# taz.de -- CDU-Politiker über Zukunft der Partei: „Zu viel über Migration … | |
> Dennis Radtke, Vorsitzender des CDU-Sozialflügels, spricht über die | |
> schwierige Abgrenzung zur AfD und über Mängel im schwarz-roten | |
> Koalitionsvertrag. | |
Bild: Dennis Radtke wünscht sich mehr steuerliche Entlastungen für kleinere u… | |
taz: Herr Radtke, kaum steht der Koalitionsvertrag, verhaken sich Union und | |
SPD öffentlich [1][bei Themen wie dem Mindestlohn]. Macht Schwarz-Rot | |
weiter, wo die Ampel aufgehört hat? | |
Dennis Radtke: Manchmal macht es aktuell den Eindruck, aber das ist | |
wirklich nicht empfehlenswert. Und an einigen Stellen kann ich es auch | |
inhaltlich nicht nachvollziehen. Beim Thema Mindestlohn war die | |
Formulierung schon im Sondierungspapier klar: Mit der Mindestlohnkommission | |
ist ein Mindestlohn von 15 Euro erreichbar. In ihrer neuen Geschäftsordnung | |
steht endlich der Bezug zu 60 Prozent Median drin, der Mindestlohn soll | |
also mindestens 60 Prozent des mittleren Einkommens bundesweit betragen. | |
Deshalb gehen die Kommissionsmitglieder auf beiden Seiten davon aus, dass | |
wir nächstes Jahr die 15 Euro knacken werden. Sollte das aber nicht der | |
Fall sein, steht im Koalitionsvertrag nichts davon, dass der Bundestag den | |
Mindestlohn anhebt. | |
taz: Der [2][Koalitionsvertrag] enthält viele Formelkompromisse, | |
Prüfaufträge, Kommissionen. Wäre es besser gewesen, trotz des Drucks noch | |
etwas länger zu verhandeln? | |
Radtke: Nein, denn ein Koalitionsvertrag ist sowieso kein Drehbuch für vier | |
Jahre. Der Koalitionsvertrag der Ampel war mit dem Ukrainekrieg hinfällig. | |
Es ist richtig, dass man sich auf zentrale Vorhaben verständigt hat, | |
beispielsweise: runter mit den Energiesteuern, rauf mit der | |
Pendlerpauschale. Über die Finanzierung der Sozialversicherung hätten wir | |
noch ein halbes Jahr verhandeln können. Konkrete Gesetzgebung kann man | |
nicht im Koalitionspapier vorwegnehmen. | |
taz: Bei Rente, Pflege, Krankenkasse gibt es im Koalitionsvertrag keine | |
Ideen, sondern nur Kommissionen. Schieben Sie alles weiter auf die lange | |
Bank, auch aus Angst vor dem eigenen Klientel? | |
Radtke: Bei den Kommissionen gibt es klare Zeitvorgaben, bei der Rente | |
sollen die Ergebnisse etwa im vierten Quartal dieses Jahres vorliegen. Das | |
zeigt, dass man das Thema anpacken will. Für die CDA | |
(Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft Deutschlands, d. Red.) ist | |
besonders wichtig, dass wieder klar zwischen echten Versicherungsleistungen | |
und versicherungsfremden Leistungen unterschieden wird. Versicherungsfremde | |
Leistungen gehören nicht von Beitragszahlern bezahlt. Eine | |
Bäckereifachverkäuferin in Wattenscheid finanziert über ihre | |
Krankenkassenbeiträge etwa die Krankenversicherung von Bürgergeldempfängern | |
mit. Der privatversicherte Rechtsanwalt tut das nicht. Das ist skandalös. | |
taz: Sie haben als neuer Chef der CDA, des CDU-Sozialflügels, in der | |
Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales mitverhandelt. Auf welches Ergebnis sind | |
Sie besonders stolz? | |
Radtke: Vielleicht werden Sie drüber lachen, aber besonders stolz bin ich | |
darauf, dass wir kostenfreies Duschen und kostenfreien Zugang zu Toiletten | |
für LKW-Fahrer festgeschrieben haben. Das ist für mich eine | |
Herzensangelegenheit. Ich war [3][bei streikenden LKW-Fahrern in | |
Gräfenhausen], die Arbeitsbedingungen im Bereich der europäischen Logistik | |
sind eine Schande. Da muss man die Kontrolle verschärfen, aber eben auch | |
ganz konkret helfen. | |
taz: Und wo hätten Sie sich mehr erhofft? | |
Radtke: Natürlich hätte ich mir beim Thema Tarifbindung mehr vorstellen | |
können, aber das sind eben umstrittene Themen, auch in meiner eigenen | |
Partei. Man sollte jetzt aber nicht darüber jammern, was nicht im | |
Koalitionsvertrag steht, sondern sagen, warum das eine gute Grundlage dafür | |
ist, dass wir dieses Land voranbringen. Sonst dreht sich die Stimmung in | |
der Bevölkerung nicht. | |
taz: Das Bürgergeld wird abgeschafft, Hartz IV is back… | |
Radtke: Nein. | |
taz: Aber nahezu. Die geplante Streichung der gesamten Leistungen bei | |
sogenannten Totalverweigerern könnte das Bundesverfassungsgericht kippen. | |
Macht das aus Ihrer Sicht wirklich Sinn? | |
Radtke: Anders als oft behauptet wird, geht es nicht um eine totale | |
Abschaffung des Bürgergeldes. Das klingt so, als würden wir Menschen, die | |
in Not sind, ohne staatliche Unterstützung zurücklassen. | |
taz: Den Ton hat Ihre Partei gesetzt. | |
Radtke: Ich muss ja nicht jedes Wording aus meiner Partei mit Jubelstürmen | |
quittieren. Die CDA hat damals das Papier zum Bürgergeld unterstützt und da | |
sind auch gute Aspekte drin. Es geht zum Beispiel auch um den qualitativen | |
Aspekt bei der Vermittlung in den Arbeitsmarkt. Mit dem Status quo können | |
wir da gerade mit Blick auf Langzeitarbeitslose nicht zufrieden sein. Die | |
Totalverweigerer sind nicht das Zentrale. | |
taz: Die hat vor [4][allem Ihr Generalsekretär] betont. Als die CDU ihr | |
Konzept vorstellte, haben Sie kritisiert, durch die Streichung bei den | |
Totalverweigerern habe eine Bäckereifachverkäuferin in Wattenscheid, die | |
Sie offenbar gerne bemühen, noch nicht mehr Geld in der Tasche. Was tun Sie | |
jetzt für diese Bäckereifachverkäuferin? | |
Radke: Natürlich gibt es Punkte im Koalitionsvertrag, von denen sie | |
profitiert, etwa die Erhöhung der Pendlerpauschale. Aber die Veränderung | |
des Steuertarifs und darüber Entlastungen für kleinere und mittlere | |
Einkommen, die stehen leider nicht drin. | |
taz: Nur das vage Versprechen, man werde die Einkommensteuer für kleine und | |
mittlere Einkommen zur Mitte der Legislatur senken – und das steht unter | |
Finanzierungsvorbehalt. | |
Radtke: Genau. Das ist extrem bedauerlich. Was im Geldbeutel dieser Leute | |
passiert ist, ist ja einer der Gründe [5][für die Erfolge der AfD.] Die | |
Energiekosten sind für Privathaushalte seit 2021 um 40 Prozent gestiegen, | |
bei den Lebensmitteln sind es 30 Prozent, die Bestandsmieten in Bochum | |
liegen jetzt 47 Prozent höher. Das haben wir im Wahlkampf viel zu wenig | |
adressiert und zu viel über Migration geredet. | |
taz: Bei der Bundestagswahl hat die AfD sehr gut abgeschnitten, in Umfragen | |
zieht sie inzwischen mit der Union gleich. Wird der Koalitionsvertrag | |
dieser Herausforderung überhaupt gerecht? | |
Radtke: Papiere sind nicht die Antwort. Das Wichtigste ist, dass wir Dinge | |
anpacken. Wir müssen dafür sorgen, dass die hart arbeitende Mitte wieder | |
mehr im Geldbeutel hat. Manche haben das Gefühl, sie arbeiten nur noch, um | |
zu überleben. Das frustriert. Dazu kommt der Eindruck, dass nichts mehr | |
funktioniert. In der Kita unseres Sohnes ist zum Beispiel ständig | |
Notbetreuung. Oder versuchen Sie mal, die Pflege zu organisieren, die Sie | |
für Ihre Angehörigen brauchen. Dazu: kaputte Straßen, die Bahn kommt nicht. | |
taz: Also ein Hoch auf das Sondervermögen Infrastruktur, das Teile Ihrer | |
Partei gar nicht wollten? | |
Radtke: Ja, wenn was draus gemacht wird. Wir müssen das Geld schnell und | |
zielgerichtet investieren – und das darf nicht so lange dauern wie bei der | |
Carolabrücke in Dresden. Nach der Flut in Nordrhein-Westfalen, bei Corona | |
oder bei den LNG-Terminals hat das geklappt. Das müssen jetzt die | |
Benchmarks sein. | |
taz: Apropos AfD: [6][Jens Spahn hat gerade vorgeschlagen, dass man mit der | |
AfD im Bundestag umgehen sollte wie mit anderen Oppositionsparteien auch.] | |
Ist es eine gute Idee? | |
Radtke: Ich finde diese ganze Debatte ebenso überflüssig wie schädlich. Das | |
Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass die Geschäftsordnung des | |
Deutschen Bundestages zulasten der AfD nicht verletzt worden ist. In keinem | |
einzelnen Fall. Es gibt also keine Pflicht, jemanden von der AfD in ein Amt | |
zu wählen. Und deshalb sollten wir das nicht tun. Punkt. Es darf keine | |
Debatte über eine Normalisierung der AfD geben, weil sie keine normale | |
Partei ist. Und dieses Argument, wir können ja die Wähler nicht missachten: | |
Wenn morgen in Deutschland fünf Millionen Menschen die Wiedereinführung der | |
Todesstrafe fordern oder sieben Millionen Menschen die Abschaffung unserer | |
parlamentarischen Demokratie, dann ist das eine erdrückende Anzahl an | |
Menschen. Falsch bleibt es trotzdem. | |
taz: Was heißt ein solcher Vorstoß für Ihre Partei? | |
Radke: So entsteht der Eindruck, dass der CDU der Kompass völlig | |
abhandengekommen ist. Als wären Menschen in der CDU offen dafür, die AfD zu | |
normalisieren. Erst diese gemeinsame Abstimmung über einen | |
Entschließungsantrag mit der AfD im Bundestag und jetzt das. Das schadet | |
unserer Partei und hat ihr auch bei der Bundestagswahl geschadet, weil | |
Wechselwähler in der Mitte verschreckt wurden. Mich hat damals auch | |
geärgert, wie mit der Kritik der Kirchen umgegangen worden ist. | |
taz: Die haben die CDU wegen der gemeinsamen Abstimmung mit der AfD scharf | |
kritisiert. | |
Radtke: Ja, und ich finde es maximal irritierend, dass wir meinen, wir | |
hätten das Recht, die Kirchen zurechtzuweisen und in ihrer Kommunikation | |
auf ihre vermeintlichen Kernaufgaben zurückzudrängen, wie Julia Klöckner | |
das jetzt getan hat. Die Kernaufgabe von Kirche ist die Verkündigung des | |
Evangeliums und die Lehre von Jesus Christus. Überall da, wo Kirchen der | |
Meinung sind, das kollidiert mit der Politik, hat Kirche natürlich das | |
Recht und auch die Pflicht, sich zu Wort zu melden. Es ist nicht unsere | |
Aufgabe als CDU, diese Kritik eins zu eins zu übernehmen, wir sind nicht | |
ihr politischer Arm. Aber unsere Aufgabe ist schon, uns ernsthaft mit | |
dieser Kritik auseinanderzusetzen. Und damit bin ich wieder bei der Frage | |
der Orientierungslosigkeit und dem Kompass der CDU. | |
taz: Nochmal zurück zu Jens Spahn: Der Politikwissenschaftler Andreas | |
Püttmann meint, weil er als möglicher Fraktionschef gehandelt wird, müsse | |
Spahn eigentlich den Ball flach halten. Dass er das nicht tue, zeige, für | |
wie schwach er den liberalen Flügel der CDU hält. Wie schwach ist die CDA? | |
Radtke: Ach was, schwach. Ich würde nicht sagen, der liberale Flügel oder | |
der christlich-soziale Flügel ist schwach. Wir haben eine besondere | |
Vorstellung von Loyalität und Geschlossenheit und Teamgeist. | |
taz: Und was heißt das? Inzwischen hört man mehr Kritik von | |
Wirtschaftsliberalen und [7][Konservativen an Friedrich Merz] als vom | |
Sozialflügel. | |
Radke: Diejenigen, die Friedrich Merz über Jahre hinweg geradezu | |
messianische Fähigkeiten zugesprochen haben, sind nun enttäuscht, dass er | |
gar nicht übers Wasser gehen kann. Sondern dass er jetzt, wo er bald zum | |
Bundeskanzler gewählt wird, Realpolitik macht und Kompromisse machen muss. | |
Es ist fast schon ein Witz: Ich habe bei allen drei Anläufen von Friedrich | |
Merz, Parteichef zu werden, für die anderen Bewerber gestimmt. Die Partei | |
hat am Ende anders entschieden. Und selbstverständlich hat er als | |
Vorsitzender meine Loyalität und ich werde alles dafür tun, dass er ein | |
erfolgreicher Bundeskanzler wird. Eine solche Vorstellung von Teamplay | |
erwarte ich eigentlich auch von allen anderen. | |
taz: In der CDU und auch in der Fraktion hat die Mittelstandsvereinigung | |
eine ziemliche Übermacht. Sie sind seit einem halben Jahr CDA-Vorsitzender. | |
Wie wollen Sie den Sozialflügel stärken?Radtke: Die Unwucht in Richtung | |
Mittelstandsvereinigung ist ein Ergebnis der Entwicklung der letzten 20, 25 | |
Jahre. Früher war die Junge Union gemeinsam mit der CDA die progressive | |
Speerspitze der Partei, dann wurde sie unter Müller und Missfelder in eine | |
strategische Partnerschaft mit der Mittelstandsunion geführt. Ich | |
kritisiere das gar nicht, ich stelle das nur fest. So hat sich über die | |
Jahre der Delegiertenkörper auf Parteitagen verändert, vor Ort wurden | |
andere Kandidaten aufgestellt. Die, die vor 20 Jahren so in der JU | |
angefangen haben, sind heute an vielen Stellen die Führung der Partei auf | |
allen Ebenen. Die CDA hat nach wie vor tolle Leute in der | |
Bundestagsfraktion, auch in vielen Landtagsfraktionen und im Europäischen | |
Parlament. Meine Aufgabe ist es, diese Leute stärker ins Schaufenster zu | |
stellen und bei der Parteiführung anzumahnen: Es ist euer Job, dafür zu | |
sorgen, dass auch die christlich-soziale und die liberale Wurzel der Partei | |
weiterhin erkennbar sind. | |
21 Apr 2025 | |
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