# taz.de -- Krise in der Gefängnispsychiatrie Berlin: Er hat nicht gelebt | |
> Ümit Vardar starb nach 27 Jahren im Maßregelvollzug. Die Zustände dort | |
> gelten schon lange als untragbar. Seine Familie verklagt nun das Land | |
> Berlin. | |
Er war ein schöner Mann. Damals, bevor er ins Berliner Krankenhaus des | |
Maßregelvollzugs kam. Alle sollen das sehen. Aysel Vardar hat ein Foto | |
ihres Sohnes an ihre Bluse geheftet, als sie am 14. Mai dieses Jahres vor | |
einem Gerichtssaal des Landgerichts Berlin in Charlottenburg wartet. Auf | |
dem Foto hat Ümit verwuschelte Haare, einen Dreitagebart, dreht den Kopf | |
zur Seite und blickt direkt in die Kamera. | |
Ümit Vardar starb 2017 im Alter von 52 Jahren im Vivantes-Klinikum in | |
Berlin-Neukölln. Davor war er im Maßregelvollzug untergebracht, der | |
Gefängnispsychiatrie. Vardar hatte 1988 seinen Vater bedroht, 2.000 D-Mark | |
von ihm verlangt und eine Ärztin geschlagen. Ein Gericht erklärte Ümit | |
Vardar 1989 der versuchten räuberischen Erpressung, der Bedrohung und der | |
Körperverletzung für schuldig. Weil ein Gerichtsgutachter ihm eine | |
[1][paranoide Schizophrenie] attestierte und er wegen der wiederholten | |
Gewalttaten für weiterhin gefährlich galt, kam er nicht ins reguläre | |
Gefängnis, sondern in den Maßregelvollzug. | |
Aysel Vardar, randlose Brille, die Haare streng zu einem Zopf gebunden, hat | |
das Land Berlin verklagt. Vertreten wird sie von ihren verbliebenen Söhnen, | |
Atilla und Mesut, Zwillinge, Rechtsanwälte. Ümit war im August 2017 aus dem | |
Krankenhaus des Maßregelvollzugs entlassen worden und kam in eine | |
Krisenunterkunft. Nur wenig später hörte er auf zu essen, zu trinken, zog | |
sich in eine Ecke zurück und klagte über Schmerzen. Am 18. Oktober wurde er | |
in die Notaufnahme eingeliefert, wo man zwei Hirntumore bei ihm entdeckte. | |
Er starb am 5. November 2017. | |
Vor Gericht geht es um die Frage, seit wann Ümit die Tumore hatte und ob | |
sie von den Medikamenten, die er im Maßregelvollzug bekommen hat, ausgelöst | |
worden sein können. | |
## Die Probleme sind seit Jahren bekannt | |
Das Krankenhaus des Maßregelvollzugs (KMV) in Berlin steht seit Jahren | |
[2][in der Kritik]. Zu wenig Personal, zu wenige Angebote, überfüllte | |
Zimmer. Mit Stand 8. August waren laut Berliner Senat 611 Patient*innen | |
im KMV untergebracht, obwohl es regulär nur 549 Betten gibt. Zusätzlich | |
sind 15 Patient*innen im Justizvollzugskrankenhaus und in Gefängnissen | |
untergebracht. Wann diese ins KMV übersiedelt werden können, ist laut Senat | |
nicht absehbar. | |
Die taz hat gemeinsam mit Frag den Staat zu den Zuständen im | |
Maßregelvollzug recherchiert: mit Patient*innen und Angehörigen | |
gesprochen, Kommissionsberichte gelesen, Anfragen nach dem | |
Informationsfreiheitsgesetz gestellt. Daraus ergibt sich folgendes Bild: | |
Der erhebliche Personalmangel führt zu Unterversorgung und mangelhafter | |
Dokumentation. Nicht immer scheinen medizinische Problemlagen richtig | |
erkannt zu werden. Die Menschen sind frustriert, werden teils aggressiv und | |
gewalttätig. Auch gegen Pflegepersonal. | |
Dabei kennt auch der Senat die Probleme seit Jahren. 2018 setzte die | |
Senatsverwaltung für Gesundheit eine Kommission ein, die seitdem jährlich | |
die 16 Berliner psychiatrischen Kliniken und das KMV besuchen und | |
Missstände dokumentieren soll. Bereits in ihrem ersten Bericht von 2020 | |
schreiben die Expert*innen von „mangelhaften räumlichen Bedingungen und | |
einer „defizitären Personalsituation“ im KMV, teils verschärft durch die | |
Pandemie. Gesetzliche Vorgaben könnten nicht eingehalten, therapeutische | |
Maßnahmen nicht durchgeführt werden. Es gebe „sichere Hinweise auf | |
teilweise erhebliche Einschränkungen von Persönlichkeitsrechten“. | |
Der Bericht von 2021 bestätigt den Eindruck. Als „sehr problematisch“ wird | |
darin zudem die Lage von zwei Patient*innen eingeschätzt, „die seit | |
mehreren Monaten in den Isolationszimmern untergebracht sind“. Nach den | |
Mindestgrundsätzen der Vereinten Nationen für die Behandlung von Gefangenen | |
gilt eine Einzelhaft an mehr als 15 aufeinander folgenden Tagen als Folter. | |
Die [3][Isolationsmaßnahmen im KMV] würden regelmäßig geprüft. „Eine Reg… | |
oder Höchstdauer, die als angemessen gilt, existiert nicht“, schreibt der | |
Berliner Senat, „besondere Sicherungsmaßnahmen sind spätestens alle 14 Tage | |
zu überprüfen.“ | |
Der geplante Doppelbericht der Kommission für 2022 und 2023 ist noch nicht | |
veröffentlicht. Dass sich drei Jahre später nichts verbessert hat, zeigen | |
allerdings mehrere Entwicklungen in den ersten Monaten dieses Jahres. Im | |
Januar schrieb der Personalrat des KMV einen Brandbrief an die | |
Senatsverwaltung für Gesundheit. Im Februar [4][demonstrierten Angehörige] | |
„gegen die menschenunwürdigen Zustände im Krankenhaus des Maßregelvollzugs | |
Berlin“. Im März folgten [5][Proteste von Beschäftigten]. Im April | |
schließlich reichte der ärztliche Leiter des KMV, Sven Reiners, seine | |
Kündigung ein. | |
## Mehr Medikamente als notwendig | |
Personalmangel und Überbelegung, das sind [6][die Kernprobleme], von denen | |
auch zwei Angehörige von Patient*innen der taz berichten. Laura Kaiser | |
(Name geändert) klagt: „Die Patient*innen haben keinerlei Privatsphäre. | |
Das wirkt sich auch auf die Psyche aus.“ Gespräche mit Psycholog*innen | |
sowie Ergo-, Sport- oder Arbeitstherapie gebe es zwar, aber nicht genug, | |
und oft fielen die Angebote aus. Das führe erstens zu Langeweile und Frust. | |
Zweitens sei es Voraussetzung für die Entlassung, Angebote wahrzunehmen. | |
Gebe es diese aber de facto nicht, verzögere sich die Entlassung. „Das darf | |
so nicht sein“, kritisiert Kaiser. | |
Eine andere Angehörige bestätigt den Eindruck. Die Konsequenz sei, so habe | |
sie das bei ihrer Tochter erlebt und von anderen Angehörigen erfahren, dass | |
„die Leute mit Medikamenten vollgepumpt“ würden „in einem Ausmaß, das m… | |
der Krankheit nicht gerechtfertigt werden kann“. | |
Die taz hat darüber auch mit Sven Reiners gesprochen, bis Ende Juni | |
Chefarzt im KMV. Er sagt: „Die Dosen an Antipsychotika im KMV wären | |
wahrscheinlich sehr viel niedriger, wenn es ein besseres Therapieangebot | |
gäbe und kleinere, helle, freundliche Stationen.“ Das Gleiche gelte für | |
andere Medikamente wie Beruhigungsmittel. „Um es zugespitzt zu sagen: Die | |
Patienten bekommen Medikation für ihre Krankheit, aber viel höhere Dosen | |
als notwendig, damit sie die Umstände in der Klinik ertragen können.“ | |
Auch im Gerichtsverfahren um Ümit Vardar spielen Medikamente eine Rolle: Ob | |
der Verstorbene mehr Mittel erhalten hat als notwendig, ob die Dosen zu | |
hoch waren, der Zeitraum zu lang. | |
## Streit mit den Eltern | |
Geboren wurde Ümit Vardar in der Türkei, zog als Kind mit seinen Eltern | |
nach Deutschland. Nach dem Hauptschulabschluss versuchte er sich als | |
Gärtner. Die Eltern wünschten sich, dass er Koch wie der Vater würde. | |
Nirgends blieb er lange. Ihn interessierte vor allem Musik. „Er liebte | |
Elvis“, erzählt seine Mutter Aysel Vardar Ende Juli in ihrer Wohnung in | |
Berlin-Reinickendorf. Er sang, spielte Gitarre, übersetzte Songtexte. | |
Später, in der Klinik, schrieb er eigene Gedichte auf Türkisch, Deutsch und | |
Englisch und unterschrieb sie mit „Mr. Hope“ – die englische Übersetzung | |
seines türkischen Vornamens: Hoffnung. | |
Mitte der 80er, Ümit war etwa 20 Jahre alt, lebte er weiterhin in der | |
elterlichen Wohnung, blieb aber immer länger fort, so erinnert sich Aysel | |
Vardar. Einmal fand sie in seiner Kleidung Drogen, er habe benommen | |
gewirkt. Immer wieder sei er mit dem Vater aneinandergeraten, aggressiv | |
geworden. Sein Bruder Atilla stellt pantomimisch dar, wie Ümit einmal den | |
Tisch im Wohnzimmer angehoben und in Richtung seiner Mutter geworfen habe. | |
Der Vater schmiss Ümit aus der Wohnung. Es folgten Aufenthalte in | |
Psychiatrien wegen „Streitigkeiten und Tätlichkeiten“ gegen die Eltern, wie | |
es im Urteil vom Januar 1989 heißt. Etwaige Diagnosen zu dem Zeitpunkt sind | |
darin nicht festgehalten. | |
Ende Januar 1988 fordert Ümit durch die geschlossene Wohnungstür 2.000 | |
D-Mark von den Eltern. Er wolle nach Alaska auswandern. Der Vater öffnet | |
nicht. Zwei Tage später kommt Ümit zurück, fordert wieder Geld, droht, den | |
Vater umzubringen. Der weist ihn wieder ab. Ümit wartet im Hausflur, als | |
der Vater die Wohnung verlässt, mit einem Pflasterstein und einer | |
abgebrochenen Flasche in der Hand. Der Vater beruhigt ihn, ruft die | |
Polizei. Ümit wird vorläufig festgenommen. | |
Ein paar Tage später, wieder frei, geht Ümit ins Krankenhaus am Urban und | |
bittet um Aufnahme. Die diensthabende Ärztin will zunächst mit ihm reden. | |
Doch stattdessen schlägt Ümit sie mit der Faust. | |
Die Mutter erklärt seine Reaktion Jahre später so: Ümit habe keine Bleibe | |
gehabt, hätte auf der Straße schlafen müssen. Er ging ins Krankenhaus, wo | |
er die Ärztin kannte, und bat um Hilfe. Die bekam er nicht, wie er es sich | |
vorstellte, und er wusste nicht, was tun. | |
Ein Jahr später wird er verurteilt. Ein Aufenthalt im Maßregelvollzug wird | |
auf unbestimmte Zeit verhängt, muss aber regelmäßig gerichtlich überprüft | |
werden. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im KMV liegt derzeit bei | |
sechseinhalb Jahren. Ümit Vardar blieb 27 Jahre. | |
In einer Stellungnahme an die Staatsanwaltschaft von 2016 schreibt das KMV, | |
Vardar nehme an Therapien teil, seine „kontinuierliche Einbindung“ sei | |
jedoch nicht möglich, immer wieder lehne er seine Medikation ab. 2015 und | |
2016 habe es Schlägereien mit Mitpatienten gegeben, in beiden Fällen sei er | |
isoliert worden. Versuche, ihn in ein „geeignetes psychiatrisches | |
Pflegeheim“ zu vermitteln, in dem der „engmaschig betreut“ werden könne, | |
seien an seiner Ablehnung gescheitert. Die Familie sagt: Erst ab 2012 – da | |
war er bereits über 20 Jahre im KMV – seien ihm solche Angebote | |
unterbreitet worden. Medikamente habe er wegen der Nebenwirkungen | |
abgelehnt. | |
1990 zieht Familie Vardar nach Reinickendorf, wo das KMV liegt, um näher | |
bei Ümit zu sein. Der ruft täglich zu Hause an. Spielt am Telefon mit der | |
Gitarre vor, fragt: „Mama, ist das gut?“. „Er hat immer nach Bestätigung | |
gesucht“, erzählt Aysel Vardar. Als ihr Sohn Atilla Fotos von Ümit holt, | |
wendet sie sich ab, mit Tränen in den Augen. Als sie sich wieder etwas | |
gefasst hat, sagt sie: „Er hat nicht gelebt.“ Die ganzen Jahre in der | |
Psychiatrie – ein richtiges Leben sei das nicht gewesen. | |
## Seitenweise Medikamentenlisten in den Akten | |
Bei [7][Schizophrenie] werden vor allem Antipsychotika verschrieben. Sie | |
lindern die Symptome einer Psychose und mildern Halluzinationen und | |
Wahnvorstellungen. Bei starker Unruhe und Schlafstörungen bekommen die | |
Patient*innen Schlaf- und Beruhigungsmittel. | |
In den Gerichtsakten im Fall Vardar finden sich seitenweise | |
Medikamentenblätter. Über die Jahre bekommt er mal Haloperidol, mal | |
Melperon, mal Levomepromazin. Familie Vardar hat für die | |
Gerichtsverhandlung einen Pharmakologen um ein Gutachten gebeten. Sie will | |
erstens wissen, ob die in Ümits Akten beschriebenen Verhaltensweisen wie | |
Aggressivität oder Lähmungserscheinungen schon 2015 oder 2016 auf die | |
Hirntumore hätten hinweisen können. Zweitens, ob die Tumore von den | |
Medikamenten ausgelöst worden sein können und drittens, ob die Medikamente, | |
die Ümit erhielt, dazu geführt haben können, dass die Hirntumore nicht | |
entdeckt wurden. | |
Ein Beruhigungsmittel steht besonders häufig in den Akten: Tavor. Zuletzt | |
bekam Ümit Vardar dieses Medikament von August 2013 bis 2016 durchgängig. | |
Selbst bei chronischen Erkrankungen empfiehlt der Hersteller die Gabe nicht | |
länger als zwei Wochen, zumindest müsse dann ein Arzt neu entscheiden. In | |
seinem Gutachten schreibt der Pharmakologe, bei Patient*innen mit | |
Schizophrenie hätten Studien eine erhöhte Sterblichkeit ausgemacht. „Warum | |
[bei Vardar] Tavor über Jahre hinweg als Dauertherapie erforderlich war“, | |
gehe aus der Dokumentation des KMV nicht hervor. | |
Tavor werde in Form von Injektionen auch eingesetzt, um Epilepsien zu | |
behandeln. Daher, so der Pharmakologe, sei anzunehmen, dass die | |
Dauertherapie mit Tavor in Tablettenform bei Ümit Vardar „geeignet gewesen | |
wäre, mögliche Symptome eines Hirntumors, nämlich epileptische Anfälle, zu | |
unterdrücken bzw. zu verschleiern“. | |
Das Berliner Landgericht beanstandet die Tavor-Therapie nicht: Die | |
Tagesdosen hätten die empfohlenen Mengen nicht überschritten. Außerdem habe | |
die Familie nicht ausreichend dargelegt, ob Ümit tatsächlich | |
gesundheitliche Nachteile entstanden seien. | |
Dass im KMV nicht gerade wenig Tavor vergeben wird, zeigen Daten der | |
Senatsverwaltung für Gesundheit, die Frag den Staat und der taz exklusiv | |
vorliegen. Demnach gab das KMV im Jahr 2015 etwa 1.300 Euro für 23.035 | |
Milligramm Tavor aus. 2016 waren es etwa 1.700 Euro für 20.225 Milligramm. | |
Im Jahr 2023 waren es etwa 2.200 Euro für 22.910 Milligramm. | |
Von dieser Menge hätte jede*r Patient*in 13 bis 65 Tage damit behandelt | |
werden können – je nach Dosierung. Wie viele Patient*innen tatsächlich | |
Tavor erhielten, ist natürlich nicht bekannt. Sollten beispielsweise nur | |
100 Patient*innen das Medikament bekommen haben, dann hätten sie 80 | |
Tage bis zu einem Jahr damit behandelt werden können. | |
## Fast ein Viertel der Stellen fehlt | |
Sven Reiners war von 2021 bis Juni 2024 Chefarzt am KMV – nach der | |
Entlassung von Ümit Vardar. Er kündigte, weil er die „menschenunwürdigen“ | |
Zustände „nicht mehr verantworten“ konnte, wie er der taz Anfang August am | |
Telefon sagt. Auch für den Fall Vardar findet er harte Worte: „27 Jahre in | |
der forensischen Psychiatrie wegen ‚räuberischer Erpressung‘: Das ist ein | |
Skandal.“ | |
Die Zustände des KMV in den vergangenen Jahren habe er mehrfach gegenüber | |
der Senatsverwaltung für Gesundheit angeprangert und die Senatorin – | |
erfolglos – um ein Gespräch gebeten. „Der Personalmangel ist so eklatant, | |
da hilft auch eine Stellenaufstockung nicht“, sagt er der taz. Zwei | |
Pflegekräfte müssten alleine eine Station, die eigentlich für 36 Patienten | |
ausgelegt ist, mit bis zu 50 Personen betreuen. Bei solchen Bedingungen | |
„werden die Patienten krank und die Mitarbeiter auch“ – weshalb viele neue | |
Mitarbeitende gleich wieder kündigten. | |
Was es brauche, sei ein Neubau. „Eine moderne Klinik, mit höchstens 20 | |
Patienten pro Station.“ Klar gehe das nicht von heute auf morgen. „Aber man | |
hätte schon vor drei Jahren anfangen können, den Maßregelvollzug in Berlin | |
neu zu denken.“ Das sei nicht geschehen. | |
Auch Berlins frühere Landesbeauftragte für Psychiatrie, Luciana Degano | |
Kieser, hat ihr Amt im Juni 2023 niedergelegt, weil sie die Situation im | |
Maßregelvollzug nicht verantworten wollte. Der taz und Frag den Staat sagt | |
sie im August 2024: „Menschenwürde und Patientenrechte werden im Berliner | |
Maßregelvollzug nur unzureichend eingehalten.“ Eine Besserung sei nicht | |
absehbar gewesen. Es fehlten eine Strategie und zumindest mittelfristige | |
Planung. „Die Situation war für mich ethisch nicht mehr tragbar und | |
fachlich nicht mehr zu verantworten“, sagt Degano Kieser heute. Sie war | |
lediglich ein halbes Jahr im Amt, seit ihrem Weggang ist die Position nicht | |
besetzt. Aktuell läuft das Auswahlverfahren. | |
Konkret fehlen im KMV derzeit fast ein Viertel aller Stellen, 144,8. Das | |
Krankenhaus sei „hochgradig bemüht, hier Personal zu finden“, schreibt die | |
Senatsverwaltung auf Anfrage von taz und Frag den Staat und verweist auf | |
den bundesweiten Fachkräftemangel. Tatsächlich verfehlt einer aktuellen | |
Studie zufolge mehr als die Hälfte aller psychiatrischen Einrichtungen in | |
Deutschland die Mindestvorgaben für das Fachpersonal. Die gesetzlichen | |
Krankenkassen fordern, mehr Menschen ambulant statt stationär zu versorgen. | |
Eine Lösung für den Maßregelvollzug wäre das nicht. | |
Stattdessen soll das Berliner KMV mehr Betten bekommen. Bis 2025 will der | |
Senat dafür dessen Budget um 20 Millionen Euro auf 89,2 Millionen Euro | |
aufstocken. Während die Gesundheitssenatorin im Februar der taz noch sagte, | |
die neuen Plätze würden „auf jeden Fall noch in diesem Jahr“ bezugsfähig, | |
heißt es aus der Senatsverwaltung auf Nachfrage im August nur noch, das | |
solle „so schnell wie möglich“ geschehen. | |
Zur Aussage Sven Reiners, die Zustände seien „menschenunwürdig“, erklärt | |
der Senat allgemein, die Situation sei für alle Beteiligten belastend, die | |
Sorgen und Probleme würden „sehr ernst genommen“, seien außerdem „erkan… | |
benannt und werden konsequent in Angriff genommen“. | |
Zum Fall Ümit Vardar äußert sich die Senatsverwaltung „aufgrund des | |
Datenschutzes“ nicht. Das Landgericht verkündet sein Urteil am 4. Juni: Das | |
Land Berlin muss den Angehörigen ein Schmerzensgeld von 35.000 Euro zahlen. | |
Mitarbeiter*innen des KMV hätten den Patienten „fehlerhaft behandelt“: | |
Der Patient sei „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ bereits | |
im Juni 2017 am Tumor erkrankt gewesen. Mit richtiger Diagnostik und Befund | |
hätte der Tod vermutlich nicht verhindert, die Lebenserwartung aber | |
verlängert werden können. Ansonsten weist das Gericht die Klage überwiegend | |
ab. | |
Es ist nur kleiner Erfolg für die Familie. Die hatte ein Schmerzensgeld von | |
280.000 Euro gefordert. Aysel Vardar geht in Berufung. | |
Für die Recherche stützen wir uns unter anderem auf exklusive Dokumente, | |
die wir per Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz erhalten haben. | |
Frag den Staat hat sie veröffentlicht. [8][Die Recherche von Frag den Staat | |
finden Sie hier]. | |
16 Aug 2024 | |
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[8] https://fragdenstaat.de/artikel/exklusiv/2024/08/das-krankenhaus-des-grauen… | |
## AUTOREN | |
Johanna Treblin | |
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