. Bis heute sind deutsche Städte davon geprägt. | |
| Bild: Triumph des Grauen, Harten, Kalten: Autobahn A 40 in Essen | |
| Berlin taz | An einem Straßenrand in Berlin-Schöneberg erinnert ein | |
| schlichtes Denkmal an die Synagoge, die dort einmal stand. „Nach der | |
| Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger | |
| durch die Nationalsozialisten verlor sie ihre Funktion und wurde 1956 | |
| abgerissen“, heißt es in der Inschrift lakonisch. Abgesehen vom | |
| zeittypischen Nachkriegs-Verdrängungsmechanismus (vernichtet haben „die | |
| anderen“, die Nationalsozialisten, nicht die Deutschen), irritiert das | |
| kühle Nützlichkeitsargument. | |
| Die [1][Schöneberger Juden wurde vertrieben oder vernichtet], ihre | |
| Synagoge, die Pogromnacht und Krieg nahezu unbeschadet überstand, kann also | |
| weg. Heute dient die Fläche als Spielplatz für die angrenzende Grundschule, | |
| was zweifellos schön für die Kinder ist, nur: Alternativen wären natürlich | |
| möglich gewesen. Man hätte die Synagoge als Gedenkort behalten oder sie | |
| pragmatisch in den Schulbetrieb integrieren können, bis sich wieder eine | |
| jüdische Gemeinde gründe und die Synagoge nutze. | |
| Die funktionalistische Kälte, mit der nach 1945 ausgerechnet jüdische | |
| Einrichtungen zerstört wurden, schmerzt besonders. Die Kälte zieht sich | |
| aber [2][durch den gesamten Neuaufbau der zerstörten Städte], der fast | |
| immer nach dem gleichen Muster erfolgte: Dort, wo alles weggebombt war, | |
| wurden, neue, sachliche Gebäude hochgezogen. Die Stadtplaner rissen auch | |
| intakte Viertel aus der Gründerzeit und sogar früheren Epochen ab, um Platz | |
| zu schaffen für die berüchtigte „Flächensanierung“ – oder einfach, wei… | |
| scheinbar nutzlos geworden waren. | |
| Die Zerstörung der Städte hörte am 8. Mai 1945 nicht auf, sie ging weiter. | |
| Besonders schlimm traf es Städte, die so stark zerbombt waren, dass nur | |
| noch wenig nachgeholfen werden musste: die Ruhrgebietsstädte Essen, | |
| Dortmund und Hamm natürlich, Bielefeld, Hannover, Darmstadt, Kiel, Ulm; mit | |
| Abstand folgen Hamburg und Berlin, die wegen ihrer Größe vor und nach 1945 | |
| nicht komplett zerstört werden konnten. Und in wohl jeder deutschen | |
| Kleinstadt gab es mal ein Kloster, einen Barock- oder Renaissancebau, der | |
| für ein Hoch-, Kauf- oder Parkhaus weichen musste. | |
| ## Städte für Autos | |
| Breite, autobahnähnliche Straßen wurden in die Stadtlandschaft geschlagen, | |
| um die einzelnen Stadtteile miteinander zu verbinden. Dahinter stand die | |
| Ideologie der autogerechten Stadt und der sogenannten Funktionstrennung: | |
| Wohnen und Arbeiten sollten säuberlich voneinander separiert, der Idee der | |
| gemischten Viertel mit Gewerbe, Geschäften und Wohnungen der Garaus gemacht | |
| werden. | |
| Wohl jeder, der in der Nachkriegszeit und in der Stadt aufwuchs, kann sich | |
| daran erinnern, wie er mit der Mutter an der Hand unter Lebensgefahr und im | |
| Laufschritt sechsspurige Straßen überwand (die Grünphasen waren immer viel | |
| zu kurz) oder in dunkle Unterführungen hinabsteigen musste, während der | |
| männliche Ernährer mit dem Auto die Schneisen bequem für den Weg zur Arbeit | |
| nutzen konnte. Der einzelne Mensch ohne den Schutzpanzer Auto wurde in der | |
| neuen Stadt klein gemacht. | |
| Eine sozialpsychologische Erklärung der zweiten Zerstörung nach 1945 | |
| lautet: Da hat sich verdrängte Schuld Bahn gebrochen, die sich in | |
| Selbstverstümmelung äußerte. Das, was die Bomber der Alliierten nicht | |
| geschafft haben, holen wir eben selbst nach. Konkreter und realistischer | |
| ist ein anderer Erklärungsansatz. Es war der Zeitgeist, kombiniert mit | |
| Gelegenheit und dem dafür ideologisch geschulten Personal. | |
| Nach 1945 zogen zwei Gruppen in die Bauabteilungen der Städte ein: zum | |
| einen die NS-Architekten, die direkt oder mittelbar für [3][Hitlers | |
| Chef-Architekten Albert Speer] gearbeitet hatten. Speer, der wegen seiner | |
| zweiten Funktion als Rüstungsminister und KZ-Insassen-Ausbeuter nur durch | |
| Glück einem Todesurteil beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess entkam, | |
| hatte bereits 1943 mit seinem Masterplan „Die gegliederte und aufgelockerte | |
| Stadt“ eine Blaupause für den Wiederaufbau gesetzt. | |
| ## Ähnliche Ziele, unterschiedliche Motive | |
| Rudolf Hillebrecht zum Beispiel, der für den dortigen Gauleiter an den | |
| monumentalen Plänen für die „Führerstadt Hamburg“ mitarbeitete, setzte n… | |
| dem Krieg als Stadtplaner von Hannover die Zerstörung der alten Stadt fort. | |
| In Westberlin konnte Hans Stephan, der im Stab Speers arbeitete, seine | |
| Karriere als Senatsbaudirektor praktisch nahtlos fortsetzen. Es waren aber | |
| nicht nur Altnazis: Daneben wirkte auch eine – kleinere – Gruppe von | |
| politisch unbelasteten Architekten mit, die noch von der Weimarer Republik | |
| geprägt waren. | |
| Ihre Ziele – eine neue Stadt aus einem Guss zu bauen – ähnelten sich, nur | |
| die Motive waren unterschiedlich. Die Altnazis sahen die Gelegenheit, ihr | |
| Werk nach 1945 zu vollenden, die Unbelasteten wollten alte Zöpfe | |
| abschneiden. Alles Alte galt ihnen als verkommen. | |
| Beide Gruppen waren sich so unähnlich nicht, waren sie doch [4][beide | |
| Kinder des Modernismus und hatten mit den Architekten Walter Gropius oder | |
| Mies van der Rohe oft die gleichen Lehrmeister]. Sie einte der Hass auf die | |
| bürgerliche Stadt mit vitalen, dicht bebauten Innenstädten, den | |
| Villenvorten und den Arbeitervierteln mit ihren Hinterhöfen. | |
| Kommunale Werbefilme der Nachkriegszeit – die Städte mussten den | |
| Alteigentümern für den Umbau ja die Grundstücke abkaufen – zeichneten im | |
| Stil der Nazi-Propaganda die Innenstädte als dunkle, asoziale Dreckslöcher. | |
| Orte, an denen nicht nur Krankheiten, sondern auch politische Extremismen | |
| grassieren. | |
| ## Sanieren? Wozu? | |
| In den sechziger Jahren wurde zum Beispiel das Berliner Brunnenviertel, ein | |
| etwas heruntergekommenes, im Krieg aber intakt gebliebenes | |
| Arbeiter-Mietshausquartier im Berliner Wedding, dem Erdboden großenteils | |
| gleichgemacht und durch seelenlose Wohnsilos ersetzt – gebilligt vom | |
| SPD-Säulenheiligen Willy Brandt, der damals Regierender Bürgermeister war. | |
| Die Arbeiter, so hieß es, sollte es einmal besser haben. Für die Unsummen | |
| an Geld, die für den Kahlschlag samt Neuaufbau ausgegeben wurde, hätte man | |
| jedoch die alten Mietshäuser prächtig sanieren und die toilettenlosen | |
| Arbeiterwohnungen (die gab es „auf halber Treppe“) gleich mehrfach mit | |
| schönen Bädern ausstatten können. | |
| Die neuen, nüchternen Siedlungen boten zwar Zentralheizung, leisteten aber | |
| Anonymität und Entfremdung Vorschub. Sie sind im Außenbereich praktisch | |
| tote Viertel, wo nur die Funktion „Wohnen“, und das in engen Räumen, | |
| möglich ist. Hier gibt es keine Geschäfte, keine Kneipen, keine Cafés. So | |
| schuf man auf dem Reißbrett soziale Brennpunktviertel, wo man doch | |
| angeblich soziale Probleme beheben wollte. | |
| Seltsam mutet an, dass damals der Brandschutz als Argument – oder Vorwand – | |
| für den Stadtumbau herhalten musste. In den Bombennächten hatten die | |
| dichten Innenstädte mit ihrem vielen verbauten Holz wie Brandbeschleuniger | |
| gewirkt. Das wollte man durch breite Autoschneisen und viel Leerfläche | |
| zwischen den Wohn- und Büroriegeln künftig verhindern. Der Krieg war so | |
| stark in der nationalen Seele verankert, dass man für einen neuen schon mal | |
| vorsorgte. | |
| Ambivalent ist die Rolle der Fußgängerzone, die nicht zufällig eine | |
| deutsche Nachkriegserfindung ist. Einerseits ist sie autofrei – | |
| andererseits sorgt sie dafür, dass der Verkehr unbelästigt von Fußgängern | |
| umso ungehinderter drum herum fließen kann. In der „City“, wie es früher | |
| etwas penetrant hieß, wird ganz im Sinne der Funktionstrennung nicht | |
| gewohnt oder ausgegangen, sondern eingekauft und gearbeitet. | |
| ## Die lieblose Republik | |
| Und so sehen Fußgängerzonen nach Ladenschluss denn auch aus, nämlich | |
| ziemlich trostlos. Wenn deutsche Touristen heute in Neapel, Lucca oder | |
| Lissabon beglückt ihre Airbnb-Wohnungen beziehen und ganz angetan sind vom | |
| abendlichen Treiben unten auf der Straße, finden sie etwas, was sie zu | |
| Hause nicht haben. | |
| 1981 schrieb der SPD-Intellektuelle Dieter Lattmann das heute völlig zu | |
| Unrecht vergessene Buch „Die lieblose Republik“, eine Abrechnung mit der | |
| Regierungszeit des kalten, schneidigen Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Das | |
| Buch lässt sich aber auch als generelle Abrechnung mit der | |
| Effizienz-Ideologie, mit dem Macher- und Optimierungswahn der sechziger und | |
| siebziger Jahre lesen, der sich eben auch im Städtebau ausdrückte. | |
| Lieblos sind bis heute die meisten deutschen Städte, auch wenn gut gemeinte | |
| Reparaturmaßnahmen seit mittlerweile einigen Jahrzehnten andauern. Straßen | |
| werden verengt, Lücken durch Nachverdichtung geschlossen, die schlimmsten | |
| Bausünden der Nachkriegszeit abgerissen. Aber die Zerstörungswut der | |
| Vergangenheit lässt sich nicht einfach wettmachen. Man braucht im Grunde | |
| keine Mahnmale zum Zweiten Weltkrieg, die Städte selbst sind es. | |
| 8 May 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gunnar Hinck | |
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