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# taz.de -- Krise im Berliner Maßregelvollzug: „Wie soll es uns so besser ge…
> Patient*innen und Beschäftigte prangern die Missstände im Berliner
> Maßregelvollzug öffentlich an. Von den versprochenen Verbesserungen
> halten sie wenig.
Bild: Zu wenig Betten, zu wenig Personal: Krankenhausgebäude des Maßregelvoll…
Berlin taz | Dieses Rumliegen, Rumsitzen, irgendwie die Zeit vertreiben –
das sei besonders frustrierend, erzählt Ella Weinberger (Name geändert) der
taz. Seit Juni 2023 ist die 28-Jährige auf der Frauenstation im Krankenhaus
des Maßregelvollzugs in Reinickendorf „einstweilig“ untergebracht.
Sie wartet auf ihr Gerichtsverfahren, bis dahin hat ein Gericht sie in die
Klinik für psychisch erkrankte und suchtkranke Straftäter*innen
eingewiesen. Weinberger kritisiert, dass die Zustände in dem Krankenhaus
eine Genesung nahezu unmöglich machen: „Das ist nur ein Verwahren, wie soll
es den Leuten so besser gehen?“
Der Berliner Maßregelvollzug ist [1][seit Langem in einer schweren Krise].
Eine immer weiter wachsende Zahl an Patient*innen muss von viel zu
wenig Personal betreut und behandelt werden: Laut der
Senatsgesundheitsverwaltung werden derzeit rund 850 Personen von den
Einrichtungen des Maßregelvollzugs versorgt, 623 davon stationär an den
Standorten in Reinickendorf und Buch. Vorgesehen sind nur 549 Betten.
Gleichzeitig waren Ende Januar von den 674 Planstellen lediglich 516
besetzt.
Auch auf der Frauenstation seien mehr Patientinnen untergebracht als
eigentlich vorgesehen, berichtet Weinberger: 30 statt 26. Das bedeute, dass
zusätzliche Betten in die Zimmer gestellt werden. „Das ist schrecklich“,
sagt sie, „vor allem die andauernde Lautstärke ist sehr belastend“.
## Die Stunde im Hofgarten fällt andauernd aus
Rund um die Uhr sind regulär zwei Pflegekräfte für die 30 Frauen zuständig.
Fällt eine der beiden aus, wirkt sich das direkt auf den Alltag der
Patientinnen aus. „Dann entfällt zum Beispiel unsere eine Stunde draußen im
Hausgarten“, erzählt Ella Weinberger.
Auch an therapeutischem Personal mangele es an allen Ecken und Enden: Die
Sporttherapie werde immer wieder gestrichen, Ergotherapeut*innen gebe
es auf der Station überhaupt keine. „Am Ende geht es oft nur darum,
irgendwie den Tag rumzukriegen. Kein Wunder, dass die Menschen hier
aggressiv werden“, meint sie.
Die zuständige Gesundheitssenatorin Ina Czyborra (SPD) hat bereits mehrfach
Verbesserungen versprochen. Unter anderem steigt das Budget für den
Maßregelvollzug in zwei Schritten um mehr als 20 Millionen Euro auf 89,2
Millionen Euro im Jahr 2025. Auf dem Gelände in Reinickendorf sind 12
zusätzliche Betten geschaffen und bereits belegt worden.
Außerdem wird derzeit ein ehemaliger Abschiebeknast in Lichtenrade zu einer
Außenstelle des Krankenhauses umgebaut. Hier sollen rund 50 weitere Plätze
entstehen und laut Czyborra „auf jeden Fall noch in diesem Jahr“ in Betrieb
genommen werden. Zum Jahreswechsel sind dafür auch 64 zusätzliche
Planstellen geschaffen worden.
## Dauerhaft hoher Krankenstand unter den Beschäftigten
Aber wer soll die besetzen? In den Gesundheitsberufen [2][herrscht ein
eklatanter Fachkräftemangel]. Es gebe „durchaus Erfolge bei der Gewinnung
von Personal“, beteuert Czyborra Mitte Februar im Gesundheitsausschuss. Der
Maßregelvollzug sei ein sehr herausforderndes Arbeitsgebiet, es könne aber
„interessant und erfüllend“ sein. Zudem erhielten Pflegekräfte eine Zulag…
Das sei Schönfärberei, meint Mathias Kadlubek. Der gelernte Krankenpfleger
ist Vorsitzender des Personalrats im Krankenhaus des Maßregelvollzugs. Zu
der Unterbesetzung komme ein dauerhaft hoher Krankenstand hinzu: „Der Grund
dafür ist die hohe Arbeitsbelastung“, stellt er klar.
Im Januar hatte der Personalrat deshalb einen „Brandbrief“ an
Gesundheitssenatorin Czyborra und den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner
(CDU) verfasst, den 324 Mitarbeiter*innen unterzeichneten. In dem
Schreiben, das der taz vorliegt, heißt es, die Zustände brächten viele
Beschäftigte dazu, die Klinik zu verlassen.
## „Enttäuschende Antwort“ auf Brandbrief
Vergangene Woche hat Mathias Kadlubek die, wie er sagt, „enttäuschende“
Antwort von Ina Czyborra erhalten: „Da drin steht nichts Neues.“ Der
Personalratschef betont, dass durch die zusätzlichen Betten keine
Entlastung für das Personal geschaffen werde – im Gegenteil.
Zudem sei die vermeintliche Personaloffensive des Senats völlig
unzureichend: „Pflegehelfer zum Beispiel sind von der Fachkräftezulage
ausgenommen. Auch für die anderen Berufe ist sie mit Beträgen von etwa 70
bis 110 Euro brutto viel zu niedrig.“
Auch sonst sei die Personalgewinnung nicht so einfach wie gemeinhin
angenommen. Kadlubek rechnet vor: „Das ist ein hochspezialisierter Bereich.
Neues Personal muss mindestens ein halbes Jahr eingearbeitet werden. Und
erst nach zwei Jahren sind Mitarbeiter mit allen Abläufen vertraut.“ Er
erinnert an die Ziele des Maßregelvollzugs: „Unser Auftrag ist die
Besserung! Nicht nur die Sicherung. Das geht nur mit qualifiziertem
Personal.“
## Angehörige organisieren eine Kundgebung
Die Patient*innen merken ebenfalls nichts von den versprochenen
Verbesserungen. Einige von ihnen haben sich nun mit Angehörigen und
weiteren Unterstützer*innen zusammengeschlossen, um die Missstände
öffentlich anzuprangern. Kommenden Samstag mobilisiert das Bündnis zu einer
[3][Kundgebung vor der Senatsgesundheitsverwaltung in Kreuzberg].
Eine der Organisator*innen ist Marta Weinberger (Name geändert), die
Mutter von Ella Weinberger. Sie bezeichnet den Maßregelvollzug als
„Sackgasse“ für die Patient*innen: „Ich kann nicht erkennen, wie es
irgendwem hilft, dort untergebracht zu sein.“
Auf der Demo möchte sie die Perspektive der Erkrankten in den Fokus rücken.
Anders als oft behauptet liege die Überbelegung nicht allein daran, dass
immer mehr drogen- und alkoholsüchtige Straftäter*innen eingewiesen
werden. Auch die Zahl der Personen, die wie ihre Tochter „einstweilig“ dort
untergebracht sind, steige seit Jahren. Zahlen der Gesundheitsverwaltung,
die der taz vorliegen, belegen das.
## „Es offenbart sich ein kaputtes System“
Blicke man auf die einzelnen Schicksale, offenbare sich ein kaputtes
System, kritisiert Marta Weinberger. Denn viele mutmaßliche Straftaten,
wegen derer psychisch Erkrankte vorübergehend im Maßregelvollzug landen,
werden bereits in Psychiatrien begangen. So wie im Fall ihrer Tochter, die
unter anderem wegen Körperverletzung angeklagt ist: Sie war vor rund einem
Jahr in eine Klinik zwangseingewiesen worden, sei dort mit einer Patientin
aneinandergeraten, habe sich daraufhin gegen eine Fixierung gewehrt und
dabei das Pflegepersonal angegriffen.
„So wie Ella gibt es zahlreiche Frauen mit massiven Gewalterfahrungen, die
im Zwangskontext getriggert werden und ausrasten“, sagt Marta Weinberger.
Diese Straftaten würden nicht vorkommen, wenn es keine Zwangsbehandlungen
gäbe. Mehr Plätze im Maßregelvollzug seien deshalb nicht die Lösung: „Wir
brauchen stattdessen intensive Unterstützungsangebote, sodass psychisch
Erkrankte überhaupt nicht in diese Krisensituationen kommen“, fordert sie.
Mutter und Tochter hoffen nun auf das anstehende Gerichtsverfahren. Sollte
die Richterin Ella Weinberger auf Bewährung verurteilen, könnte sie einen
Platz in einer geschlossenen Wohngruppe in Brandenburg erhalten, der ihr
bereits in Aussicht gestellt wurde. Nach mehr als einem halben Jahr der
„einstweiligen Unterbringung“ käme sie dann an einen Ort, der wohl deutlich
bessere Bedingungen für ihre Genesung bietet.
21 Feb 2024
## LINKS
[1] /Massregelvollzug-Berlin/!5950643
[2] /Fachkraeftemangel-in-der-Pflege/!5853092
[3] https://gesundheitohneprofite.noblogs.org/post/2024/02/06/kundgebung-mensch…
## AUTOREN
Hanno Fleckenstein
## TAGS
Maßregelvollzug
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