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# taz.de -- Sexuelle Gewalt in der Psychiatrie: Vergewaltigt auf Station 5a
> In Bremen hat ein Mann in der Psychiatrie zwei Mitpatientinnen
> vergewaltigt. Das passiert gar nicht so selten. Präventive Maßnahmen gibt
> es zu wenige.
Bild: Ausgerechnet in Psychiatrien, wo Menschen in seelischer Not untergebracht…
Am frühen Abend des 25. Oktober 2022 betritt Malik Ali, ein 27-jähriger
Patient der geschlossenen [1][Psychiatrie des kommunalen Klinikums
Bremen-Ost], das Zimmer der 71-jährigen Hanne Meyer. Nach einem Sturz liegt
diese bewegungsunfähig in ihrem Bett. Malik Ali, ein großer Mann mit
breitem Kreuz, schließt das Zimmer von innen ab, legt sich auf sie und
dringt in sie ein. Aufgrund ihrer Erkrankung ist Hanne Meyer nicht fähig,
sich zu wehren. Pflegekräfte, verwundert ob der verschlossenen Zimmertür,
öffnen diese von außen und ziehen Malik Ali von der Frau herunter.
So soll es sich nach Überzeugung des Bremer Landgerichts zugetragen haben.
Ende März spricht die zweite Strafkammer Malik Ali, der wie die
mittlerweile verstorbene Hanne Meyer eigentlich anders heißt, nach vier
Verhandlungstagen mangels Schuldfähigkeit frei. Der Gutachter, der das
Verfahren begleitet, schließt trotz starker Medikamente weitere Übergriffe
in psychotischen Zuständen nicht aus. Daher wird Malik Ali in den
Maßregelvollzug, die Haftanstalt für psychisch Kranke, eingewiesen.
Diese Geschichte ist kein Einzelfall. Ausgerechnet in Psychiatrien, wo
[2][Menschen in einem Zustand extremer seelischer Not] Wochen und Monate
verbringen, teils gegen ihren Willen, ist das Risiko, einen sexuellen
Übergriff zu erleben, hoch. [3][Das belegen zahlreiche Studien.]
Doch eine Auseinandersetzung mit dem Thema findet selbst in Fachkreisen
kaum statt. Zu diesem Fazit kommt die Ulmer Professorin Silvia Krumm, die
zu Gewalterfahrungen von Personen mit Psychiatrieerfahrung forscht und eine
laufende [4][Studie] dazu leitet. „Eine systematische Auseinandersetzung
mit dem Problem sexueller Gewalt steht noch aus“, schreibt sie in einem
[5][Aufsatz in der Zeitschrift „Psychiatrische Praxis“]. Das war vor drei
Jahren. Geändert habe sich daran wenig, sagt sie in einem Telefonat mit der
taz.
Auch die Verbände, die sich für die Interessen psychisch Kranker einsetzen,
äußern sich auf ihren Internet-Seiten nicht zu diesem Thema. Die taz hat
zwei der größten angeschrieben und keine Antwort erhalten.
## Untersuchungen zu sexueller Gewalt in der Psychiatrie sind alarmierend
Gute Daten zur Häufigkeit in Deutschland gebe es bisher keine, sagt Silvia
Krumm. Die Ergebnisse der wenigen, meist internationalen, Untersuchungen zu
sexueller Gewalt in der Psychiatrie sind alarmierend. 2023 erschien
[6][eine Arbeit US-amerikanischer Wissenschaftler:innen], die sich mit
der Studienlage auseinandersetzt. Danach berichteten zwischen fünf und 45
Prozent der Teilnehmer:innen der verschiedenen Studien von sexueller
Gewalt während eines Psychiatrieaufenthalts. Die große Spanne kommt dadurch
zustande, dass einige Studien auch verbale Belästigung oder die Beobachtung
eines sexuellen Übergriffs als sexuelle Gewalterfahrung erfassen. Andere
nicht.
Die Häufigkeit von sexueller Gewalt in der Allgemeinbevölkerung liegt um
ein Vielfaches niedriger. Nach einer von Wissenschaftlern:innen der
Universität Ulm vorgenommenen [7][repräsentativen Bevölkerungsstichprobe]
aus dem Jahr 2016 in Deutschland erlebten innerhalb eines Jahres 0,6
Prozent der befragten Männer sexuelle Gewalt und doppelt so viele Frauen.
Im Psychiatrie-Kontext sind Frauen dreimal so oft wie Männer von sexueller
Gewalt betroffen, fanden Forscher:innen heraus, die [8][2014 in
Süddeutschland eine Befragung] von 170 Personen in ambulanten und
stationären Einrichtungen ausgewertet hatten. Von diesen hatten zwölf
Personen (7,1 Prozent) sexuelle Gewalt durch Mitpatient:innen erlebt,
sechs durch Personal. Weitere Studien zeigen, dass [9][weibliche
Pflegekräfte in der Psychiatrie häufig sexuell belästigt] oder angegriffen
werden.
Diese Zahlen fehlen in Medienberichten über Vergewaltigungen in
Psychiatrien, so dass sie wie Einzelfälle wirken. Bundesweit bekannt wurde
etwa ein Vorfall am Universitätsklinikum Tübingen. Dort wurde 2024 ein
Psychotherapeut in Ausbildung [10][in erster Instanz zu zweieinhalb Jahren
Haft] verurteilt, wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs einer Patientin.
Wenn der mutmaßliche Täter ein Mitpatient ist wie in Bremen, laufen die
Verfahren unter dem Radar der Öffentlichkeit. Das liegt daran, dass viele
Gerichte von sich aus nicht über Sexualdelikte informieren. So hatte es
auch ein Sprecher des Bremer Landgerichts auf Nachfrage der taz begründet,
die zufällig von dem Verfahren erfahren hat.
## Viele sexuelle Übergriffe werden gar nicht angezeigt
Noch häufiger aber werden sexuelle Übergriffe – unabhängig davon, wo sie
stattfinden – gar nicht angezeigt. In keinem anderen Deliktfeld sei die
Dunkelziffer so hoch, hob [11][das Bundeskriminalamt zuletzt vor drei
Jahren hervo]r. Aus den Studien zur sexuellen Gewalt in der Psychiatrie
geht hervor, dass diese oft noch nicht einmal dem Personal mitgeteilt
werden. So heißt es in der US-amerikanischen Übersichtsarbeit aus dem Jahr
2023: „Stigma, Schuld, Machtlosigkeit, Misstrauen, die Sorge, einem würde
nicht geglaubt oder Angst vor dem Täter“, seien die Gründe, das Erlebte für
sich zu behalten.
Der Bremer Prozess illustriert, wie die Glaubwürdigkeit von psychisch
Kranken in Frage gestellt wird. Am dritten Verhandlungstag sagt die Ärztin
aus, die die Station 5a leitet, auf der Malik Ali im Jahr 2024 noch einmal
mehrere Monate in Behandlung war. Damals hatte eine andere, ebenfalls
zwischenzeitlich verstorbene, Mitpatientin von Malik Ali einen Übergriff
gemeldet. Sie soll hier Doris Koch heißen. „Hatte die Frau vielleicht
Wahnvorstellungen?“, will die Richterin von der Stationsleiterin wissen.
Malik Alis Anwalt zielt in dieselbe Richtung: „Haben Sie sie auch mal
kritisch gefragt: Stimmt das wirklich?“ Die Ärztin reagiert irritiert. Die
Patientin habe an einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten. „Sie
war nicht psychotisch.“
Doris Koch war im vergangenen Jahr zeitgleich mit Malik Ali auf der Station
5a des Klinikums Ost untergebracht. Auch ihr Fall wurde jetzt vor dem
Bremer Landgericht verhandelt. Laut Anklage soll Malik Ali sie in der Nacht
vom 23. auf den 24. Mai 2024 gegen ihren Willen am Körper berührt und
schließlich oral vergewaltigt haben. Dieses Mal war der mutmaßliche Tatort
ein Gemeinschaftsraum, in dem die Patientin nach einem Streit mit ihrer
Zimmernachbarin schlief. Das Verfahren stellte das Gericht mit Zustimmung
der Staatsanwaltschaft ein, weil sich eine Verurteilung nicht auf das
Gesamtstrafmaß ausgewirkt hätte.
Die Literatur nennt, neben der Angst, als unglaubwürdig zu gelten, einen
weiteren häufigen Grund für das Schweigen der Opfer: Sie – und
möglicherweise auch die Fachkräfte – halten sexuelle Gewalt für einen
Ausdruck der psychischen Erkrankung des Täters. Dabei gibt es keinen
wissenschaftlichen Beleg für einen direkten Zusammenhang zwischen der
Diagnose einer psychischen Erkrankung und dem Begehen einer sexuellen
Straftat.
## Malik Ali wollte seine Medidkamente nicht nehmen
Malik Ali ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Denn seine
Wahnvorstellungen bestanden nach Schilderung der Ärztin im gesteigerten
Wunsch, sich fortzupflanzen. Aus Angst vor Impotenz und Libidoverlust habe
er seine Medikamente nicht nehmen wollen. Malik Ali, der dem Prozess
konzentriert und in eingesunkener Körperhaltung folgt, erzählt vor Gericht,
dass ihm während eines Psychiatrieaufenthalts eine Stimme gesagt habe, alle
Frauen auf der Station seien seine. Nach seiner Erinnerung sind viele zu
ihm gekommen, weil sie ihn so attraktiv gefunden hätten. „Mit manchen habe
ich geschlafen, mit manchen nicht.“ Die Vorsitzende Richterin hakt nach: Wo
das war? „Auf der Station, im Garten“, sagt Malik Ali.
Ob das stimmt, wird im Prozess nicht geklärt. Es ist nicht ausgeschlossen,
dass darunter einvernehmlicher Sex war. Menschen legen ihre Sexualität
nicht beim Betreten einer psychiatrischen Einrichtung ab. Darauf weist
Silvia Krumm in ihrem Aufsatz hin. Im Psychiatrie-Kontext gelte aber nicht
nur das Recht auf Sexualität – sondern auch das auf Schutz vor Übergriffen.
Letzteres, schreibt sie, könne „auch bei konsensuellen Sexualkontakten
greifen, wenn kognitive und emotionale Einschränkungen während einer
psychischen Krise eine freie Willensentscheidung erschweren oder
verhindern“.
Hinzu kommt, dass Menschen, die schon einmal sexuelle Gewalt in ihrem Leben
erlebt haben, ein höheres Risiko mit sich tragen, psychisch zu erkranken.
Hier setzt ein Teufelskreis ein: Psychisch Kranke werden laut der
Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2023 als Erwachsene zwei- bis achtmal so oft
Opfer sexueller Gewalt wie die Normalbevölkerung. Krumm gibt für Frauen mit
Psychiatrieerfahrung eine zehnmal so hohe Betroffenheit an. Auch andere
Formen von Gewalt gelten als Risikofaktoren.
Warum? Es sei möglich, dass Menschen, deren Grenzen wiederholt verletzt
wurden, diese nicht kennen oder nie erfahren haben, dass ihr „Nein“
akzeptiert wird, sagt Krumm. Eine andere Erklärung: Sie haben Sexualität so
kennen gelernt, dass es ausschließlich um die Bedürfnisse des oder der
anderen geht. „Für viele Menschen in der Psychiatrie gehört Gewalt zu ihrer
Normalität“, sagt die Wissenschaftlerin. Daher liege womöglich auch für
Mitarbeiter:innen in der Psychiatrie die Aufmerksamkeitsschwelle bei
dem Thema höher als in anderen Kontexten.
## Lösungsansätze aus anderen Ländern
In anderen Ländern gibt es Ansätze, die sexuelle Übergriffe im Vorfeld
verhindern sollen. Am weitesten ist ein Bundesstaat in Australien. In
Western Australia müssen sich staatliche Einrichtungen seit 2020 an die
[12][Richtlinien zur sexuellen Sicherheit] von Psychiatrie-Patient:innen
halten. Dazu gehört, bei der Aufnahme Risiken zu identifizieren und
entsprechend gegenzusteuern. Das gilt sowohl für potenzielle Täter als auch
Opfer. Zudem sollen die Patient:innen gefragt werden, ob sie besonderen
Schutz brauchen. Denn auch das ist aus der Forschung bekannt: Wer – egal wo
– schon einmal sexuelle Gewalt erlebt hat, fühlt sich unsicherer. Angst und
Misstrauen erschweren wiederum Therapieprozesse, sagt Krumm. Auch
vergleichsweise einfache Maßnahmen werden in dem australischen Papier
genannt: etwa die, in Form von Aushängen Patient:innen auf ihre Rechte
aufmerksam zu machen.
Von besserer Prävention profitieren, so zynisch es klingen mag, nicht nur
die Betroffenen selbst. Sondern auch die Beitragszahler:innen der
Krankenversicherungen. Denn wenn Psychiatrie-Patient:innen sexuelle Gewalt
erleben, gesunden sie schwerer oder werden sogar noch kranker, schreibt
Krumm 2022. Und: „Es besteht die Gefahr, dass sie aus Furcht vor (weiteren)
sexuellen Übergriffen auf eine notwendige stationäre Behandlung
verzichten.“
Dennoch gibt es in Deutschland nur äußerst zarte vergleichbare Ansätze. So
sind Kliniken und niedergelassene Ärzt:innen seit 2020 zwar zu
Schutzkonzepten verpflichtet, um „Missbrauch und Gewalt insbesondere
gegenüber vulnerablen Patientengruppen, wie beispielsweise Kindern und
Jugendlichen oder hilfsbedürftigen Personen, vorzubeugen, zu erkennen,
adäquat darauf zu reagieren und auch innerhalb der Einrichtung zu
verhindern“. Das steht in der vom Gemeinsamen Bundesausschuss erlassenen
[13][Qualitäts-Management-Richtlinie]. Doch schaut man sich die
Schutzkonzepte der Kliniken an, haben diese ausschließlich Minderjährige im
Blick.
Eine Ausnahme bildet das seit einem Jahr gültige Schutzkonzept des
Uniklinikums Tübingen, das parallel zur Aufarbeitung des dortigen
Missbrauch-Skandals entstanden ist. Aber weil der Täter ein Mitarbeiter
war, geht es hier nur um Gewalt an Schutzbefohlenen. Nicht um Übergriffe,
die von Patient:innen ausgehen – die nach Studienlage den größeren
Anteil ausmachen.
In Bremen gelten seit 2022 die [14][Gender-Leitlinien] für das
psychiatrische und Suchthilfesystem. Diese fordern „verbindliche
Gewaltschutzkonzepte“, die es in den kommunalen Kliniken bisher nicht
verschriftlicht gibt. Auch abschließbare Schlafräume sowie
geschlechtsspezifische Rückzugsräume und Stationen sehen die Leitlinien
vor. „Geschlechtergetrennte Unterbringung und Behandlung soll möglich
sein“, steht zudem [15][im Bremer Gesetz], das die Behandlung von psychisch
Kranken regelt.
## Neue Zimmer mit Chipkartensystem
Auf den psychiatrischen Stationen des Klinikums Bremen Ost gibt es, wie
auch andernorts üblich, reine Frauenschlafzimmer – aber auf gemischten
Stationen. Von innen abschließbar sind im Grundsatz alle; mit einem Knauf,
der die Tür verriegelt. Relativ neu sind solche Zimmer, die mit einer
Chipkarte auch von außen verschlossen und geöffnet werden können. Das ist
von Vorteil, wenn sich mehrere Personen ein Zimmer teilen oder jemand
bettlägrig ist. Drei solcher Zimmer soll es laut Klinik auf der Station 5a
geben. Ob das Zimmer von Hanne Meyer mit einem solchen Mechanismus
verriegelbar war, kann im Strafprozess nicht geklärt werden.
In eins dieser Zimmer darf die taz an einem Dienstag Ende Februar
hineinschauen, es liegt im Haus 3. Das wurde 2018 renoviert und umgebaut,
Flure und Zimmer sind hell und freundlich. In der Praxis bekämen die
besonders Schutzbedürftigen nicht immer die für sie vorgesehenen Zimmer,
erklärt der stellvertretende Stationsleiter. Schuld sei die permanente
Überbelegung. „Wir müssen schauen, wo Platz ist.“
100 Meter weiter, im Haus 5, liegt die Station, auf der Malik Ali behandelt
wurde. Beide Häuser befinden sich in einem weitläufigen Park, in dem wie
hinein gewürfelt weiße Fachwerkhäuser mit roten Ziegeldächern stehen. Am
Rand des Geländes ragen die drei Hochhaustürme des Hauptgebäudes auf, ein
Betonbau aus den 70er Jahren. In einem Besprechungsraum unterhalb der Türme
hat die Klinikleitung die taz zum Gespräch über den Umgang mit sexueller
Gewalt und die konkreten Vorfälle eingeladen. Neben der Pressesprecherin
und dem Psychiatrie-Chefarzt sind ein Vertreter der Klinikdirektion und die
beiden Psychiatrie-Pflegeleiter:innen gekommen.
Martin Bührig, 1957 geboren und seit 22 Jahren [16][Psychiatrie-Chefarzt in
Bremen], hört eine Weile schweigend zu. Dann beugt er sich vor und spricht
ein paar eindringliche Sätze, wie um klarzumachen, dass in dieser Klinik,
zumindest in den leitenden Funktionen, niemand arbeitet, der oder die nicht
wüsste, was sexuelle Gewalt ist – und wo sie beginnt. „Schon, wenn Frauen
sprachlich zu Objekten degradiert werden – das ist eine Würdeverletzung,
die wir nicht dulden.“
Mitarbeiter:innen würden dafür sensibilisiert und auch dazu
angehalten, Übergriffe jeglicher Art zu melden, gegen sie selbst oder
Patient:innen. Sollte eine von Gewalt betroffene Person eine Anzeige bei
der Polizei wünschen, so geschehe dies nach Möglichkeit durch die Klinik,
damit die Anschriften der Geschädigten zu diesem Zeitpunkt noch nicht in
der Akte landen. Das sehe der klinikinterne Prozessablauf vor.
Der Pflegedirekor der Klinik, Jörn Sandtvos, weist darauf hin, dass „die
besonderen Vorkommnisse“ in wöchentlichen Berichten dokumentiert würden,
sexuelle Gewalt sei als eigene Kategorie aufgeführt. Eine Auswertung kann
die Klinik nicht liefern, nur die Zahl der Gesamtvorfälle an allen
besonderen Vorkommnissen nach Quartalen.
Niemand in dieser Runde behauptet, dass man in der Psychiatrie sicherer vor
sexueller Gewalt wäre als „draußen“. Nur glauben sie, bereits alles dafür
zu tun, dass das Risiko gering bleibt. Jeder Einzelfall werde
„aufgearbeitet“, sagt der Pflegedirektor. Was das im Fall von Malik Ali
bedeutet, können die Klinikverantwortlichen nicht sagen. Aufgrund der
ärztlichen Schweigepflicht dürfen sie keine Auskunft über Patientendaten
geben. Anhand der Gerichtsverhandlung lässt sich allerdings rekonstruieren,
dass die Aufarbeitung, wenn es sie gegeben hat, keine Konsequenzen nach
sich zog.
Nachdem Malik Ali im Oktober 2022 auf der Station 5a Hanne Meyer
vergewaltigt hat, stellt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein. Die
Schuldunfähigkeit sei absehbar gewesen, schreibt der Sprecher der
Staatsanwaltschaft der taz. Der forensische Gutachter – derselbe, der ihn
für das gerade abgeschlossene Gerichtsverfahren begutachtet hat – habe
keine Anzeichen für eine Wiederholungsgefahr gesehen. „Es sah nach einer
Ausnahme aus.“
## Malik Ali lebte lange Zeit unauffällig
Aus juristischer Sicht ist das plausibel. Malik Ali hatte, bis er vor vier
Jahren nach Bremen zog, nach einer ersten medikamentösen Einstellung in der
Klinik in Rotenburg an der Wümme unauffällig im niedersächsischen Umland
gelebt und gearbeitet. Dort hatten sein Hausarzt und eine
Flüchtlingshelferin dafür gesorgt, dass er regelmäßig seine Medikamente
nimmt, wie diese vor Gericht berichtet. Malik Ali lächelt, als sie sich vor
ihrer Aussage auf dem Gerichtsflur begegnen. Sie kennen sich seit Januar
2015, zwei Jahre zuvor war er [17][aus dem Sudan geflohen, alleine, über
das Mittelmeer].
Doch die [18][Unterstützung in Bremen reicht nicht aus,] und Malik Ali
landet nach Aussage der Ärztin mehrfach auf der 5a: 2022, 2023, und dann
noch einmal am 22. April 2024.
Und obwohl die Vergewaltigung der 71-jährigen Hanne Meyer im Jahr 2022
aktenkundig ist, wird er – so berichtet es die von der Schweigepflicht
entbundene Ärztin vor Gericht – erst gut einen Monat nach seiner letzten
Aufnahme unter eine Eins-zu-eins-Betreuung gestellt. Am 26. Mai 2024, zwei
Tage nach der mutmaßlichen oralen Vergewaltigung im Gemeinschaftsraum. Die
Maßnahme soll sicher stellen, dass er sich nicht wieder alleine
Mitpatient:innen nähern kann. Der Grund für das Handeln der Klinik:
Malik Ali hatte sich an dem Tag zu einem Patienten ins Bett gelegt, ihm
Mund und Nase zugehalten und ein Kissen aufs Gesicht gedrückt.
Die Klinik zeigt ihn deswegen an. Und wegen weiterer vier Übergriffe, von
denen zwei im Strafverfahren mit verhandelt wurden. Die anderen zwei hatte
die Staatsanwaltschaft vor Prozessauftakt eingestellt. Einmal soll er,
trotz Eins-zu-eins-Betreuung, nach Überzeugung des Gerichts einer Pflegerin
beim Mittagessen schmerzhaft in den Schritt gegriffen haben. Ein anderes
Mal soll er im Vorbeigehen einer Patientin an die Brust gefasst haben.
Dreieinhalb Monate später, am 13. September, beantragt die Bremer
Staatsanwaltschaft Malik Alis einstweilige Unterbringung im
Maßregelvollzug. Vier Tage später wird er dorthin verlegt. Normalerweise
würde es noch länger dauern bis die Justizbehörden handeln, sagt die Ärztin
vor Gericht. Sie habe in diesem Fall nachgehakt.
Diese Geschichte endet mit zwei Erkenntnissen. Malik Ali hätte die Taten
vermutlich nicht begangen, wenn er gesundheitlich besser versorgt gewesen
wäre. Und zweitens: Solange sich nichts ändert, wird es weitere Opfer
sexueller Gewalt in psychiatrischen Einrichtungen geben, in Bremen und
überall anders. Präventionskonzepte könnten helfen. Sie fehlen auch, weil
sie niemand einfordert. Dazu müsste eine Bereitschaft in der breiten
Gesellschaft entstehen hinzusehen und das Ausmaß des Leids zu begreifen.
Brian Barnett, Psychiater an einer Klinik in Cleveland in den USA,
[19][schreibt 2020 in einem Essay] „Der erste Schritt, um die sexuelle
Sicherheit von Psychiatrie-Patient:innen zu gewährleisten, ist öffentlich
anzuerkennen, dass es diese derzeit nicht gibt.“
19 May 2025
## LINKS
[1] /Psychiatrische-Versorgung-in-Bremen/!5861223
[2] /Zwangsbehandlung-in-der-Psychiatrie/!5787242
[3] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/16148328/
[4] https://www.uniklinik-ulm.de/psychiatrie-und-psychotherapie-ii/arbeitsgrupp…
[5] https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/html/10.1055/a-1950-7686
[6] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0163834323000270
[7] https://www.aerzteblatt.de/archiv/praevalenz-sexueller-gewalt-142ae584-a1dd…
[8] https://www.frontiersin.org/journals/psychiatry/articles/10.3389/fpsyt.2020…
[9] https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8596810/#inm12905-sec-0022
[10] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/prozess-sexuell…
[11] https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Forschung/ForschungsprojekteUndErgebn…
[12] http://www.chiefpsychiatrist.wa.gov.au/standards-guidelines/sexual-safety-…
[13] https://www.g-ba.de/beschluesse/4379/
[14] https://www.geschlecht-und-psychische-gesundheit.de/gender-leitlinien/
[15] https://www.transparenz.bremen.de/metainformationen/bremisches-gesetz-uebe…
[16] /Psychiatrie-Chefarzt-ueber-Kuendigung/!6054456
[17] /Traumatherapie-fuer-Gefluechtete/!5993666
[18] /Bremer-Psychiatriereform/!5901353
[19] https://psychiatryonline.org/doi/10.1176/appi.ps.202000038
## AUTOREN
Eiken Bruhn
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