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# taz.de -- Richterin vor Gericht: Nach Aktenlage weggesperrt
> In Stade steht eine Richterin vor Gericht: Sie soll Betroffene von
> geschlossener Unterbringung viel zu spät oder gar nicht angehört haben.
Bild: Blick in eine forensische Psychiatrie. Wer hier reinsoll, hat das Recht a…
Stade taz | Wenn die Rotenburger Amtsrichterin Heike B. doch noch
Betroffene anhörte, nachdem sie diese bereits in eine geschlossene
Einrichtung geschickt hatte, soll es mitunter einige Zeit gedauert haben:
57 Tage etwa. Oder: 36 Tage. Manchmal jedoch soll es nicht einmal mehr dazu
gekommen sein: Dann ordnete die Richterin die vorübergehende oder
dauerhafte geschlossene [1][Unterbringung in einer Klinik] an – ganz ohne
sich jemals noch anzuhören, was die Betroffenen dazu zu sagen haben.
Seit Montag steht die 54-jährige B. wegen dieser Vorwürfe vor dem Stader
Landgericht. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft soll sie im Rahmen ihrer
Tätigkeit als Betreuungsrichterin in der Zeit zwischen Mai 2016 und
Dezember 2017 in 15 Fällen so agiert haben. B., die bislang weiterhin als
Richterin tätig ist, ist deshalb wegen Rechtsbeugung angeklagt. Auf dem für
eine Richterin ungewöhnlichen Platz auf der Anklagebank stritt sie am
Montagmorgen die Vorwürfe nicht ab. „Es ist schmerzlich, dass es unter
meiner Verantwortung zu Verfehlungen gekommen ist“, teilte sie dem
fünfköpfigen Gericht mit.
So soll etwa die [2][gesetzliche Betreuerin] einer Frau beim Rotenburger
Amtsgericht den Antrag gestellt haben, die Frau dauerhaft in die
geschlossene Einrichtung am Diakonie-Klinikum Rotenburg einzuweisen. Im
Juni 2016 genehmigte B. die Unterbringung. Dem ihr vorliegenden Bericht des
behandelnden Arztes zufolge sei dort eine Heilbehandlung notwendig, die
Frau sei jedoch „nicht krankheitseinsichtig“.
Vor der Genehmigung angehört hatte die Richterin die Frau, wie in vielen
weiteren Fällen, nicht. Das ist zwar nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch in
Ausnahmefällen möglich, wenn eine Entscheidung drängt, doch muss die
Anhörung dann „unverzüglich“ nachgeholt werden. Das es dazu kommen werde,
habe sie in der Akte auch noch vermerkt. Doch geschehen ist es in dem Fall
nicht mehr.
Insgesamt zählte Oberstaatsanwältin Carola Oelfke am Montagvormittag 15
solcher Vorwürfe auf. Betroffen von den Entscheidungen sollen sechs
Menschen sein, für die B. eine vorübergehende oder dauerhafte Unterbringung
genehmigt hatte, ohne sich an die gesetzlichen Vorgaben gehalten zu haben.
Jedoch betont die Angeklagte, dass sie in keinem der Fälle vorsätzlich
falsch gehandelt habe.
„Ich wollte stets alles richtig machen“, erklärte sie – und berichtete v…
ihrer Arbeitssituation in dem betreffenden Zeitraum: Sowohl das von ihr
besetzte Dezernat des Amtsgerichts als auch die Geschäftsstelle seien zu
dieser Zeit vollkommen überlastet gewesen.
B. habe noch versucht, dem erhöhten Arbeitsaufkommen nachzukommen. „Ich
habe durchgeknüppelt, auch am Wochenende“, sagte sie vor Gericht. Da sie
zum Zeitraum der Taten bereits mehr als 20 Jahre als Richterin tätig
gewesen war, habe sie gewusst, dass es im Richteramt immer mal wieder
Phasen der Mehrarbeit gibt – auf die dann aber ruhigere Phasen folgen. Das
sei am Rotenburger Amtsgericht jedoch nicht mehr der Fall gewesen.
Viel mehr würden sich am Amtsgericht gravierende Mängel zeigen: Nachdem das
Gerichtsdezernat, für das B. allein zuständig war und das solche
Betreuungsfälle behandelt, vor zwei Jahren auf zwei andere Richter:innen
aufgeteilt wurde, hätten beide schon kurz darauf bei der für die
Richter:innen zuständigen Beschwerdestelle mit einer Belastungsanzeige
auf das zu hohe Arbeitspensum hingewiesen – erfolglos.
Außerdem sei B.s Arbeitsbelastung mithin dreifach höher gewesen als die
Staatsanwaltschaft vermutet. Der Grund dafür seien sogenannte
„Geisterakten“. So sei zwar elektronisch einsehbar, für wie viele Fälle d…
Rotenburger Amtsrichter:innen jeweils zuständig sind, diese Zahlen
seien jedoch falsch: Es gebe diese Geisterakten, die die Richter:innen
ebenfalls bearbeiten, die aber in offiziellen Statistiken nirgendwo als
ihnen zugehörig vermerkt seien. Der Grund dafür sei eine mangelhafte EDV.
Entdeckt wurden die in der Anklage aufgeführten Fälle auch erst, nachdem es
zu einer Beschwerde an B.s. Arbeit durch ein anderes Gericht gekommen war:
Im Zuge von Rechtshilfeersuchen hatte B. auch Fälle eines anderen Gerichts
zu bearbeiten. Das stellte daraufhin eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen
B., wodurch stichprobenweise von B. behandelte Fälle überprüft wurden.
Dabei stellte die für die Prüfung zuständige Richterin aus Verden auch
fest, dass B. in den behandelten Fällen die sogenannten
Verfahrenspfleger:innen regelhaft erst nach ihrer Genehmigung zur
Unterbringung bestellte. Die Verfahrenspfleger:innen sollen jedoch
eigentlich in Verfahren vor dem Betreuungsgericht die Interessen des
Betroffenen vertreten – sie können vor Gericht Anträge stellen,
Rechtsmittel einlegen und an den Anhörungen teilnehmen.
Für die Verhandlung hat das Stader Landgericht noch sechs weitere Termine
bis Ende Februar angesetzt.
9 Jan 2023
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## AUTOREN
André Zuschlag
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Niedersachsen
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