| # taz.de -- Traumatherapie für Geflüchtete: Alleingelassen in der Wartehalle | |
| > Viele Geflüchtete haben traumatische Erfahrungen gemacht, aber geholfen | |
| > wird ihnen kaum. Für die Integration dieser Menschen ist das schlecht. | |
| Berlin taz | Ich finde es furchtbar, dass wir Menschen so unterbringen | |
| müssen“, sagt Gunild Kiehn mit ernstem Blick und öffnet die Tür zu einem | |
| der Wohncontainer des „Refugiums Tempelhof“ – einer riesigen, in den | |
| Hangars des alten Flughafens Berlin-Tempelhof gelegenen Sammelunterkunft | |
| für geflüchtete Menschen. Im klinisch weißen Licht stehen in dem gerade | |
| nicht bewohnten Container zwei silbergraue Hochbetten mit blauen | |
| Schaumstoffmatratzen, eine metallene Schrankwand aus vier gleichförmigen | |
| Spinden, zwei Stühle und ein kleiner Tisch. Jeweils zu viert, oft beliebig | |
| zusammengewürfelt – Familien ausgenommen – müssen sich die | |
| Bewohner*innen der Unterkunft diese zwölf Quadratmeter Container | |
| teilen. | |
| Besonders für die vielen Personen, die psychisch belastet sind und unter | |
| Traumafolgestörungen leiden, seien der geringe Platz und die fehlende | |
| Privatsphäre schwer zu ertragen, so Kiehn. Die 58-Jährige arbeitet hier als | |
| Psychologin. Die Wohnsituation der Menschen, erklärt sie, verschlimmere so | |
| ein ohnehin schon gravierendes Problem, das ihr und ihren Kolleg*innen | |
| alltäglich im Job begegne: die akute Mangelversorgung geflüchteter Menschen | |
| mit psychosozialer Hilfe. | |
| Wie groß die Versorgungslücke im Bereich der psychosozialen Hilfe für | |
| geflüchtete Menschen ist, geht aus dem aktuellen [1][Versorgungsbericht der | |
| Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und | |
| Folteropfer (BAfF)] hervor. Die BAfF vereint als Dachverband 48 | |
| Organisationen, die psychosoziale Unterstützung für geflüchtete Menschen | |
| anbieten. | |
| Die Angebote der Psychosozialen Zentren reichen von Traumatherapien über | |
| Mentoring- und Ehrenamtsprogrammen bis hin zu traumasensiblen Sozial- und | |
| Asylrechtsberatungen. Auch für Frauen, LSBTIQ* und unbegleitete | |
| Minderjährige bieten manche Zentren spezielle Unterstützungsmöglichkeiten. | |
| Den BAfF-Berechnungen zufolge kommen bundesweit auf 20.000 Plätze pro Jahr | |
| etwa eine halbe Million Menschen mit Unterstützungsbedarfen. Pro Jahr | |
| können also nur vier Prozent der Geflüchteten die Unterstützung in Anspruch | |
| nehmen, die sie eigentlich bräuchten. | |
| Aus der Mangelversorgung „ergeben sich enorme gesellschaftliche | |
| Konsequenzen“, erläutert Gunild Kiehn. Wer unter Traumafolgestörungen | |
| leide, könne kaum arbeiten, studieren, zur Schule gehen oder Deutsch | |
| lernen. Vielen falle es schwer, sich Termine zu merken und ihren | |
| Verpflichtungen nachzukommen. Manche würden sich selbst vernachlässigen | |
| oder in destruktive Verhaltensweisen abdriften, Alkohol oder andere Drogen | |
| konsumieren, um die Erinnerungen an ihre Traumata zu vermeiden. „Wie sollen | |
| die Menschen so Teil unserer Gesellschaft werden?“, fragt die Psychologin. | |
| Wie viele der insgesamt in Deutschland schutzsuchenden Menschen sind | |
| traumatisiert? Und wie viele leiden unter Traumafolgestörungen? | |
| Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass fast neun von zehn | |
| Geflüchteten in der Bundesrepublik Traumatisches erlebt haben. Damit sind | |
| Situationen gemeint, die etwa das Gefühl von Kontrollverlust oder | |
| gewaltvolle Fremdbestimmung beinhalten – das betrifft häufig Menschen, die | |
| politischer Verfolgung und Folter ausgesetzt sind oder den plötzlichen | |
| Verlust von Freund*innen und Angehörigen im Krieg erlebt haben. Menschen, | |
| die zur Flucht gezwungen sind. | |
| Etwa 30 Prozent der in Deutschland Schutzsuchenden, so die Forschung, | |
| leiden unter entsprechenden Traumafolgestörungen, also den Symptomen einer | |
| posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). In anderen Worten: Etwa jede*r | |
| dritte Geflüchtete kann nicht richtig schlafen, kommt nicht zur Ruhe, hat | |
| Konzentrationsstörungen, Schmerzen, oder ist geplagt von realitätsnahen | |
| Rückblicken in die erlebten traumatisierenden Situationen – sogenannten | |
| Flashbacks. [2][Ende 2023 lebten insgesamt 3,1 Millionen geflüchtete | |
| Menschen in Deutschland]. | |
| Psycholog*innen wie Gunild Kiehn sind für viele psychisch belastete | |
| Geflüchtete oft die Ersten, mit denen sie ihr Leid teilen. In der | |
| Tempelhofer Sammelunterkunft bekommen sie von den | |
| Sozialarbeiter*innen den Hinweis, dass es Kiehn und ihre zwei | |
| Kolleg*innen gibt und sie werktags einen Termin mit ihnen ausmachen | |
| können. „Dann müssen sie für sich entscheiden: Will ich wirklich mit einer | |
| Frau sprechen, die meine Sprache nicht spricht und ganz anders lebt als | |
| ich?“, sagt Kiehn mit ruhiger, freundlicher Stimme und zugewandtem Blick. | |
| Gegen die Sprachbarriere helfe in der Regel ein*e Dolmetscher*in – | |
| sofern eine*r telefonisch oder in Präsenz verfügbar ist, denn auch | |
| Dolmetscher*innen sind rar. Dennoch sei der Schritt, zu ihr zu gehen, | |
| für viele geflüchtete Menschen eine Überwindung, sagt Kiehn. Auch weil das | |
| Aufsuchen einer Psycholog*in in einigen Gesellschaften ein Tabu sei. | |
| Aber oft, wenn die Symptome stärker werden, bleibe den Menschen kaum eine | |
| Wahl, so Kiehn. Viele würden sich dann fragen: „Warum habe ich ständig | |
| Kopfschmerzen und kann nicht schlafen? Warum funktioniere ich nicht mehr so | |
| wie früher? Ich habe mich verändert, erkenne mich nicht wieder. Bin ich | |
| verrückt?“ | |
| Wenn die Menschen sich Kiehn öffnen und ihr ihre brutalen Geschichten von | |
| Kriegen, Vertreibung und Flucht erzählen, versuche sie zunächst, sie | |
| aufzuklären: „Deine Symptome sind normale körperliche Reaktionen auf nicht | |
| normale Ereignisse. Du bist nicht verrückt. Du kannst lernen, mit deinen | |
| Erfahrungen zu leben.“ Das beruhige die Menschen zunächst einmal. Sie | |
| würden sich gesehen fühlen und erkennen, dass sie mit ihren Problemen nicht | |
| alleine sind. | |
| Doch oft helfe ein solches entlastendes Gespräch nur kurzfristig. Dann | |
| jedoch stehe Kiehn immer wieder vor einem Problem, sagt sie. Denn es gebe | |
| oft keine Behandlungsplätze. Nur wenige ihrer vielen Klient*innen habe | |
| sie im vergangenen Jahr an die Psychosozialen Zentren in Berlin vermitteln | |
| können. Die Wartelisten seien lang. Oft dauere es mehrere Monate, bis | |
| Menschen einen Platz bekämen – für Therapieplätze betrage die Wartezeit zum | |
| Teil bis zu einem Jahr. Zudem gebe es aufgrund der hohen Auslastung | |
| teilweise enge Auswahlkriterien in der Platzvergabe. Zum Beispiel würden | |
| manche Einrichtungen eine längerfristige Bleibeperspektive in Deutschland | |
| von mindestens einem Jahr voraussetzen oder im Team nach Dringlichkeit | |
| entscheiden, wer Unterstützung bekommt. | |
| Wenn ihr Gegenüber diesen Kriterien entspricht „und ich eine Chance auf | |
| einen Platz sehe, klemme ich mich natürlich sofort dahinter und versuche, | |
| etwas zu organisieren“. Meistens sei das jedoch nicht der Fall – oder eben | |
| mit erheblichen Wartezeiten verbunden. Die Gesprächssituation sei dann | |
| mitunter schwer auszuhalten: „Du weißt, dass der Mensch, der vor dir sitzt, | |
| psychisch am Ende ist, schnell Hilfe braucht, es aber nichts gibt, dass du | |
| für ihn machen kannst – außer vielleicht einer medikamentösen Behandlung in | |
| der Psychiatrie.“ | |
| Kiehn sagt, sie fühle sich dann fast genauso hilflos und ausgeliefert wie | |
| ihr Gegenüber. Auch Kolleg*innen gehe das so. Mit etwa 30 anderen | |
| Psycholog*innen aus anderen Berliner Sammelunterkünften tauscht sie | |
| sich regelmäßig zu den „Systemgrenzen“ in der Versorgung psychisch | |
| belasteter Geflüchteter“ aus. Das sei „eine Art Selbsthilfegruppe“, sagt | |
| sie. | |
| Weshalb sind die Psychosozialen Zentren so stark ausgelastet? Neben dem | |
| generell hohen Bedarf liege ein Hauptgrund im Asylbewerberleistungsgesetz, | |
| erklärt BAfF-Geschäftsführer Lukas Welz der taz am Telefon. Durch das | |
| Gesetz ist allen geflüchteten Menschen in Deutschland, die noch auf ihren | |
| Asylentscheid warten oder bereits abgelehnt wurden und lediglich geduldet | |
| werden, der volle Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleistungen verwehrt. | |
| Behandlungen werden nur im äußersten Notfall gestattet. Einen normalen | |
| Therapieplatz bewilligt zu bekommen, sei für Asylsuchende oder geduldete | |
| Menschen so nahezu unmöglich, so Welz. Für sie bliebe nur die Möglichkeit, | |
| die Hilfsangebote der psychosozialen Zentren in Anspruch zu nehmen. | |
| Die Ampelregierung hat [3][im gerade erst verabschiedeten | |
| „Rückführungsverbesserungsgesetz“] zudem festgelegt, dass asylsuchende und | |
| geduldete Geflüchtete erst nach drei statt wie bisher nach eineinhalb | |
| Jahren Zugang zur medizinischen und damit auch psychotherapeutischen | |
| Regelversorgung bekommen. Das sei eine Katastrophe, sagt Welz. Dass | |
| Menschen nun bis zu drei Jahre aus der Regelversorgung ausgeschlossen | |
| werden können, werde die bestehende Versorgungslücke in der psychosozialen | |
| Hilfe nur noch vertiefen. „Und das wird das Leid der Menschen in | |
| Deutschland und letztlich das Ausbleiben von Integrations- und | |
| Teilhabechancen in der Zukunft massiv verschärfen.“, erklärt er. | |
| Ein weiteres Problem sei der faktisch fehlende Zugang zur Regelversorgung | |
| für all diejenigen Geflüchteten, deren Asylanträge bereits positiv | |
| entschieden wurden, die also einen anerkannten Schutzstatus in Deutschland | |
| haben. Ende Oktober 2023 waren das etwa zweieinhalb Millionen Menschen, | |
| davon etwa 900.000 aus der Ukraine. Rein rechtlich sei der Zugang zur | |
| normalen, gesetzlichen – also über die Krankenkassen abgedeckten – | |
| medizinischen und psychologischen Unterstützung für diese Menschen zwar | |
| nicht durch das Asylbewerberleistungsgesetz eingeschränkt.„In der Realität | |
| ist die Regelversorgung jedoch kaum eine Option“, sagt Welz. In normalen | |
| therapeutischen Einrichtungen und Kliniken fehle es oft an kontextuellem | |
| Wissen aus den Herkunftsländern der Menschen. Auch mangele es häufig an | |
| Erfahrungen in der Behandlung geflüchteter Menschen und einem entsprechend | |
| sensiblen Umgang mit ihren individuellen Fluchtgeschichten und | |
| Bedürfnissen. Und zudem sei zu selten eine Sprachmittlung, also ein*e | |
| Dolmetscher*in, verfügbar. | |
| Zumindest, um das Problem der unzureichend verfügbaren Sprachmittlung in | |
| der Regelversorgung in den Griff zu bekommen, arbeitet die Bundesregierung | |
| an einer Lösung. Im Koalitionsvertrag hat sie sich das Ziel gesetzt, eine | |
| bundesweit einheitliche Lösung im Sozialgesetz festzuschreiben. Auf | |
| taz-Anfrage teilte das Bundesgesundheitsministerium mit, dass die | |
| Diskussionen um die konkrete Umsetzung und Finanzierung noch liefen, man | |
| das Vorhaben aber schnell umsetzen wolle. | |
| Für Welz sei jedoch klar, dass es einen grundsätzlichen Kurswechsel der | |
| Bundesregierung im Umgang mit traumatisierten Geflüchteten brauche – um den | |
| eigenen humanitären Werten gerecht zu werden, aber auch aus juristischen | |
| Gründen: „Als werteorientierte Gesellschaft hat Deutschland sich rechtlich | |
| zum Schutz und der Versorgung von Menschen verpflichtet, die verfolgt und | |
| gefoltert wurden“, so Welz. | |
| Damit bezieht er sich auf internationales Recht. Mit der Genfer | |
| Flüchtlingskonvention, der Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen | |
| und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist die Bundesrepublik | |
| gleich auf mehreren Ebenen verpflichtet, dafür zu sorgen, dass | |
| schutzsuchende Menschen, die Folter oder politische Verfolgung erlebt | |
| haben, hier angemessen versorgt werden. Dass sie in Sicherheit leben | |
| können. „Das schließt eine nachhaltige und systematische Versorgung | |
| schwerster Traumatisierungen als Folge von Verfolgung und Flucht mit ein“, | |
| mahnt Welz. | |
| Um die Psychosozialen Zentren zu entlasten, brauche es also einen schnellen | |
| und wirklichen Zugang zur Regelversorgung für geflüchtete Menschen. Zudem | |
| sei es notwendig, so Welz, die spezialisierten Zentren zu stärken. Nicht | |
| nur brauche es eine ausreichende, sondern auch eine dauerhafte | |
| Finanzierung. Derzeit entscheide sich mit jedem Haushaltsbeschluss aufs | |
| Neue, wie viel Geld die Zentren jährlich zur Verfügung haben, wie viel | |
| Personal sie beschäftigen und wie vielen Menschen sie damit helfen können. | |
| „Das ist für die Kolleg*innen sehr belastend“, erklärt er. Besonders als | |
| die Ampelkoalition im Sommer des vergangenen Jahres darüber debattierte, | |
| die Mittel für die Zentren um 60 Prozent zu kürzen, sei die Verunsicherung | |
| groß gewesen. Viele hätten Existenzängste geplagt. Im Herbst 2023 konnte | |
| ein Teil der Kürzung zunächst zurückgenommen werden. | |
| ## Rund um die Uhr ist es hell | |
| In Berlin-Tempelhof führt Kiehn mit forschen Schritten weiter durch die | |
| drei Hangars, die unzählige Deckenstrahler rund um die Uhr taghell | |
| erleuchten. Hunderte weiße Wohncontainer stehen hier dicht an dicht auf | |
| granitgrauem Boden. Ein Grundrauschen an unterschiedlichen Tönen aus allen | |
| Himmelsrichtungen liegt in der Luft. Leises und lauteres Sprechen in | |
| verschiedenen Sprachen. Kinderlachen. Und unverständliche, elektronische | |
| Töne von den Walkie-Talkies der zahlreichen Sicherheitsleute, die in gelben | |
| oder orangenen Warnwesten an fast jeder Ecke in kleinen Grüppchen sitzen | |
| oder stehen. 60 sind es pro Tag- und Nachtschicht. | |
| „Wie sollen die Menschen hier zur Ruhe kommen?“, fragt Kiehn. Viele würden | |
| sehr unter der Geräuschkulisse leiden. Und besonders für Menschen, die in | |
| Foltergefängnissen gesessen oder Polizeigewalt erlebt haben, könnten das | |
| Ambiente im alten Flughafen und das viele Sicherheitspersonal | |
| retraumatisierend wirken. | |
| Fast 1.400 Menschen leben in der von der Arbeiterwohlfahrt Berlin-Mitte | |
| (AWO) und dem Internationalen Bund gemeinschaftlich für das Land Berlin | |
| betriebenen Unterkunft in Tempelhof. Entweder warten sie hier auf ihren | |
| Asylbescheid, oder sie haben eine Ablehnung bekommen und sind von einer | |
| Abschiebung bedroht. Selbst Menschen mit einer Asylanerkennung lebten noch | |
| hier, weil das Land Berlin nicht ausreichend Plätze in | |
| Gemeinschaftsunterkünften vorhalte. Einige seit nunmehr über 14 Monaten, so | |
| Kiehn. | |
| Bis zum Erstbescheid, also der ersten Entscheidung über das Asylgesuch, | |
| dauert es derzeit durchschnittlich viereinhalb Monate, teilt das | |
| Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf taz-Anfrage mit. | |
| Viele Menschen müssen jedoch weitaus länger in Unterkünften wie den Hangars | |
| ausharren. Denn während Positivbescheide nicht selten bis zu zehn Monate | |
| dauern, sind Absagen oft schon innerhalb weniger Monate erteilt. Und wer | |
| einen Negativbescheid erhält und dagegen klagt, müsse sich laut BAMF auf | |
| eine Verfahrensdauer von bis zu eineinhalb Jahren einstellen. | |
| Wie viele schutzsuchende Menschen bundesweit in alten Kasernen oder | |
| Wohnblocks, Großzelten oder Containerdörfern, also in Massenunterkünften | |
| wie in Tempelhof leben, ist statistisch nicht erfasst. Ein Anhaltspunkt ist | |
| jedoch die Anzahl der Empfänger*innen von Leistungen nach dem | |
| Asylbewerberleistungsgesetz. Ende 2022 waren das 482.300 Menschen. | |
| Eine aktuellere Zahl hat das Statistische Bundesamt noch nicht | |
| veröffentlicht. Allerdings dürfte sie leicht gestiegen sein. Zwar wurden in | |
| 2023 etwas mehr als die Hälfte aller Asylanträge bewilligt, jedoch lag auch | |
| die Zuwanderungszahl höher als in den Vorjahren. Und etwa ein Drittel | |
| derer, deren Asylantrag abgelehnt wurde, hat gegen den Negativbescheid | |
| geklagt. Hinzu kommen weitere Hunderttausende, deren Asylanträge angenommen | |
| wurden und die in den Gemeinschaftsunterkünften der Kommunen leben. | |
| Kiehn stoppt an der Kantine von Hangar 2. Dort sitzen gerade zwei Menschen | |
| an einer Bierzeltgarnitur und schauen auf ihre Handys. Einer trägt eine | |
| Kapuze. Zu den Essenszeiten, also morgens, mittags und abends, sei der | |
| große Raum, eine alte Werkzeughalle mit Gittern vor den Fenstern, gut | |
| gefüllt, erklärt Kiehn. Lange Schlangen bildeten sich dann davor. | |
| Alle geflüchteten Menschen hier bekommen Vollverpflegung. Das ist der Deal | |
| für Asylsuchende in Sammelunterkünften. Bargeld gibt es monatlich je nach | |
| Land bis zu 182 Euro, in bayrischen Ankerzentren gar nur 102 Euro. Bald | |
| soll dieses Guthaben zudem nur noch digital per Bezahlkarte zur Verfügung | |
| stehen, [4][so haben es die Ministerpräsident*innen der Länder mit | |
| Kanzler Olaf Scholz (SPD) im vergangenen Herbst vereinbart]. Auch der Gang | |
| zum Imbiss, wo Döner und Co. oft nur bar verkauft werden, dürfte dann für | |
| viele als selbstbestimmte Alternative zum Unterkunftsessen ausfallen. | |
| Einige Länder, darunter Bayern, wollen die Karte außerdem für den Kauf von | |
| Zigaretten und Alkohol sperren. | |
| Das psychisch Belastende sei neben der täglich im Speiseplan | |
| wiederkehrenden Erfahrung der Fremdbestimmung aber vor allem auch, nicht | |
| selbst kochen zu können, erklärt Kiehn. „So banal es klingt: Für viele ist | |
| das besonders schlimm. Das zu kochen, was man mag, so viel man mag, das hat | |
| für alle eine große Bedeutung. Es ist Teil der kulturellen Identität.“ | |
| Einer, dem die Unterbringung im Tempelhofer Containerdorf sehr zu schaffen | |
| macht, ist Emin Sediyev. Er ist 44 Jahre alt und heißt eigentlich anders. | |
| Aus Angst vor Repressionen möchte er seinen echten Namen nicht in der | |
| Zeitung lesen. Sediyev ist aus seiner Heimat Tschetschenien geflohen, weil | |
| es dort zu gefährlich für ihn gewesen sei, sagt er. „Dort gelten keine | |
| Menschenrechte.“ | |
| Er habe sich politisch für die Unabhängigkeit des Landes eingesetzt und sei | |
| so ins Visier des tschetschenischen Regimes geraten. Eines Nachts hätten | |
| dann bewaffnete und vermummte Polizisten sein Haus gestürmt, ihn | |
| verschleppt, brutal zusammengeschlagen und schließlich schwer verletzt an | |
| der Straße aus dem Auto geworfen, erklärt er. „Sie wollten, dass ich | |
| sterbe.“ | |
| ## „Wir haben keine Privatsphäre“ | |
| Jetzt „in dieser Flugzeuggarage zu leben“ bedrücke ihn sehr, sagt er. Er | |
| beugt sich nach vorn, stellt die Ellenbogen auf die Knie, hält seine großen | |
| und doch feinen Hände fest zusammen und redet mit ernstem Blick: „Wir haben | |
| keine Privatsphäre. Es gibt kaum Platz.“ Und weil die kleinen Wohncontainer | |
| in den großen Hangars stehen, gebe es weder frische Luft noch Sonnenlicht. | |
| Und auch die Ausübung seines muslimischen Glaubens falle ihm in der | |
| Unterkunft schwer. „Ich bete fünf Mal am Tag. Dazu gehören jeweils rituelle | |
| Waschungen der Hände und Füße.“ Gerade die Waschungen seien in der | |
| Unterkunft in Tempelhof allerdings kaum möglich. „Die Duschen sind im | |
| Kalten. In unserem Hangar gibt es kaum warmes Wasser. Das ist eine | |
| Zumutung.“ | |
| Schlafen könne er zudem auch nicht viel. „Nicht in der Nacht und nicht am | |
| Tag.“ Es sei schwer, in den Hangars Ruhe zu finden. Hinzu kämen die Sorgen, | |
| er könnte abgeschoben werden. Und auch die Misshandlungen, die er in seiner | |
| Heimat habe erleben müssen, holten ihn immer wieder ein. | |
| Halt gebe ihm gerade nur zweierlei. Sein 20-jähriger Sohn, der auch in | |
| Berlin lebt – und die Sozialberatung von Xenion, einem Psychosozialen | |
| Zentrum in Berlin Steglitz, das auch Teil der BAfF ist. Die Büros des | |
| Vereins seien einer der wenigen Orte, an denen er sich sicher fühle, sagt | |
| Sediyev. Er gehe dorthin, wenn er nicht mehr weiterwisse. Und zur | |
| Kiezkantine in Kreuzberg, einer Art regelmäßigem offenem Kochevent für | |
| alle, die Lust haben – egal ob Deutsche, Afghan*innen oder | |
| Tschetschen*innen. Bereits seit November 2022 ist Sediyev hier immer wieder | |
| ein regelmäßiger Besucher. Xenion sei ein Glücksfall für ihn. „Hier finde | |
| ich Seelenruhe“, sagt er. | |
| Um Menschen zu helfen, die sie nicht an Orte wie Xenion vermitteln kann, | |
| blieben ihr nur wenige Möglichkeiten, sagt Gunild Kiehn. Manchen könne sie | |
| einen Termin bei einem Psychiater organisieren, der sie dann medikamentös | |
| einstellt. Das sei zumindest eine Zwischenlösung für akute PTBS-Symptome. | |
| Für andere könne sie eine Stellungnahme schreiben, die vielleicht in der | |
| Asylprüfung berücksichtigt werde. Diese sei allerdings, wie auch die | |
| Gutachten von psychologischen Psychotherapeut*innen, nicht rechtlich | |
| bindend. | |
| Wenn die geflüchteten Menschen dennoch eine Abschiebung erhielten, versucht | |
| Kiehn, sie auf das vorzubereiten, was vor ihnen liegt. Manche hätten große | |
| Angst und brächen zusammen bei dem Gedanken, zurück in die Heimat zu | |
| müssen, aus der sie geflüchtet sind. Sie gelte es dann zu stabilisieren, so | |
| Kiehn. „Ich frage dann: Wie kannst du dich auf deine Rückkehr vorbereiten? | |
| Was machst du, wenn du dort ankommst? Hast du wen, zu dem du gehen kannst? | |
| Was hast du in der letzten Zeit gelernt, das dir dort helfen könnte?“ | |
| Solche Gespräche seien jedoch sehr belastend. „Ich kenne die individuelle | |
| Situation der Menschen. Ihre Fluchtgeschichte und ihre psychische und | |
| physische Verfassung“, sagt sie. Mit der Zeit habe sie aber gelernt, | |
| professionell damit umzugehen. „Das ist auch wichtig für die eigene | |
| Psychohygiene. Gerade in diesem Umfeld hier muss man darauf achten.“ | |
| Auch den Menschen, die noch auf ihren Asylbescheid oder auf ihre Anhörung | |
| warten, rate sie, auf sich zu achten. Besonders jenen, denen sie nicht | |
| anders helfen könne als mit einem Gespräch. Und auch in diesen Fällen | |
| versuche sie, die Menschen darin zu unterstützen, sich selbst zu | |
| stabilisieren: „Was kannst du tun, damit es dir ein kleines bisschen besser | |
| geht? Woran kannst du denken, an deine Mutter, an Freunde? Was macht dir | |
| Freude, dass auch hier möglich ist?“ Oft findet sich irgendetwas. Manchmal | |
| nicht. Dann gehe es darum, sagt Kiehn, die unaushaltbare Situation | |
| gemeinsam auszuhalten. | |
| 6 Mar 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.baff-zentren.org/wp-content/uploads/2023/06/BAfF_Versorgungsber… | |
| [2] https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/zahl-der-fluechtl… | |
| [3] /Gesetzesvorhaben-im-Bundestag/!5983182 | |
| [4] /Bund-Laender-Treffen-zu-Asylpolitik/!5968502 | |
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| Tobias Bachmann | |
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