Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Traumatherapie für Geflüchtete: Alleingelassen in der Wartehalle
> Viele Geflüchtete haben traumatische Erfahrungen gemacht, aber geholfen
> wird ihnen kaum. Für die Integration dieser Menschen ist das schlecht.
Berlin taz | Ich finde es furchtbar, dass wir Menschen so unterbringen
müssen“, sagt Gunild Kiehn mit ernstem Blick und öffnet die Tür zu einem
der Wohncontainer des „Refugiums Tempelhof“ – einer riesigen, in den
Hangars des alten Flughafens Berlin-Tempelhof gelegenen Sammelunterkunft
für geflüchtete Menschen. Im klinisch weißen Licht stehen in dem gerade
nicht bewohnten Container zwei silbergraue Hochbetten mit blauen
Schaumstoffmatratzen, eine metallene Schrankwand aus vier gleichförmigen
Spinden, zwei Stühle und ein kleiner Tisch. Jeweils zu viert, oft beliebig
zusammengewürfelt – Familien ausgenommen – müssen sich die
Bewohner*innen der Unterkunft diese zwölf Quadratmeter Container
teilen.
Besonders für die vielen Personen, die psychisch belastet sind und unter
Traumafolgestörungen leiden, seien der geringe Platz und die fehlende
Privatsphäre schwer zu ertragen, so Kiehn. Die 58-Jährige arbeitet hier als
Psychologin. Die Wohnsituation der Menschen, erklärt sie, verschlimmere so
ein ohnehin schon gravierendes Problem, das ihr und ihren Kolleg*innen
alltäglich im Job begegne: die akute Mangelversorgung geflüchteter Menschen
mit psychosozialer Hilfe.
Wie groß die Versorgungslücke im Bereich der psychosozialen Hilfe für
geflüchtete Menschen ist, geht aus dem aktuellen [1][Versorgungsbericht der
Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und
Folteropfer (BAfF)] hervor. Die BAfF vereint als Dachverband 48
Organisationen, die psychosoziale Unterstützung für geflüchtete Menschen
anbieten.
Die Angebote der Psychosozialen Zentren reichen von Traumatherapien über
Mentoring- und Ehrenamtsprogrammen bis hin zu traumasensiblen Sozial- und
Asylrechtsberatungen. Auch für Frauen, LSBTIQ* und unbegleitete
Minderjährige bieten manche Zentren spezielle Unterstützungsmöglichkeiten.
Den BAfF-Berechnungen zufolge kommen bundesweit auf 20.000 Plätze pro Jahr
etwa eine halbe Million Menschen mit Unterstützungsbedarfen. Pro Jahr
können also nur vier Prozent der Geflüchteten die Unterstützung in Anspruch
nehmen, die sie eigentlich bräuchten.
Aus der Mangelversorgung „ergeben sich enorme gesellschaftliche
Konsequenzen“, erläutert Gunild Kiehn. Wer unter Traumafolgestörungen
leide, könne kaum arbeiten, studieren, zur Schule gehen oder Deutsch
lernen. Vielen falle es schwer, sich Termine zu merken und ihren
Verpflichtungen nachzukommen. Manche würden sich selbst vernachlässigen
oder in destruktive Verhaltensweisen abdriften, Alkohol oder andere Drogen
konsumieren, um die Erinnerungen an ihre Traumata zu vermeiden. „Wie sollen
die Menschen so Teil unserer Gesellschaft werden?“, fragt die Psychologin.
Wie viele der insgesamt in Deutschland schutzsuchenden Menschen sind
traumatisiert? Und wie viele leiden unter Traumafolgestörungen?
Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass fast neun von zehn
Geflüchteten in der Bundesrepublik Traumatisches erlebt haben. Damit sind
Situationen gemeint, die etwa das Gefühl von Kontrollverlust oder
gewaltvolle Fremdbestimmung beinhalten – das betrifft häufig Menschen, die
politischer Verfolgung und Folter ausgesetzt sind oder den plötzlichen
Verlust von Freund*innen und Angehörigen im Krieg erlebt haben. Menschen,
die zur Flucht gezwungen sind.
Etwa 30 Prozent der in Deutschland Schutzsuchenden, so die Forschung,
leiden unter entsprechenden Traumafolgestörungen, also den Symptomen einer
posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). In anderen Worten: Etwa jede*r
dritte Geflüchtete kann nicht richtig schlafen, kommt nicht zur Ruhe, hat
Konzentrationsstörungen, Schmerzen, oder ist geplagt von realitätsnahen
Rückblicken in die erlebten traumatisierenden Situationen – sogenannten
Flashbacks. [2][Ende 2023 lebten insgesamt 3,1 Millionen geflüchtete
Menschen in Deutschland].
Psycholog*innen wie Gunild Kiehn sind für viele psychisch belastete
Geflüchtete oft die Ersten, mit denen sie ihr Leid teilen. In der
Tempelhofer Sammelunterkunft bekommen sie von den
Sozialarbeiter*innen den Hinweis, dass es Kiehn und ihre zwei
Kolleg*innen gibt und sie werktags einen Termin mit ihnen ausmachen
können. „Dann müssen sie für sich entscheiden: Will ich wirklich mit einer
Frau sprechen, die meine Sprache nicht spricht und ganz anders lebt als
ich?“, sagt Kiehn mit ruhiger, freundlicher Stimme und zugewandtem Blick.
Gegen die Sprachbarriere helfe in der Regel ein*e Dolmetscher*in –
sofern eine*r telefonisch oder in Präsenz verfügbar ist, denn auch
Dolmetscher*innen sind rar. Dennoch sei der Schritt, zu ihr zu gehen,
für viele geflüchtete Menschen eine Überwindung, sagt Kiehn. Auch weil das
Aufsuchen einer Psycholog*in in einigen Gesellschaften ein Tabu sei.
Aber oft, wenn die Symptome stärker werden, bleibe den Menschen kaum eine
Wahl, so Kiehn. Viele würden sich dann fragen: „Warum habe ich ständig
Kopfschmerzen und kann nicht schlafen? Warum funktioniere ich nicht mehr so
wie früher? Ich habe mich verändert, erkenne mich nicht wieder. Bin ich
verrückt?“
Wenn die Menschen sich Kiehn öffnen und ihr ihre brutalen Geschichten von
Kriegen, Vertreibung und Flucht erzählen, versuche sie zunächst, sie
aufzuklären: „Deine Symptome sind normale körperliche Reaktionen auf nicht
normale Ereignisse. Du bist nicht verrückt. Du kannst lernen, mit deinen
Erfahrungen zu leben.“ Das beruhige die Menschen zunächst einmal. Sie
würden sich gesehen fühlen und erkennen, dass sie mit ihren Problemen nicht
alleine sind.
Doch oft helfe ein solches entlastendes Gespräch nur kurzfristig. Dann
jedoch stehe Kiehn immer wieder vor einem Problem, sagt sie. Denn es gebe
oft keine Behandlungsplätze. Nur wenige ihrer vielen Klient*innen habe
sie im vergangenen Jahr an die Psychosozialen Zentren in Berlin vermitteln
können. Die Wartelisten seien lang. Oft dauere es mehrere Monate, bis
Menschen einen Platz bekämen – für Therapieplätze betrage die Wartezeit zum
Teil bis zu einem Jahr. Zudem gebe es aufgrund der hohen Auslastung
teilweise enge Auswahlkriterien in der Platzvergabe. Zum Beispiel würden
manche Einrichtungen eine längerfristige Bleibeperspektive in Deutschland
von mindestens einem Jahr voraussetzen oder im Team nach Dringlichkeit
entscheiden, wer Unterstützung bekommt.
Wenn ihr Gegenüber diesen Kriterien entspricht „und ich eine Chance auf
einen Platz sehe, klemme ich mich natürlich sofort dahinter und versuche,
etwas zu organisieren“. Meistens sei das jedoch nicht der Fall – oder eben
mit erheblichen Wartezeiten verbunden. Die Gesprächssituation sei dann
mitunter schwer auszuhalten: „Du weißt, dass der Mensch, der vor dir sitzt,
psychisch am Ende ist, schnell Hilfe braucht, es aber nichts gibt, dass du
für ihn machen kannst – außer vielleicht einer medikamentösen Behandlung in
der Psychiatrie.“
Kiehn sagt, sie fühle sich dann fast genauso hilflos und ausgeliefert wie
ihr Gegenüber. Auch Kolleg*innen gehe das so. Mit etwa 30 anderen
Psycholog*innen aus anderen Berliner Sammelunterkünften tauscht sie
sich regelmäßig zu den „Systemgrenzen“ in der Versorgung psychisch
belasteter Geflüchteter“ aus. Das sei „eine Art Selbsthilfegruppe“, sagt
sie.
Weshalb sind die Psychosozialen Zentren so stark ausgelastet? Neben dem
generell hohen Bedarf liege ein Hauptgrund im Asylbewerberleistungsgesetz,
erklärt BAfF-Geschäftsführer Lukas Welz der taz am Telefon. Durch das
Gesetz ist allen geflüchteten Menschen in Deutschland, die noch auf ihren
Asylentscheid warten oder bereits abgelehnt wurden und lediglich geduldet
werden, der volle Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleistungen verwehrt.
Behandlungen werden nur im äußersten Notfall gestattet. Einen normalen
Therapieplatz bewilligt zu bekommen, sei für Asylsuchende oder geduldete
Menschen so nahezu unmöglich, so Welz. Für sie bliebe nur die Möglichkeit,
die Hilfsangebote der psychosozialen Zentren in Anspruch zu nehmen.
Die Ampelregierung hat [3][im gerade erst verabschiedeten
„Rückführungsverbesserungsgesetz“] zudem festgelegt, dass asylsuchende und
geduldete Geflüchtete erst nach drei statt wie bisher nach eineinhalb
Jahren Zugang zur medizinischen und damit auch psychotherapeutischen
Regelversorgung bekommen. Das sei eine Katastrophe, sagt Welz. Dass
Menschen nun bis zu drei Jahre aus der Regelversorgung ausgeschlossen
werden können, werde die bestehende Versorgungslücke in der psychosozialen
Hilfe nur noch vertiefen. „Und das wird das Leid der Menschen in
Deutschland und letztlich das Ausbleiben von Integrations- und
Teilhabechancen in der Zukunft massiv verschärfen.“, erklärt er.
Ein weiteres Problem sei der faktisch fehlende Zugang zur Regelversorgung
für all diejenigen Geflüchteten, deren Asylanträge bereits positiv
entschieden wurden, die also einen anerkannten Schutzstatus in Deutschland
haben. Ende Oktober 2023 waren das etwa zweieinhalb Millionen Menschen,
davon etwa 900.000 aus der Ukraine. Rein rechtlich sei der Zugang zur
normalen, gesetzlichen – also über die Krankenkassen abgedeckten –
medizinischen und psychologischen Unterstützung für diese Menschen zwar
nicht durch das Asylbewerberleistungsgesetz eingeschränkt.„In der Realität
ist die Regelversorgung jedoch kaum eine Option“, sagt Welz. In normalen
therapeutischen Einrichtungen und Kliniken fehle es oft an kontextuellem
Wissen aus den Herkunftsländern der Menschen. Auch mangele es häufig an
Erfahrungen in der Behandlung geflüchteter Menschen und einem entsprechend
sensiblen Umgang mit ihren individuellen Fluchtgeschichten und
Bedürfnissen. Und zudem sei zu selten eine Sprachmittlung, also ein*e
Dolmetscher*in, verfügbar.
Zumindest, um das Problem der unzureichend verfügbaren Sprachmittlung in
der Regelversorgung in den Griff zu bekommen, arbeitet die Bundesregierung
an einer Lösung. Im Koalitionsvertrag hat sie sich das Ziel gesetzt, eine
bundesweit einheitliche Lösung im Sozialgesetz festzuschreiben. Auf
taz-Anfrage teilte das Bundesgesundheitsministerium mit, dass die
Diskussionen um die konkrete Umsetzung und Finanzierung noch liefen, man
das Vorhaben aber schnell umsetzen wolle.
Für Welz sei jedoch klar, dass es einen grundsätzlichen Kurswechsel der
Bundesregierung im Umgang mit traumatisierten Geflüchteten brauche – um den
eigenen humanitären Werten gerecht zu werden, aber auch aus juristischen
Gründen: „Als werteorientierte Gesellschaft hat Deutschland sich rechtlich
zum Schutz und der Versorgung von Menschen verpflichtet, die verfolgt und
gefoltert wurden“, so Welz.
Damit bezieht er sich auf internationales Recht. Mit der Genfer
Flüchtlingskonvention, der Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen
und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist die Bundesrepublik
gleich auf mehreren Ebenen verpflichtet, dafür zu sorgen, dass
schutzsuchende Menschen, die Folter oder politische Verfolgung erlebt
haben, hier angemessen versorgt werden. Dass sie in Sicherheit leben
können. „Das schließt eine nachhaltige und systematische Versorgung
schwerster Traumatisierungen als Folge von Verfolgung und Flucht mit ein“,
mahnt Welz.
Um die Psychosozialen Zentren zu entlasten, brauche es also einen schnellen
und wirklichen Zugang zur Regelversorgung für geflüchtete Menschen. Zudem
sei es notwendig, so Welz, die spezialisierten Zentren zu stärken. Nicht
nur brauche es eine ausreichende, sondern auch eine dauerhafte
Finanzierung. Derzeit entscheide sich mit jedem Haushaltsbeschluss aufs
Neue, wie viel Geld die Zentren jährlich zur Verfügung haben, wie viel
Personal sie beschäftigen und wie vielen Menschen sie damit helfen können.
„Das ist für die Kolleg*innen sehr belastend“, erklärt er. Besonders als
die Ampelkoalition im Sommer des vergangenen Jahres darüber debattierte,
die Mittel für die Zentren um 60 Prozent zu kürzen, sei die Verunsicherung
groß gewesen. Viele hätten Existenzängste geplagt. Im Herbst 2023 konnte
ein Teil der Kürzung zunächst zurückgenommen werden.
## Rund um die Uhr ist es hell
In Berlin-Tempelhof führt Kiehn mit forschen Schritten weiter durch die
drei Hangars, die unzählige Deckenstrahler rund um die Uhr taghell
erleuchten. Hunderte weiße Wohncontainer stehen hier dicht an dicht auf
granitgrauem Boden. Ein Grundrauschen an unterschiedlichen Tönen aus allen
Himmelsrichtungen liegt in der Luft. Leises und lauteres Sprechen in
verschiedenen Sprachen. Kinderlachen. Und unverständliche, elektronische
Töne von den Walkie-Talkies der zahlreichen Sicherheitsleute, die in gelben
oder orangenen Warnwesten an fast jeder Ecke in kleinen Grüppchen sitzen
oder stehen. 60 sind es pro Tag- und Nachtschicht.
„Wie sollen die Menschen hier zur Ruhe kommen?“, fragt Kiehn. Viele würden
sehr unter der Geräuschkulisse leiden. Und besonders für Menschen, die in
Foltergefängnissen gesessen oder Polizeigewalt erlebt haben, könnten das
Ambiente im alten Flughafen und das viele Sicherheitspersonal
retraumatisierend wirken.
Fast 1.400 Menschen leben in der von der Arbeiterwohlfahrt Berlin-Mitte
(AWO) und dem Internationalen Bund gemeinschaftlich für das Land Berlin
betriebenen Unterkunft in Tempelhof. Entweder warten sie hier auf ihren
Asylbescheid, oder sie haben eine Ablehnung bekommen und sind von einer
Abschiebung bedroht. Selbst Menschen mit einer Asylanerkennung lebten noch
hier, weil das Land Berlin nicht ausreichend Plätze in
Gemeinschaftsunterkünften vorhalte. Einige seit nunmehr über 14 Monaten, so
Kiehn.
Bis zum Erstbescheid, also der ersten Entscheidung über das Asylgesuch,
dauert es derzeit durchschnittlich viereinhalb Monate, teilt das
Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf taz-Anfrage mit.
Viele Menschen müssen jedoch weitaus länger in Unterkünften wie den Hangars
ausharren. Denn während Positivbescheide nicht selten bis zu zehn Monate
dauern, sind Absagen oft schon innerhalb weniger Monate erteilt. Und wer
einen Negativbescheid erhält und dagegen klagt, müsse sich laut BAMF auf
eine Verfahrensdauer von bis zu eineinhalb Jahren einstellen.
Wie viele schutzsuchende Menschen bundesweit in alten Kasernen oder
Wohnblocks, Großzelten oder Containerdörfern, also in Massenunterkünften
wie in Tempelhof leben, ist statistisch nicht erfasst. Ein Anhaltspunkt ist
jedoch die Anzahl der Empfänger*innen von Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz. Ende 2022 waren das 482.300 Menschen.
Eine aktuellere Zahl hat das Statistische Bundesamt noch nicht
veröffentlicht. Allerdings dürfte sie leicht gestiegen sein. Zwar wurden in
2023 etwas mehr als die Hälfte aller Asylanträge bewilligt, jedoch lag auch
die Zuwanderungszahl höher als in den Vorjahren. Und etwa ein Drittel
derer, deren Asylantrag abgelehnt wurde, hat gegen den Negativbescheid
geklagt. Hinzu kommen weitere Hunderttausende, deren Asylanträge angenommen
wurden und die in den Gemeinschaftsunterkünften der Kommunen leben.
Kiehn stoppt an der Kantine von Hangar 2. Dort sitzen gerade zwei Menschen
an einer Bierzeltgarnitur und schauen auf ihre Handys. Einer trägt eine
Kapuze. Zu den Essenszeiten, also morgens, mittags und abends, sei der
große Raum, eine alte Werkzeughalle mit Gittern vor den Fenstern, gut
gefüllt, erklärt Kiehn. Lange Schlangen bildeten sich dann davor.
Alle geflüchteten Menschen hier bekommen Vollverpflegung. Das ist der Deal
für Asylsuchende in Sammelunterkünften. Bargeld gibt es monatlich je nach
Land bis zu 182 Euro, in bayrischen Ankerzentren gar nur 102 Euro. Bald
soll dieses Guthaben zudem nur noch digital per Bezahlkarte zur Verfügung
stehen, [4][so haben es die Ministerpräsident*innen der Länder mit
Kanzler Olaf Scholz (SPD) im vergangenen Herbst vereinbart]. Auch der Gang
zum Imbiss, wo Döner und Co. oft nur bar verkauft werden, dürfte dann für
viele als selbstbestimmte Alternative zum Unterkunftsessen ausfallen.
Einige Länder, darunter Bayern, wollen die Karte außerdem für den Kauf von
Zigaretten und Alkohol sperren.
Das psychisch Belastende sei neben der täglich im Speiseplan
wiederkehrenden Erfahrung der Fremdbestimmung aber vor allem auch, nicht
selbst kochen zu können, erklärt Kiehn. „So banal es klingt: Für viele ist
das besonders schlimm. Das zu kochen, was man mag, so viel man mag, das hat
für alle eine große Bedeutung. Es ist Teil der kulturellen Identität.“
Einer, dem die Unterbringung im Tempelhofer Containerdorf sehr zu schaffen
macht, ist Emin Sediyev. Er ist 44 Jahre alt und heißt eigentlich anders.
Aus Angst vor Repressionen möchte er seinen echten Namen nicht in der
Zeitung lesen. Sediyev ist aus seiner Heimat Tschetschenien geflohen, weil
es dort zu gefährlich für ihn gewesen sei, sagt er. „Dort gelten keine
Menschenrechte.“
Er habe sich politisch für die Unabhängigkeit des Landes eingesetzt und sei
so ins Visier des tschetschenischen Regimes geraten. Eines Nachts hätten
dann bewaffnete und vermummte Polizisten sein Haus gestürmt, ihn
verschleppt, brutal zusammengeschlagen und schließlich schwer verletzt an
der Straße aus dem Auto geworfen, erklärt er. „Sie wollten, dass ich
sterbe.“
## „Wir haben keine Privatsphäre“
Jetzt „in dieser Flugzeuggarage zu leben“ bedrücke ihn sehr, sagt er. Er
beugt sich nach vorn, stellt die Ellenbogen auf die Knie, hält seine großen
und doch feinen Hände fest zusammen und redet mit ernstem Blick: „Wir haben
keine Privatsphäre. Es gibt kaum Platz.“ Und weil die kleinen Wohncontainer
in den großen Hangars stehen, gebe es weder frische Luft noch Sonnenlicht.
Und auch die Ausübung seines muslimischen Glaubens falle ihm in der
Unterkunft schwer. „Ich bete fünf Mal am Tag. Dazu gehören jeweils rituelle
Waschungen der Hände und Füße.“ Gerade die Waschungen seien in der
Unterkunft in Tempelhof allerdings kaum möglich. „Die Duschen sind im
Kalten. In unserem Hangar gibt es kaum warmes Wasser. Das ist eine
Zumutung.“
Schlafen könne er zudem auch nicht viel. „Nicht in der Nacht und nicht am
Tag.“ Es sei schwer, in den Hangars Ruhe zu finden. Hinzu kämen die Sorgen,
er könnte abgeschoben werden. Und auch die Misshandlungen, die er in seiner
Heimat habe erleben müssen, holten ihn immer wieder ein.
Halt gebe ihm gerade nur zweierlei. Sein 20-jähriger Sohn, der auch in
Berlin lebt – und die Sozialberatung von Xenion, einem Psychosozialen
Zentrum in Berlin Steglitz, das auch Teil der BAfF ist. Die Büros des
Vereins seien einer der wenigen Orte, an denen er sich sicher fühle, sagt
Sediyev. Er gehe dorthin, wenn er nicht mehr weiterwisse. Und zur
Kiezkantine in Kreuzberg, einer Art regelmäßigem offenem Kochevent für
alle, die Lust haben – egal ob Deutsche, Afghan*innen oder
Tschetschen*innen. Bereits seit November 2022 ist Sediyev hier immer wieder
ein regelmäßiger Besucher. Xenion sei ein Glücksfall für ihn. „Hier finde
ich Seelenruhe“, sagt er.
Um Menschen zu helfen, die sie nicht an Orte wie Xenion vermitteln kann,
blieben ihr nur wenige Möglichkeiten, sagt Gunild Kiehn. Manchen könne sie
einen Termin bei einem Psychiater organisieren, der sie dann medikamentös
einstellt. Das sei zumindest eine Zwischenlösung für akute PTBS-Symptome.
Für andere könne sie eine Stellungnahme schreiben, die vielleicht in der
Asylprüfung berücksichtigt werde. Diese sei allerdings, wie auch die
Gutachten von psychologischen Psychotherapeut*innen, nicht rechtlich
bindend.
Wenn die geflüchteten Menschen dennoch eine Abschiebung erhielten, versucht
Kiehn, sie auf das vorzubereiten, was vor ihnen liegt. Manche hätten große
Angst und brächen zusammen bei dem Gedanken, zurück in die Heimat zu
müssen, aus der sie geflüchtet sind. Sie gelte es dann zu stabilisieren, so
Kiehn. „Ich frage dann: Wie kannst du dich auf deine Rückkehr vorbereiten?
Was machst du, wenn du dort ankommst? Hast du wen, zu dem du gehen kannst?
Was hast du in der letzten Zeit gelernt, das dir dort helfen könnte?“
Solche Gespräche seien jedoch sehr belastend. „Ich kenne die individuelle
Situation der Menschen. Ihre Fluchtgeschichte und ihre psychische und
physische Verfassung“, sagt sie. Mit der Zeit habe sie aber gelernt,
professionell damit umzugehen. „Das ist auch wichtig für die eigene
Psychohygiene. Gerade in diesem Umfeld hier muss man darauf achten.“
Auch den Menschen, die noch auf ihren Asylbescheid oder auf ihre Anhörung
warten, rate sie, auf sich zu achten. Besonders jenen, denen sie nicht
anders helfen könne als mit einem Gespräch. Und auch in diesen Fällen
versuche sie, die Menschen darin zu unterstützen, sich selbst zu
stabilisieren: „Was kannst du tun, damit es dir ein kleines bisschen besser
geht? Woran kannst du denken, an deine Mutter, an Freunde? Was macht dir
Freude, dass auch hier möglich ist?“ Oft findet sich irgendetwas. Manchmal
nicht. Dann gehe es darum, sagt Kiehn, die unaushaltbare Situation
gemeinsam auszuhalten.
6 Mar 2024
## LINKS
[1] https://www.baff-zentren.org/wp-content/uploads/2023/06/BAfF_Versorgungsber…
[2] https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/zahl-der-fluechtl…
[3] /Gesetzesvorhaben-im-Bundestag/!5983182
[4] /Bund-Laender-Treffen-zu-Asylpolitik/!5968502
## AUTOREN
Tobias Bachmann
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Migration
Notunterkunft Tempelhof
Psychotherapie
GNS
Schwerpunkt Flucht
Flüchtlinge
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Zwei Jahre Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Flucht
Flüchtlingspolitik
## ARTIKEL ZUM THEMA
AfD-Anfrage zu Geflüchteten-Hilfe: Diskreditierung mit Methode
Die Berliner AfD versucht, die Arbeit von psychosozialen Zentren mit
Geflüchteten schlechtzureden. Die betroffenen Organisationen wehren sich.
Traumareferent*in zu Aschaffenburg: „Viele Menschen werden erst in Deutschlan…
Psychisch kranke Geflüchtete seien unzureichend versorgt, sagt Leo Teigler
vom Dachverband der Psychosozialen Zentren. Und es werde weiter gespart.
Bezahlkarte für Geflüchtete in Thüringen: Ohne Cash in der Bargeldrepublik
Der Bundestag befasst sich diese Woche mit der Bezahlkarte für
Asylsuchende. Eine CDU-Landrätin hat sie im Landkreis Greiz bereits
eingeführt. Wie läuft das?
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Besuch unter Beschuss
In Odessa hörten Präsident Selenskyj und der griechische Ministerpräsident
Mitsotakis Explosionen. Das Auswärtige Amt verschärft die Reisewarnung für
Russland.
Bund-Länder-Gipfel zu Flüchtlingspolitik: Plötzlich Harmonie beim Thema Asyl
Beim Bund-Länder-Gipfel zur Migrationspolitik zeigen sich Kanzler und
Länder überraschend einig. NGO und die Linke aber üben deutliche Kritik.
Zwei Jahre Ukrainekrieg: Zwischen zwei Welten
Für die Flüchtlinge aus der Ukraine ist das Ankommen in Berlin nicht
leicht. Keine Wohnungen, überbordende Bürokratie – und der andauernde
Krieg.
Verbandsvertreterin zu Migrationspolitik: „Das stärkt den rechten Diskurs“
Nützlichkeit dürfe nicht das Kriterium für Einbürgerungen sein, sagt Deniz
Greschner vom Paritätischen. Auch schärfere Abschieberegeln kritisiert sie.
Unterbringung von Geflüchteten in Berlin: Beengte Verhältnisse
Die Bedingungen sind nicht ideal, aber besser als ein Feldbett: Im
Flughafen Tempelhof ist eine neue Großunterkunft für Geflüchtete eröffnet
worden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.