# taz.de -- Wissenschaftliche Debatte um Migration: Menschenrechte, aber nicht … | |
> Der Diskurs über Geflüchtete wird feindseliger – auch Forscher wie Daniel | |
> Thym tragen zur Erosion des menschenrechtlichen Konsenses bei. Eine | |
> Replik. | |
Bild: Nicht einladend: Ein Blick in ein Standard-Zweibettzimmer in einer Unterk… | |
Schon 2018 bezeichnete der damalige [1][Bundesinnenminister Horst Seehofe]r | |
(CSU) die Migration als „Mutter aller Probleme“. Die seither sich | |
entwickelnde [2][gesellschaftspolitische Debatte] zeigt, dass diese | |
Diagnose mittlerweile zum parteiübergreifenden Konsens geworden ist. Wer | |
sich heute öffentlich über das Migrationsgeschehen äußert, spricht in aller | |
Regel im selben Atemzug von Überforderung und Begrenzung. | |
Asylsuchende begegnen uns im Alltag zwar kaum, weil sie zumeist eine | |
räumlich abgeschottete und sozial isolierte Existenz fristen. | |
Politisch-medial aber verfolgen sie uns auf Schritt und Tritt: als | |
Gefährder, Messerstecher, „Sozialschmarotzer“ und Sexualstraftäter. Die | |
Öffentlichkeit hat sich darauf verständigt, dass Migration das Problem ist, | |
an dessen Bewältigung sich das Schicksal des Gemeinwesens entscheiden wird. | |
In allerjüngster Zeit hat die migrationspolitische Debatte eine neue | |
Wendung hin zum Autoritären genommen. Die Koalitionsverhandlungen wurden | |
von Stimmen begleitet, die geltendes Recht und dessen höchstrichterliche | |
Interpretation infrage stellen. | |
Ein medial präsenter Diskursteilnehmer aus der Wissenschaftssphäre ist in | |
diesem Zusammenhang der Konstanzer Rechtsprofessor Daniel Thym. Die | |
Asylpolitik müsse, so Thym in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, „auch | |
über die Menschenrechte sprechen“ – so „wie deutsche Politik dies vor dem | |
Asylkompromiss von 1993 gemacht“ habe. | |
Wir erinnern uns: Um dem im vereinten Deutschland gegen Ausländer:innen | |
hetzenden, marodierenden und mordenden Mob den Wind aus den Segeln zu | |
nehmen, vereinbarten schwarz-gelbe Bundesregierung und oppositionelle SPD | |
eine Aushöhlung des Grundrechts auf Asyl durch die Konstruktion der Figur | |
[3][„sicherer Drittstaaten“]. Dieser Logik folgt hiesige Politik bis heute: | |
Egal was das „Problem“ der Migration ausmacht, als angebliche Lösung wird | |
die Entrechtung der Migrierenden ausgemacht. | |
## Unveräußerlichkeit der Menschenrechte | |
Dabei gibt man sich wenig zimperlich. „Für einen Systemwechsel wird uns nur | |
eins übrigbleiben: Wir müssen die Menschenrechte weniger streng handhaben“, | |
warb Thym in einem Interview mit dem Spiegel. | |
Auch hier lohnt sich zu erinnern: 1948 hatte die UN-Generalversammlung die | |
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet, die für alle Menschen | |
die „gleichen und unveräußerlichen Rechte“ setzt, da deren Nichtanerkennu… | |
und Verachtung „zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der | |
Menschheit mit Empörung erfüllen“. | |
Für das Grundgesetz der Bundesrepublik war die Unveräußerlichkeit der | |
Menschenrechte leitend, davon zeugt der erste Satz seines ersten Artikels. | |
Nun aber scheint dieses Prinzip nicht mehr hoch im Kurs zu stehen, bei der | |
politischen Rechten nicht, aber auch nicht im Feld des Rechts. | |
Wer wie Hans-Eckard Sommer, Präsident des Bundesamts für Migration und | |
Flüchtlinge, die Abschaffung des Asylgrundrechts fordere, bewege sich „in | |
der ‚demokratischen Mitte‘ im Sinne der freiheitlich-demokratischen | |
Grundordnung“, so Thym in der FAZ. | |
„Humanität und Ordnung“ müssten „neu kombiniert“ und das vermeintlich | |
zurückgestellte nationale Eigeninteresse wieder zur Leitidee der | |
Migrationspolitik werden. Im Redaktionsnetzwerk Deutschland macht sich Thym | |
zum politischen Anwalt dieses Interesses der Deutschen an sich selbst: „Wir | |
müssen uns ehrlich machen: Wir sind durchaus egoistisch. Wir sind im | |
globalen Maßstab allesamt reich. … Und diesen Reichtum wollen wir nicht mit | |
allen Menschen teilen.“ | |
Das ist es wohl, was mit einer nicht nur von „Asyl-Professor Thym“ (Bild) | |
geforderten Debatte „ohne Scheuklappen“ gemeint ist. Als ob es solche | |
Diskurseinschränkungen zuvor überhaupt gegeben hätte. | |
Vielmehr erschien in der Migrationspolitik zuletzt kein Vorschlag zu | |
abseitig, keine Vorstellung zu menschenverachtend, um sie nicht zumindest | |
zu erwägen: von der Einführung der Bezahlkarte, die Asylbewerber:innen | |
wirtschaftliche Bürgerrechte verwehrt, über die von Ex-Bundeskanzler Scholz | |
versprochene „Abschiebung im großen Stil“ bis hin zu Asylverfahren an den | |
europäischen Außengrenzen oder gleich irgendwo in Afrika. | |
## Schöne neue Welt der Nationalstaatsgemeinschaften | |
Migrationspolitisch sind „Scheuklappen“ nur schwer zu erkennen: Hier wähnt | |
sich die nationale Interessengemeinschaft bedroht und souverän zugleich, | |
lassen die Beteiligten in der Debatte ihren Gewaltfantasien freien Lauf, | |
meinen politisch Verantwortliche durch die Zurschaustellung von Härte beim | |
Wahlvolk punkten zu können. | |
Im Falle Thyms ist dessen zunehmend schärfere Kritik an der herrschenden | |
Rechtspraxis von besonderem Interesse, da er lokaler Sprecher des an elf | |
Universitäten angesiedelten Forschungsinstituts Gesellschaftlicher | |
Zusammenhalt (FGZ) ist, das in seiner Forschung den Kriterien eines | |
„demokratischen Zusammenhalts“ besondere Aufmerksamkeit widmet. | |
Eine Gesellschaft aber, die sich dem Demokratieprinzip verschrieben hat, | |
kann die Menschenrechte nicht bloß selektiv oder konjunkturell gelten | |
lassen – sonst wird ihr Zusammenhalt zu einer exklusiven, nicht allein mit | |
Rechtsgewalt zu sichernden Veranstaltung. Unter der Prämisse weniger streng | |
gehandhabter Menschenrechte wird der „Zusammenhalt“ zur politischen | |
Metapher für gesellschaftliche Integration durch Ausschluss. | |
Dass aber die autoritäre Grenzziehung zwischen einem gesellschaftlichen | |
Innen und Außen ohne Weiteres auch in die Binnenunterscheidung von würdigen | |
und unwürdigen Staatsbürger:innen umschlagen kann, zeigt gerade die | |
deutsche Geschichte. | |
In der schönen neuen Welt grenzsouveräner Nationalstaatsgemeinschaften | |
werden Menschenrechte nachrangig und die Menschenwürde verhandelbar. | |
Offenkundig sind gesellschaftliche Mehrheiten für derartige Vorstellungen | |
einer vermeintlichen Krisenlösung empfänglich. | |
Wer sie propagiert, sollte aber zumindest darauf verzichten, dies als | |
Ausweis gesunden Menschenverstands und konservativen Akt der | |
Neukalibrierung der Menschenwürde zu verkaufen. Ehrlicherweise wäre der | |
„Systemwechsel“ als das zu benennen, was er ist: die weitere Verschärfung | |
einer Migrationspolitik, die über Leichen geht. | |
25 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Sina Arnold | |
Stephan Lessenich | |
Maren Möhring | |
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