# taz.de -- Traumareferent*in zu Aschaffenburg: „Viele Menschen werden erst i… | |
> Psychisch kranke Geflüchtete seien unzureichend versorgt, sagt Leo | |
> Teigler vom Dachverband der Psychosozialen Zentren. Und es werde weiter | |
> gespart. | |
Bild: Gedenken in Aschaffenburg: Könnte bessere psychosoziale Versorgung eine … | |
taz: Sie arbeiten mit psychisch kranken Geflüchteten und als Referent*in | |
beim Dachverband der Psychosozialen Zentren. Wie hoch ist der Bedarf? | |
Leo Teigler: Studien zeigen, dass rund 30 Prozent der Geflüchteten an einer | |
posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Im Jahr 2022 wurden in den | |
psychosozialen Zentren 25.861 geflüchtete Personen versorgt. Setzt man das | |
ins Verhältnis, konnten also nur 3,1 Prozent derjenigen, die Bedarf haben, | |
versorgt werden. | |
taz: Wie viele psychosoziale Zentren gibt es bundesweit? | |
Leo Teigler: 51. Es gibt natürlich darüber hinaus auch einige | |
niedergelassene Psychotherapeut:innen und einige [1][Traumaambulanzen | |
oder andere Ambulanzen in Kliniken, die sich Geflüchteten annehmen]. Aber | |
das ist eine sehr geringe Zahl. Die Regelversorgung ist schlecht | |
aufgestellt für diese Zielgruppe. | |
taz: Mit welchen Problemen haben die Zentren zu tun? | |
Leo Teigler: Ein Problem ist auf jeden Fall die Finanzierung. Sie macht es | |
schwierig, Fachkräfte zu halten, weil in der Regel befristete Verträge | |
ausgestellt werden oder es keine Aussicht auf eine längere Anstellung gibt. | |
Und es ist natürlich auch problematisch, wenn die psychosozialen Zentren | |
mit der Regelversorgung nicht gut zusammenarbeiten können. Nicht jedes PsZ | |
kann darauf setzen, einen guten Kontakt zum Beispiel zu einer | |
psychiatrischen Klinik zu haben. Auch die Sprachmittlung ist eine Leistung, | |
die die psychosozialen Zentren selbst finanzieren müssen. | |
taz: Der Mann, der in Aschaffenburg mutmaßlich zwei Menschen erstochen hat, | |
wurde mittlerweile in eine psychiatrische Klinik überwiesen. Sehen Sie | |
einen Zusammenhang zwischen den von Ihnen geschilderten Problemen und | |
Fällen wie diesem? | |
Leo Teigler: Das kann man so pauschal nicht beantworten. Ich glaube, dass | |
es weniger wahrscheinlich wäre, [2][dass so etwas passiert, wenn es für | |
alle Menschen eine bessere Versorgung geben würde]. Auch in Psychiatrien | |
und dem Rest der Regelversorgung. Es gibt definitiv strukturelle | |
Versäumnisse in der Gesundheitsversorgung, die jetzt migrationspolitisch | |
ausgeschlachtet werden, was katastrophal ist. | |
Wenn in einem psychosozialen Zentrum Fremd- oder Selbstgefährdung bei | |
Klient:innen feststellt wird, müssen diese sofort in eine psychiatrische | |
Klinik verwiesen werden. Im psychiatrischen Arbeiten ist es aber nie zu 100 | |
Prozent möglich, abzuschätzen, ob eine Person nicht nach | |
Behandlungsabschluss aus irgendwelchen Gründen nochmal in psychotische | |
Zustände gerät. | |
taz: Was sind die Fälle, die Ihnen in Ihrer Arbeit begegnen und wie gehen | |
Sie damit um? | |
Leo Teigler: Der absolute Großteil der Klient:innen erlebt viel Gewalt. | |
Erst als Fluchtgrund, dann während der Flucht. Und dann auch hier in | |
Deutschland, was die Unterbringung angeht, was die Wartezeiten angeht, was | |
den Zugang zu Hilfesystemen angeht. Der absolute Großteil der Menschen, der | |
in den PsZ Hilfe sucht, ist sehr dankbar für diese Unterstützung, weil die | |
Menschen ansonsten eben keine Hilfe im System bekommen. | |
Es gibt auch viele Menschen, die erst in Deutschland wirklich krank werden, | |
die ihre traumatischen Erfahrungen vorher im Überlebensmodus noch | |
verkraftet haben und erst hier Symptome ausbilden. Gerade in dieser | |
politischen Situation, in der sehr viel mehr Diskriminierung und | |
rassistische Gewalt stattfindet. | |
taz: Wie sehen Sie die „Law and Order“-Politik, die jetzt unter anderem von | |
der Union gefordert wird? | |
Leo Teigler: Diese Idee, Register für psychisch kranke Menschen | |
einzuführen, erinnert an die NS-Zeit. Ich finde das aus fachlicher und aus | |
politischer Perspektive menschenverachtend. | |
Menschen, die Gewalt erlebt haben und eine gute Versorgung bekommen, sind | |
überhaupt kein Risiko für irgendjemanden. Dass dies aber suggeriert wird, | |
zusätzlich zu der Gewalt, der Menschen ausgesetzt sind, macht uns | |
sprachlos. | |
Es sind Personen, die extreme zwischenmenschliche Gewalt erfahren haben, | |
Krieg, Verfolgung, Folter, Vergewaltigungen. Das überlebt zu haben, sich | |
mit letzter Kraft noch Hilfe zu suchen und dann als gefährlich gelabelt zu | |
werden, ist gerade für Deutschland mit seiner Geschichte wirklich eine | |
Schande. | |
taz: Sehen Sie ein Behördenversagen? | |
Leo Teigler: Ja. Es wird eine Situation hergestellt, in der Prekarität | |
herrscht, in der es keine Kapazitäten gibt, vermeintlich. Und dann werden | |
Probleme, die dadurch entstehen, auf dieses System geschoben, das man | |
selbst schlecht ausgestattet hat. | |
taz: Sie hatten gesagt, die Zahlen derer, die gewalttätig werden, sind | |
verschwindend gering. Dennoch sind dies die Fälle, auf die sich die Politik | |
stürzt. Kann man Gewalt durch traumatisierte Menschen verhindern? | |
Leo Teigler: Ich würde sagen, das ist eine fehlgeleitete Frage. Gewalt | |
passiert aus unterschiedlichen Gründen und nicht nur ausgelöst durch | |
Traumatisierung. Es sind so viele Menschen traumatisiert, wenn das der | |
Schlüssel wäre, um gewalttätig zu handeln, würde das sehr viel häufiger | |
passieren. | |
Grundsätzlich hilft gegen Gewalt natürlich immer, dass Menschen versorgt | |
sind, dass sie teilhaben können an der Gesellschaft, dass jemandem | |
auffällt, wenn sie Unterstützung brauchen. Und das wird durch dieses | |
System, was wir haben, strukturell extrem schwierig gemacht. | |
Wie finanzieren Sie Ihre Arbeit mit Geflüchteten? | |
Leo Teigler: Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz besteht für | |
Schutzsuchende in den ersten drei Jahren nur bei akuten Erkrankungen oder | |
Schmerzzuständen ein Anspruch auf Versorgung. Ob Psychotherapie darunter | |
fällt, liegt im Ermessen des jeweiligen Sozialamts. Der Zugang zur | |
Regelversorgung funktioniert meist schlecht. | |
taz: Gibt es andere Möglichkeiten, die Menschen zu behandeln? | |
Leo Teigler: Psychosoziale Zentren (PsZ), die eher projektfinanziert sind | |
oder über Landes- und Bundesmittel, versuchen diese Versorgungslücken zu | |
schließen. Die PsZ haben ein Angebot, in dem auch soziale Arbeit und | |
rechtliche Beratung Teil sind. Das Bundesprogramm wurde aber gerade von 13 | |
auf sieben Millionen gekürzt. Die Kürzungen bedeuten bei der ohnehin schon | |
prekären Finanzierung durch das Asylbewerberleistungsgesetz unterm Strich, | |
dass die Kapazitäten, die eigentlich gebraucht werden, um den | |
Unterstützungsbedarf zu decken, finanziell überhaupt nicht abgesichert | |
sind. | |
taz: Wie schauen Sie auf die Bundestagswahl? | |
Leo Teigler: Wir machen uns Sorgen über eventuelle rechtliche Veränderungen | |
in der Asyl- und Migrationspolitik, die Menschen in noch prekärere | |
Situationen bringen würden. Das haben wir auch schon nach Solingen gesehen, | |
da gab es gesetzliche Veränderungen für Personen in Duldung. Ihnen sollen | |
Leistungen gestrichen werden und Menschen de facto in die Wohnungslosigkeit | |
getrieben werden. | |
24 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Marco Fründt | |
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