# taz.de -- Traumatherapie für Geflüchtete: Alleingelassen in der Wartehalle | |
> Viele Geflüchtete haben traumatische Erfahrungen gemacht, aber geholfen | |
> wird ihnen kaum. Für die Integration dieser Menschen ist das schlecht. | |
BERLIN taz | Ich finde es furchtbar, dass wir Menschen so unterbringen | |
müssen“, sagt Gunild Kiehn mit ernstem Blick und öffnet die Tür zu einem | |
der Wohncontainer des „Refugiums Tempelhof“ – einer riesigen, in den | |
Hangars des alten Flughafens Berlin-Tempelhof gelegenen Sammelunterkunft | |
für geflüchtete Menschen. Im klinisch weißen Licht stehen in dem gerade | |
nicht bewohnten Container zwei silbergraue Hochbetten mit blauen | |
Schaumstoffmatratzen, eine metallene Schrankwand aus vier gleichförmigen | |
Spinden, zwei Stühle und ein kleiner Tisch. Jeweils zu viert, oft beliebig | |
zusammengewürfelt – Familien ausgenommen – müssen sich die | |
Bewohner*innen der Unterkunft diese zwölf Quadratmeter Container | |
teilen. | |
Besonders für die vielen Personen, die psychisch belastet sind und unter | |
Traumafolgestörungen leiden, seien der geringe Platz und die fehlende | |
Privatsphäre schwer zu ertragen, so Kiehn. Die 58-Jährige arbeitet hier als | |
Psychologin. Die Wohnsituation der Menschen, erklärt sie, verschlimmere so | |
ein ohnehin schon gravierendes Problem, das ihr und ihren Kolleg*innen | |
alltäglich im Job begegne: die akute Mangelversorgung geflüchteter Menschen | |
mit psychosozialer Hilfe. | |
Wie groß die Versorgungslücke im Bereich der psychosozialen Hilfe für | |
geflüchtete Menschen ist, geht aus dem aktuellen [1][Versorgungsbericht der | |
Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und | |
Folteropfer (BAfF)] hervor. Die BAfF vereint als Dachverband 48 | |
Organisationen, die psychosoziale Unterstützung für geflüchtete Menschen | |
anbieten. | |
Die Angebote der Psychosozialen Zentren reichen von Traumatherapien über | |
Mentoring- und Ehrenamtsprogrammen bis hin zu traumasensiblen Sozial- und | |
Asylrechtsberatungen. Auch für Frauen, LSBTIQ* und unbegleitete | |
Minderjährige bieten manche Zentren spezielle Unterstützungsmöglichkeiten. | |
Den BAfF-Berechnungen zufolge kommen bundesweit auf 20.000 Plätze pro Jahr | |
etwa eine halbe Million Menschen mit Unterstützungsbedarfen. Pro Jahr | |
können also nur vier Prozent der Geflüchteten die Unterstützung in Anspruch | |
nehmen, die sie eigentlich bräuchten. | |
Aus der Mangelversorgung „ergeben sich enorme gesellschaftliche | |
Konsequenzen“, erläutert Gunild Kiehn. Wer unter Traumafolgestörungen | |
leide, könne kaum arbeiten, studieren, zur Schule gehen oder Deutsch | |
lernen. Vielen falle es schwer, sich Termine zu merken und ihren | |
Verpflichtungen nachzukommen. Manche würden sich selbst vernachlässigen | |
oder in destruktive Verhaltensweisen abdriften, Alkohol oder andere Drogen | |
konsumieren, um die Erinnerungen an ihre Traumata zu vermeiden. „Wie sollen | |
die Menschen so Teil unserer Gesellschaft werden?“, fragt die Psychologin. | |
Wie viele der insgesamt in Deutschland schutzsuchenden Menschen sind | |
traumatisiert? Und wie viele leiden unter Traumafolgestörungen? | |
Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass fast neun von zehn | |
Geflüchteten in der Bundesrepublik Traumatisches erlebt haben. Damit sind | |
Situationen gemeint, die etwa das Gefühl von Kontrollverlust oder | |
gewaltvolle Fremdbestimmung beinhalten – das betrifft häufig Menschen, die | |
politischer Verfolgung und Folter ausgesetzt sind oder den plötzlichen | |
Verlust von Freund*innen und Angehörigen im Krieg erlebt haben. Menschen, | |
die zur Flucht gezwungen sind. | |
Etwa 30 Prozent der in Deutschland Schutzsuchenden, so die Forschung, | |
leiden unter entsprechenden Traumafolgestörungen, also den Symptomen einer | |
posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). In anderen Worten: Etwa jede*r | |
dritte Geflüchtete kann nicht richtig schlafen, kommt nicht zur Ruhe, hat | |
Konzentrationsstörungen, Schmerzen, oder ist geplagt von realitätsnahen | |
Rückblicken in die erlebten traumatisierenden Situationen – sogenannten | |
Flashbacks. [2][Ende 2023 lebten insgesamt 3,1 Millionen geflüchtete | |
Menschen in Deutschland]. | |
Psycholog*innen wie Gunild Kiehn sind für viele psychisch belastete | |
Geflüchtete oft die Ersten, mit denen sie ihr Leid teilen. In der | |
Tempelhofer Sammelunterkunft bekommen sie von den | |
Sozialarbeiter*innen den Hinweis, dass es Kiehn und ihre zwei | |
Kolleg*innen gibt und sie werktags einen Termin mit ihnen ausmachen | |
können. „Dann müssen sie für sich entscheiden: Will ich wirklich mit einer | |
Frau sprechen, die meine Sprache nicht spricht und ganz anders lebt als | |
ich?“, sagt Kiehn mit ruhiger, freundlicher Stimme und zugewandtem Blick. | |
Gegen die Sprachbarriere helfe in der Regel ein*e Dolmetscher*in – | |
sofern eine*r telefonisch oder in Präsenz verfügbar ist, denn auch | |
Dolmetscher*innen sind rar. Dennoch sei der Schritt, zu ihr zu gehen, | |
für viele geflüchtete Menschen eine Überwindung, sagt Kiehn. Auch weil das | |
Aufsuchen einer Psycholog*in in einigen Gesellschaften ein Tabu sei. | |
Aber oft, wenn die Symptome stärker werden, bleibe den Menschen kaum eine | |
Wahl, so Kiehn. Viele würden sich dann fragen: „Warum habe ich ständig | |
Kopfschmerzen und kann nicht schlafen? Warum funktioniere ich nicht mehr so | |
wie früher? Ich habe mich verändert, erkenne mich nicht wieder. Bin ich | |
verrückt?“ | |
Wenn die Menschen sich Kiehn öffnen und ihr ihre brutalen Geschichten von | |
Kriegen, Vertreibung und Flucht erzählen, versuche sie zunächst, sie | |
aufzuklären: „Deine Symptome sind normale körperliche Reaktionen auf nicht | |
normale Ereignisse. Du bist nicht verrückt. Du kannst lernen, mit deinen | |
Erfahrungen zu leben.“ Das beruhige die Menschen zunächst einmal. Sie | |
würden sich gesehen fühlen und erkennen, dass sie mit ihren Problemen nicht | |
alleine sind. | |
Doch oft helfe ein solches entlastendes Gespräch nur kurzfristig. Dann | |
jedoch stehe Kiehn immer wieder vor einem Problem, sagt sie. Denn es gebe | |
oft keine Behandlungsplätze. Nur wenige ihrer vielen Klient*innen habe | |
sie im vergangenen Jahr an die Psychosozialen Zentren in Berlin vermitteln | |
können. Die Wartelisten seien lang. Oft dauere es mehrere Monate, bis | |
Menschen einen Platz bekämen – für Therapieplätze betrage die Wartezeit zum | |
Teil bis zu einem Jahr. Zudem gebe es aufgrund der hohen Auslastung | |
teilweise enge Auswahlkriterien in der Platzvergabe. Zum Beispiel würden | |
manche Einrichtungen eine längerfristige Bleibeperspektive in Deutschland | |
von mindestens einem Jahr voraussetzen oder im Team nach Dringlichkeit | |
entscheiden, wer Unterstützung bekommt. | |
Wenn ihr Gegenüber diesen Kriterien entspricht „und ich eine Chance auf | |
einen Platz sehe, klemme ich mich natürlich sofort dahinter und versuche, | |
etwas zu organisieren“. Meistens sei das jedoch nicht der Fall – oder eben | |
mit erheblichen Wartezeiten verbunden. Die Gesprächssituation sei dann | |
mitunter schwer auszuhalten: „Du weißt, dass der Mensch, der vor dir sitzt, | |
psychisch am Ende ist, schnell Hilfe braucht, es aber nichts gibt, dass du | |
für ihn machen kannst – außer vielleicht einer medikamentösen Behandlung in | |
der Psychiatrie.“ | |
Kiehn sagt, sie fühle sich dann fast genauso hilflos und ausgeliefert wie | |
ihr Gegenüber. Auch Kolleg*innen gehe das so. Mit etwa 30 anderen | |
Psycholog*innen aus anderen Berliner Sammelunterkünften tauscht sie | |
sich regelmäßig zu den „Systemgrenzen“ in der Versorgung psychisch | |
belasteter Geflüchteter“ aus. Das sei „eine Art Selbsthilfegruppe“, sagt | |
sie. | |
Weshalb sind die Psychosozialen Zentren so stark ausgelastet? Neben dem | |
generell hohen Bedarf liege ein Hauptgrund im Asylbewerberleistungsgesetz, | |
erklärt BAfF-Geschäftsführer Lukas Welz der taz am Telefon. Durch das | |
Gesetz ist allen geflüchteten Menschen in Deutschland, die noch auf ihren | |
Asylentscheid warten oder bereits abgelehnt wurden und lediglich geduldet | |
werden, der volle Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleistungen verwehrt. | |
Behandlungen werden nur im äußersten Notfall gestattet. Einen normalen | |
Therapieplatz bewilligt zu bekommen, sei für Asylsuchende oder geduldete | |
Menschen so nahezu unmöglich, so Welz. Für sie bliebe nur die Möglichkeit, | |
die Hilfsangebote der psychosozialen Zentren in Anspruch zu nehmen. | |
Die Ampelregierung hat [3][im gerade erst verabschiedeten | |
„Rückführungsverbesserungsgesetz“] zudem festgelegt, dass asylsuchende und | |
geduldete Geflüchtete erst nach drei statt wie bisher nach eineinhalb | |
Jahren Zugang zur medizinischen und damit auch psychotherapeutischen | |
Regelversorgung bekommen. Das sei eine Katastrophe, sagt Welz. Dass | |
Menschen nun bis zu drei Jahre aus der Regelversorgung ausgeschlossen | |
werden können, werde die bestehende Versorgungslücke in der psychosozialen | |
Hilfe nur noch vertiefen. „Und das wird das Leid der Menschen in | |
Deutschland und letztlich das Ausbleiben von Integrations- und | |
Teilhabechancen in der Zukunft massiv verschärfen.“, erklärt er. | |
Ein weiteres Problem sei der faktisch fehlende Zugang zur Regelversorgung | |
für all diejenigen Geflüchteten, deren Asylanträge bereits positiv | |
entschieden wurden, die also einen anerkannten Schutzstatus in Deutschland | |
haben. Ende Oktober 2023 waren das etwa zweieinhalb Millionen Menschen, | |
davon etwa 900.000 aus der Ukraine. Rein rechtlich sei der Zugang zur | |
normalen, gesetzlichen – also über die Krankenkassen abgedeckten – | |
medizinischen und psychologischen Unterstützung für diese Menschen zwar | |
nicht durch das Asylbewerberleistungsgesetz eingeschränkt.„In der Realität | |
ist die Regelversorgung jedoch kaum eine Option“, sagt Welz. In normalen | |
therapeutischen Einrichtungen und Kliniken fehle es oft an kontextuellem | |
Wissen aus den Herkunftsländern der Menschen. Auch mangele es häufig an | |
Erfahrungen in der Behandlung geflüchteter Menschen und einem entsprechend | |
sensiblen Umgang mit ihren individuellen Fluchtgeschichten und | |
Bedürfnissen. Und zudem sei zu selten eine Sprachmittlung, also ein*e | |
Dolmetscher*in, verfügbar. | |
Zumindest, um das Problem der unzureichend verfügbaren Sprachmittlung in | |
der Regelversorgung in den Griff zu bekommen, arbeitet die Bundesregierung | |
an einer Lösung. Im Koalitionsvertrag hat sie sich das Ziel gesetzt, eine | |
bundesweit einheitliche Lösung im Sozialgesetz festzuschreiben. Auf | |
taz-Anfrage teilte das Bundesgesundheitsministerium mit, dass die | |
Diskussionen um die konkrete Umsetzung und Finanzierung noch liefen, man | |
das Vorhaben aber schnell umsetzen wolle. | |
Für Welz sei jedoch klar, dass es einen grundsätzlichen Kurswechsel der | |
Bundesregierung im Umgang mit traumatisierten Geflüchteten brauche – um den | |
eigenen humanitären Werten gerecht zu werden, aber auch aus juristischen | |
Gründen: „Als werteorientierte Gesellschaft hat Deutschland sich rechtlich | |
zum Schutz und der Versorgung von Menschen verpflichtet, die verfolgt und | |
gefoltert wurden“, so Welz. | |
Damit bezieht er sich auf internationales Recht. Mit der Genfer | |
Flüchtlingskonvention, der Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen | |
und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist die Bundesrepublik | |
gleich auf mehreren Ebenen verpflichtet, dafür zu sorgen, dass | |
schutzsuchende Menschen, die Folter oder politische Verfolgung erlebt | |
haben, hier angemessen versorgt werden. Dass sie in Sicherheit leben | |
können. „Das schließt eine nachhaltige und systematische Versorgung | |
schwerster Traumatisierungen als Folge von Verfolgung und Flucht mit ein“, | |
mahnt Welz. | |
Um die Psychosozialen Zentren zu entlasten, brauche es also einen schnellen | |
und wirklichen Zugang zur Regelversorgung für geflüchtete Menschen. Zudem | |
sei es notwendig, so Welz, die spezialisierten Zentren zu stärken. Nicht | |
nur brauche es eine ausreichende, sondern auch eine dauerhafte | |
Finanzierung. Derzeit entscheide sich mit jedem Haushaltsbeschluss aufs | |
Neue, wie viel Geld die Zentren jährlich zur Verfügung haben, wie viel | |
Personal sie beschäftigen und wie vielen Menschen sie damit helfen können. | |
„Das ist für die Kolleg*innen sehr belastend“, erklärt er. Besonders als | |
die Ampelkoalition im Sommer des vergangenen Jahres darüber debattierte, | |
die Mittel für die Zentren um 60 Prozent zu kürzen, sei die Verunsicherung | |
groß gewesen. Viele hätten Existenzängste geplagt. Im Herbst 2023 konnte | |
ein Teil der Kürzung zunächst zurückgenommen werden. | |
## Rund um die Uhr ist es hell | |
In Berlin-Tempelhof führt Kiehn mit forschen Schritten weiter durch die | |
drei Hangars, die unzählige Deckenstrahler rund um die Uhr taghell | |
erleuchten. Hunderte weiße Wohncontainer stehen hier dicht an dicht auf | |
granitgrauem Boden. Ein Grundrauschen an unterschiedlichen Tönen aus allen | |
Himmelsrichtungen liegt in der Luft. Leises und lauteres Sprechen in | |
verschiedenen Sprachen. Kinderlachen. Und unverständliche, elektronische | |
Töne von den Walkie-Talkies der zahlreichen Sicherheitsleute, die in gelben | |
oder orangenen Warnwesten an fast jeder Ecke in kleinen Grüppchen sitzen | |
oder stehen. 60 sind es pro Tag- und Nachtschicht. | |
„Wie sollen die Menschen hier zur Ruhe kommen?“, fragt Kiehn. Viele würden | |
sehr unter der Geräuschkulisse leiden. Und besonders für Menschen, die in | |
Foltergefängnissen gesessen oder Polizeigewalt erlebt haben, könnten das | |
Ambiente im alten Flughafen und das viele Sicherheitspersonal | |
retraumatisierend wirken. | |
Fast 1.400 Menschen leben in der von der Arbeiterwohlfahrt Berlin-Mitte | |
(AWO) und dem Internationalen Bund gemeinschaftlich für das Land Berlin | |
betriebenen Unterkunft in Tempelhof. Entweder warten sie hier auf ihren | |
Asylbescheid, oder sie haben eine Ablehnung bekommen und sind von einer | |
Abschiebung bedroht. Selbst Menschen mit einer Asylanerkennung lebten noch | |
hier, weil das Land Berlin nicht ausreichend Plätze in | |
Gemeinschaftsunterkünften vorhalte. Einige seit nunmehr über 14 Monaten, so | |
Kiehn. | |
Bis zum Erstbescheid, also der ersten Entscheidung über das Asylgesuch, | |
dauert es derzeit durchschnittlich viereinhalb Monate, teilt das | |
Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf taz-Anfrage mit. | |
Viele Menschen müssen jedoch weitaus länger in Unterkünften wie den Hangars | |
ausharren. Denn während Positivbescheide nicht selten bis zu zehn Monate | |
dauern, sind Absagen oft schon innerhalb weniger Monate erteilt. Und wer | |
einen Negativbescheid erhält und dagegen klagt, müsse sich laut BAMF auf | |
eine Verfahrensdauer von bis zu eineinhalb Jahren einstellen. | |
Wie viele schutzsuchende Menschen bundesweit in alten Kasernen oder | |
Wohnblocks, Großzelten oder Containerdörfern, also in Massenunterkünften | |
wie in Tempelhof leben, ist statistisch nicht erfasst. Ein Anhaltspunkt ist | |
jedoch die Anzahl der Empfänger*innen von Leistungen nach dem | |
Asylbewerberleistungsgesetz. Ende 2022 waren das 482.300 Menschen. | |
Eine aktuellere Zahl hat das Statistische Bundesamt noch nicht | |
veröffentlicht. Allerdings dürfte sie leicht gestiegen sein. Zwar wurden in | |
2023 etwas mehr als die Hälfte aller Asylanträge bewilligt, jedoch lag auch | |
die Zuwanderungszahl höher als in den Vorjahren. Und etwa ein Drittel | |
derer, deren Asylantrag abgelehnt wurde, hat gegen den Negativbescheid | |
geklagt. Hinzu kommen weitere Hunderttausende, deren Asylanträge angenommen | |
wurden und die in den Gemeinschaftsunterkünften der Kommunen leben. | |
Kiehn stoppt an der Kantine von Hangar 2. Dort sitzen gerade zwei Menschen | |
an einer Bierzeltgarnitur und schauen auf ihre Handys. Einer trägt eine | |
Kapuze. Zu den Essenszeiten, also morgens, mittags und abends, sei der | |
große Raum, eine alte Werkzeughalle mit Gittern vor den Fenstern, gut | |
gefüllt, erklärt Kiehn. Lange Schlangen bildeten sich dann davor. | |
Alle geflüchteten Menschen hier bekommen Vollverpflegung. Das ist der Deal | |
für Asylsuchende in Sammelunterkünften. Bargeld gibt es monatlich je nach | |
Land bis zu 182 Euro, in bayrischen Ankerzentren gar nur 102 Euro. Bald | |
soll dieses Guthaben zudem nur noch digital per Bezahlkarte zur Verfügung | |
stehen, [4][so haben es die Ministerpräsident*innen der Länder mit | |
Kanzler Olaf Scholz (SPD) im vergangenen Herbst vereinbart]. Auch der Gang | |
zum Imbiss, wo Döner und Co. oft nur bar verkauft werden, dürfte dann für | |
viele als selbstbestimmte Alternative zum Unterkunftsessen ausfallen. | |
Einige Länder, darunter Bayern, wollen die Karte außerdem für den Kauf von | |
Zigaretten und Alkohol sperren. | |
Das psychisch Belastende sei neben der täglich im Speiseplan | |
wiederkehrenden Erfahrung der Fremdbestimmung aber vor allem auch, nicht | |
selbst kochen zu können, erklärt Kiehn. „So banal es klingt: Für viele ist | |
das besonders schlimm. Das zu kochen, was man mag, so viel man mag, das hat | |
für alle eine große Bedeutung. Es ist Teil der kulturellen Identität.“ | |
Einer, dem die Unterbringung im Tempelhofer Containerdorf sehr zu schaffen | |
macht, ist Emin Sediyev. Er ist 44 Jahre alt und heißt eigentlich anders. | |
Aus Angst vor Repressionen möchte er seinen echten Namen nicht in der | |
Zeitung lesen. Sediyev ist aus seiner Heimat Tschetschenien geflohen, weil | |
es dort zu gefährlich für ihn gewesen sei, sagt er. „Dort gelten keine | |
Menschenrechte.“ | |
Er habe sich politisch für die Unabhängigkeit des Landes eingesetzt und sei | |
so ins Visier des tschetschenischen Regimes geraten. Eines Nachts hätten | |
dann bewaffnete und vermummte Polizisten sein Haus gestürmt, ihn | |
verschleppt, brutal zusammengeschlagen und schließlich schwer verletzt an | |
der Straße aus dem Auto geworfen, erklärt er. „Sie wollten, dass ich | |
sterbe.“ | |
## „Wir haben keine Privatsphäre“ | |
Jetzt „in dieser Flugzeuggarage zu leben“ bedrücke ihn sehr, sagt er. Er | |
beugt sich nach vorn, stellt die Ellenbogen auf die Knie, hält seine großen | |
und doch feinen Hände fest zusammen und redet mit ernstem Blick: „Wir haben | |
keine Privatsphäre. Es gibt kaum Platz.“ Und weil die kleinen Wohncontainer | |
in den großen Hangars stehen, gebe es weder frische Luft noch Sonnenlicht. | |
Und auch die Ausübung seines muslimischen Glaubens falle ihm in der | |
Unterkunft schwer. „Ich bete fünf Mal am Tag. Dazu gehören jeweils rituelle | |
Waschungen der Hände und Füße.“ Gerade die Waschungen seien in der | |
Unterkunft in Tempelhof allerdings kaum möglich. „Die Duschen sind im | |
Kalten. In unserem Hangar gibt es kaum warmes Wasser. Das ist eine | |
Zumutung.“ | |
Schlafen könne er zudem auch nicht viel. „Nicht in der Nacht und nicht am | |
Tag.“ Es sei schwer, in den Hangars Ruhe zu finden. Hinzu kämen die Sorgen, | |
er könnte abgeschoben werden. Und auch die Misshandlungen, die er in seiner | |
Heimat habe erleben müssen, holten ihn immer wieder ein. | |
Halt gebe ihm gerade nur zweierlei. Sein 20-jähriger Sohn, der auch in | |
Berlin lebt – und die Sozialberatung von Xenion, einem Psychosozialen | |
Zentrum in Berlin Steglitz, das auch Teil der BAfF ist. Die Büros des | |
Vereins seien einer der wenigen Orte, an denen er sich sicher fühle, sagt | |
Sediyev. Er gehe dorthin, wenn er nicht mehr weiterwisse. Und zur | |
Kiezkantine in Kreuzberg, einer Art regelmäßigem offenem Kochevent für | |
alle, die Lust haben – egal ob Deutsche, Afghan*innen oder | |
Tschetschen*innen. Bereits seit November 2022 ist Sediyev hier immer wieder | |
ein regelmäßiger Besucher. Xenion sei ein Glücksfall für ihn. „Hier finde | |
ich Seelenruhe“, sagt er. | |
Um Menschen zu helfen, die sie nicht an Orte wie Xenion vermitteln kann, | |
blieben ihr nur wenige Möglichkeiten, sagt Gunild Kiehn. Manchen könne sie | |
einen Termin bei einem Psychiater organisieren, der sie dann medikamentös | |
einstellt. Das sei zumindest eine Zwischenlösung für akute PTBS-Symptome. | |
Für andere könne sie eine Stellungnahme schreiben, die vielleicht in der | |
Asylprüfung berücksichtigt werde. Diese sei allerdings, wie auch die | |
Gutachten von psychologischen Psychotherapeut*innen, nicht rechtlich | |
bindend. | |
Wenn die geflüchteten Menschen dennoch eine Abschiebung erhielten, versucht | |
Kiehn, sie auf das vorzubereiten, was vor ihnen liegt. Manche hätten große | |
Angst und brächen zusammen bei dem Gedanken, zurück in die Heimat zu | |
müssen, aus der sie geflüchtet sind. Sie gelte es dann zu stabilisieren, so | |
Kiehn. „Ich frage dann: Wie kannst du dich auf deine Rückkehr vorbereiten? | |
Was machst du, wenn du dort ankommst? Hast du wen, zu dem du gehen kannst? | |
Was hast du in der letzten Zeit gelernt, das dir dort helfen könnte?“ | |
Solche Gespräche seien jedoch sehr belastend. „Ich kenne die individuelle | |
Situation der Menschen. Ihre Fluchtgeschichte und ihre psychische und | |
physische Verfassung“, sagt sie. Mit der Zeit habe sie aber gelernt, | |
professionell damit umzugehen. „Das ist auch wichtig für die eigene | |
Psychohygiene. Gerade in diesem Umfeld hier muss man darauf achten.“ | |
Auch den Menschen, die noch auf ihren Asylbescheid oder auf ihre Anhörung | |
warten, rate sie, auf sich zu achten. Besonders jenen, denen sie nicht | |
anders helfen könne als mit einem Gespräch. Und auch in diesen Fällen | |
versuche sie, die Menschen darin zu unterstützen, sich selbst zu | |
stabilisieren: „Was kannst du tun, damit es dir ein kleines bisschen besser | |
geht? Woran kannst du denken, an deine Mutter, an Freunde? Was macht dir | |
Freude, dass auch hier möglich ist?“ Oft findet sich irgendetwas. Manchmal | |
nicht. Dann gehe es darum, sagt Kiehn, die unaushaltbare Situation | |
gemeinsam auszuhalten. | |
6 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.baff-zentren.org/wp-content/uploads/2023/06/BAfF_Versorgungsber… | |
[2] https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/zahl-der-fluechtl… | |
[3] /Gesetzesvorhaben-im-Bundestag/!5983182 | |
[4] /Bund-Laender-Treffen-zu-Asylpolitik/!5968502 | |
## AUTOREN | |
Tobias Bachmann | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Flucht | |
Migration | |
Notunterkunft Tempelhof | |
Psychotherapie | |
GNS | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Zwei Jahre Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Flucht | |
Flüchtlingspolitik | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bezahlkarte für Geflüchtete in Thüringen: Ohne Cash in der Bargeldrepublik | |
Der Bundestag befasst sich diese Woche mit der Bezahlkarte für | |
Asylsuchende. Eine CDU-Landrätin hat sie im Landkreis Greiz bereits | |
eingeführt. Wie läuft das? | |
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Besuch unter Beschuss | |
In Odessa hörten Präsident Selenskyj und der griechische Ministerpräsident | |
Mitsotakis Explosionen. Das Auswärtige Amt verschärft die Reisewarnung für | |
Russland. | |
Bund-Länder-Gipfel zu Flüchtlingspolitik: Plötzlich Harmonie beim Thema Asyl | |
Beim Bund-Länder-Gipfel zur Migrationspolitik zeigen sich Kanzler und | |
Länder überraschend einig. NGO und die Linke aber üben deutliche Kritik. | |
Zwei Jahre Ukrainekrieg: Zwischen zwei Welten | |
Für die Flüchtlinge aus der Ukraine ist das Ankommen in Berlin nicht | |
leicht. Keine Wohnungen, überbordende Bürokratie – und der andauernde | |
Krieg. | |
Verbandsvertreterin zu Migrationspolitik: „Das stärkt den rechten Diskurs“ | |
Nützlichkeit dürfe nicht das Kriterium für Einbürgerungen sein, sagt Deniz | |
Greschner vom Paritätischen. Auch schärfere Abschieberegeln kritisiert sie. | |
Unterbringung von Geflüchteten in Berlin: Beengte Verhältnisse | |
Die Bedingungen sind nicht ideal, aber besser als ein Feldbett: Im | |
Flughafen Tempelhof ist eine neue Großunterkunft für Geflüchtete eröffnet | |
worden. |