# taz.de -- Bremer Psychiatriereform: Viele fallen aus dem Kuckucksnest | |
> Sie verspricht Verzicht auf Zwang, doch laut Kritiker*innen gefährdet | |
> die Psychiatriereform den Schutz von Patient*innen. Viele werden | |
> obdachlos. | |
Bild: In Bremen landen viele psychisch Kranke auf der Straße | |
BREMEN taz | Mehr als 200 Einsätze mit dem Rettungswagen gab es im | |
vergangenen Jahr für Frau M. In Bremen, Hamburg und Hannover wurde sie | |
aufgegriffen. Oft war gar nichts passiert: Die geistig behinderte und | |
psychisch kranke M. hatte nur einen epileptischen Anfall vorgetäuscht. | |
Manchmal aber musste sie auch mit blutig zerkratztem Kopf oder anderen | |
schweren Verletzungen aufgenommen werden. M. trieb sich in zunehmend | |
düsteren Ecken herum, in denen ihr zunehmend düstere Dinge zustießen. | |
Aktuell ist Frau M. Patientin im Klinikum Bremen-Ost, in der Psychiatrie. | |
Nein, gerne ist sie dort nicht – sie will raus, das hat sie gesagt. Ihr | |
behandelnder Arzt hatte sie deshalb schon wieder entlassen. Doch ihre | |
rechtliche Betreuerin hat nach mehreren Versuchen durchgesetzt: M. soll | |
erst mal bleiben – zu ihrem eigenen Schutz, weil sie nicht sicher ist, wenn | |
sie durch Niedersachsen tourt und sich Verletzungen zufügt. | |
Fälle wie die von Frau M. stehen im Mittelpunkt eines großen ideologischen | |
Konflikts rund um die Zukunft der Psychiatrie. Die Frage stellt sich | |
bundesweit, ja, eigentlich weltweit, seit die | |
UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 die Selbstbestimmung psychisch | |
Kranker in den Mittelpunkt stellt. In Bremen zeigt sich der Konflikt gerade | |
etwas deutlicher, weil die Stadt seit Juni 2021 in ihrer größten | |
Psychiatrie im Klinikum Bremen-Ost mit Martin Zinkler einen Chefarzt | |
beschäftigt, der als [1][Vorreiter der Psychiatriereform] gilt. | |
Die Verheißung: Niemand soll gegen seinen Willen therapiert werden. Zinkler | |
weiß sich dabei im Einklang mit dem Zeitgeist: „Das Wohl des Betreuten ist | |
immer sein subjektives Wohl“, zitiert er das neue Betreuungsgesetz, das ab | |
2023 gelten soll. Im Fall von M. plädiert auch er mittlerweile für einen | |
Verbleib im Klinikum – allerdings nur für einige Wochen, um Zeit zu | |
gewinnen, eine passendere Unterbringung zu finden. „Es ist ganz klar, dass | |
sie ihre Freiheit will“, erklärt er. Wenn eine Behandlung dauerhaft ohne | |
Erfolg bliebe, müsse sie trotzdem wieder entlassen werden. „Es ist nicht | |
strafbar, sich selbst zu verletzen“, sagt der Psychologe. | |
Grundsätzlich steht die rechtliche Betreuerin Claudia Hanses nach eigener | |
Aussage hinter großen Teilen der Bremer Psychiatriereform. Aber hat Zweifel | |
an der Umsetzung durch Zinkler und sein Team: Zu dogmatisch erscheint ihr | |
der Zugang, zu sehr, so ihre Kritik, blieben die Fallstricke des | |
Einzelfalls außen vor. Sie erzählt von weiteren Fällen, in denen sie die | |
Gesundheit und das Wohlergehen ihrer Klient*innen in Gefahr sah, weil | |
Zinkler oder sein Team Patient*innen auf ihren Wunsch hin früh | |
entlassen wollten. | |
## Ambulant vor stationär | |
Rechtlich gibt es durchaus eine Begrenzung des freien Willens der | |
Patient*innen: Vor allem dann, wenn von Selbst- oder Fremdgefährdung der | |
Patient*innen auszugehen ist. „Die Betonung liegt dabei auf | |
‚erheblicher‘ Gefährdung“, sagt Stephanie Beckröge, Sprecherin des Brem… | |
Klinikverbands Gesundheit Nord (GeNo). | |
Spätestens bei deren Bewertung scheiden sich die Geister. Betreuer*innen, | |
Angehörige, die Klinik und Patient*innen selbst versuchen im Konsens | |
eine Lösung zu finden. Wenn sich Patient*innen, Betreuer*innen und die | |
Klinik nicht einig sind, entscheiden Gerichte mithilfe von – externen – | |
Gutachten. Bisher hat sich Betreuerin Hanses – entweder nach persönlichen | |
Gesprächen oder nach Einschaltung von Gerichten – mit ihrer Haltung | |
durchgesetzt. „Aber nicht alle Patient*innen haben engagierte | |
Betreuer“, sagt sie. „Ich mache mir Sorgen um alle Fälle, bei denen | |
Zinklers Entscheidung gleich akzeptiert wird.“ | |
Hanses ist nicht die Einzige: Auch Christian Morgner, Sprecher der Bremer | |
Abteilung des „Bundesverbandes der Berufsbetreuer/innen“, berichtet von | |
Fällen, in denen die Abwägung seines Erachtens falsch ausgefallen ist: | |
Immer wieder komme es vor, dass seine Klienten am Morgen entlassen und | |
schon am Abend auffällig geworden seien – und gemäß dem | |
Psychisch-Kranken-Gesetz von der Polizei wieder eingeliefert würden. „Ich | |
bin kein Arzt, aber das hört sich für mich nicht nach stabilem psychischen | |
Zustand an“, sagt Morgner. | |
„Drehtürpsychiatrie“ heißt dieser Effekt, bei dem Kranke im schnellen | |
Wechsel entlassen und eingewiesen werden. Eine geringe Zahl an | |
Drehtürpatient*innen gilt auch Zinkler als Qualitätsmerkmal für | |
Psychiatrie. In Bremen liegt die sogenannte Wiederaufnahmerate aktuell bei | |
14 Prozent. „Das ist schon gar nicht so schlecht“, findet der Chefarzt. | |
Bundesweit rangiert die Rate zwischen acht und 20 Prozent. | |
Richtig aussagekräftig ist die Zahl aber nicht: In Bremen sollen zwar die | |
Auswirkungen der ambulanten und auf Freiwilligkeit basierenden Psychiatrie | |
von der Uni Dresden wissenschaftlich untersucht werden; doch für die | |
Evaluation fehlen etliche Daten: Niemand weiß, wie die Rate vor Zinklers | |
Berufung aussah. | |
Neben der Freiwilligkeit sieht Bremens Psychiatriereform eine weitere | |
Neuorientierung vor: [2][Ambulant geht vor stationär]. Wo immer möglich | |
sollen Patient*innen also nicht in der Klinik behandelt werden, sondern | |
zu Hause, in ihrem Alltag, besucht und begleitet werden. Dieses Primat des | |
Ambulanten bringt aber weitere praktische Probleme mit sich: Schwierig wird | |
es dort, wo Patient*innen gar kein Zuhause haben. | |
Eigentlich soll solchen Fällen von der Zentralen Fachstelle Wohnen (ZFW) | |
vor ihrer Entlassung eine Unterkunft vermittelt werden. Doch längst nicht | |
immer klappt das. Fürs selbständige Wohnen sind viele Patient*innen | |
nicht fit genug; und die üblichen Einrichtungen für Obdachlose sind oft | |
nicht geeignet: Einzelne Betroffene haben dort etwa Hausverbot, erzählt | |
Katharina Kähler von der Inneren Mission; und auch bei Patient*innen | |
mit hohem Pflegebedarf, oder solchen, die in der Vergangenheit mit | |
Brandstiftung aufgefallen sind, wird eine Unterbringung im allgemeinen | |
System schwierig. | |
„Solche Fälle fallen dann in eine Versorgungslücke“, erklärt Bernd | |
Schneider, Sprecher der Sozialsenatorin. „Für die Klinik sind sie nicht | |
fremdgefährdend genug; für alle anderen Orte sind sie es zu sehr.“ 40 bis | |
50 Patient*innen seien im letzten Jahr direkt aus der Klinik auf die | |
Straße entlassen worden, so die Schätzung eines Pflegers. Die Klinik hat | |
auch hier keine eigenen Daten. | |
31 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Lotta Drügemöller | |
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