| # taz.de -- Kritische Kunst trifft auf Orthodoxie: Freie Liebe | |
| > Bildende Kunst, die sich kritisch der Welt zuwendet, und das | |
| > ultraorthodoxe Judentum sind eigentlich unvereinbar. In Jerusalem kommt | |
| > beides zusammen. | |
| Bild: Noa Lea Cohen leitet die Art Shelter Gallery in Jerusalem | |
| Noa Lea Cohn sitzt mit weißer Pelzmütze und roter Brille in einem | |
| Luftschutzbunker. Der liegt direkt unter einem Kinderspielplatz in Mekor | |
| Baruch, einem ultraorthodoxen Viertel in Jerusalem. Zwischen den | |
| unterirdischen massiven Betonwänden des Bunkers hat Cohn die Art Shelter | |
| Gallery eingerichtet, einen Raum für aktuelle Kunst. Seit 2017 leitet sie | |
| ihn. Nicht alle in der Nachbarschaft begrüßen Cohns Projekt. „Es ist nicht | |
| einfach“, sagt sie. „Aber mein Ziel ist, eine Art Kunsterziehung für die | |
| Community hier zu ermöglichen.“ | |
| In dem fensterlosen Raum hängen die Arbeiten diverser Künstler:innen aus | |
| der Haredim – so lautet die Selbstbezeichnung der streng religiösen | |
| jüdischen Gemeinschaft. Wörtlich übersetzt: die „Erzitternden“ (vor Gott… | |
| An den Wänden sind Flügel aus Beton aufgehängt. Sie haben etwas | |
| Bedrückendes, sind zu gewichtig, um mit ihnen zu fliegen. Oder Papphäuser | |
| stehen herum. Mit gläsernen Füßen, als sei das „Zuhause“ ein zerbrechlic… | |
| Konzept und könne man jederzeit wieder entwurzelt werden. | |
| Bei einigen Kunstwerken tauchen Bunker und Keller wieder auf – Räume, in | |
| denen Israelis seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder Schutz suchen müssen, | |
| wenn Raketen aus Gaza, dem Jemen, dem Iran oder dem Libanon abgefeuert | |
| werden. Auch die Galerie selbst ist immer noch ein aktiver | |
| Luftschutzbunker. „Das bereitet mir große Kopfschmerzen“, sagt Cohn, die | |
| von einem richtigen Kunstmuseum träumt. „Wir können nicht mehr in einem | |
| Bunker sein. Ich brauche eine angemessene, oberirdische Location.“ | |
| Die Art Shelter Gallery ist der erste und derzeit einzige Raum für bildende | |
| Kunst für eine ultraorthodoxe Community. Er wurde 2003 von einer Gruppe | |
| Künstler:innen gegründet, dabei waren unter anderem Uri Zohar, Mordechai | |
| Arnon und Ika Yisraeli. „Das waren Prominente aus Kunst und Kultur, die | |
| nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 – ein traumatisches Erlebnis für Israel – | |
| sich Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen begannen“, erklärt | |
| Cohn. | |
| ## Vorbild für die Kultserie „Shtisel“ | |
| Und die einst Säkularen Zohar, Arnon und Yisraeli, teils durch ihre wilden | |
| öffentlichen Auftritte bekannt, wurden fündig in den Jeschiwot, den | |
| traditionellen, religiösen Schulen. „Sie wurden sehr religiös, und das war | |
| ein Schock in der israelischen Kulturszene.“ Cohns Art Shelter soll Pate | |
| gestanden haben [1][für die preisgekrönte Kultserie „Shtisel“], die | |
| inzwischen in der Arte-Mediathek abrufbar ist. | |
| Protagonist ist der haredische Künstler Akiva Shtisel, der seinen Lehrerjob | |
| in einem Cheder, der religiösen Schule, gerne hinschmeißen würde. Er träumt | |
| vielmehr von einem Leben als Künstler – und stößt damit immer an die | |
| Grenzen der ultraorthodoxen Gesellschaft. „Der Drehbuchautor hat hier Kunst | |
| gelernt, er hat die Stimmung eingefangen, die in verschiedene Szenen | |
| eingeflossen ist“, sagt Cohn. | |
| Die Brücke, die Noa Lea Cohn mit ihrem Kunstprojekt bauen will, verbindet | |
| nicht nur gesellschaftlich zwei Welten. Auf der einen Seite der Galerie | |
| beginnt das berüchtigte, noch strengere Viertel Me’a She’arim. Dort werden | |
| Touristen durch Transparente gerne mal gewarnt, dass ihre Smartphones | |
| beschlagnahmt werden, wenn sie diese auf offener Straße verwenden. | |
| Auf der anderen Seite entstehen mit dem Immobilienprojekt „Midtown | |
| Jerusalem“ glänzende Glastürme mit Luxuswohnungen. „Während die israelis… | |
| Gesellschaft immer digitaler, moderner und säkularer wird, reagiert die | |
| Haredim-Community darauf, indem sie sich immer mehr in ihre Identität | |
| vertieft“, sagt Cohn. „Diese Dynamik führt zunehmend zu Spannungen zwischen | |
| den beiden Welten.“ Und zwischen diesen Welten verortet sich Cohn. | |
| ## Rückkehr zur orthodoxen Spiritualität | |
| Die promovierte Kunsthistorikerin beschreibt sich selbst als | |
| „modern-haredisch“, vergleicht sich mit der Chabad-Bewegung, die eine | |
| traditionelle Theologie in die jüdische Mehrheitsgesellschaft hineinträgt. | |
| 2022 erschien ihre Dissertation, die sie zu den Baal Teschuwa in der | |
| Kunstszene schrieb – zu säkularen Künstler:innen, die wie die | |
| Gründungsmitglieder der Art Shelter Gallery zu einer orthodoxen | |
| Spiritualität zurückkehrten. | |
| Mit der Galerie will Cohn ultraorthodoxen Künstler:innen einen Raum | |
| geben. „Denn es gibt einfach keine Vorbilder, sie sind wirklich Pioniere.“ | |
| In der streng gläubigen Gemeinschaft wird Kunst von einigen als Ablenkung | |
| vom Studium der Tora und dem Talmud gesehen. Hinzu kommt, dass es wenige | |
| Ateliers und Galerien gibt, die auf ihre Sitten und Regeln achten. | |
| Insbesondere Frauen möchte Cohn fördern, organisiert Workshops, in denen | |
| sich Agent- und Kurator:innen kennenlernen können, stellt ihre Werke | |
| regelmäßig aus. | |
| Denn Herausforderungen gibt es viele: Ultraorthodoxe Frauen gebären laut | |
| dem Israeli Democracy Institute im Schnitt 6,4 Kinder, Cohn selbst ist | |
| fünffache Mutter. Und während Frauen oft mit dem Haushalt beschäftigt sind, | |
| verdienen Männer in der Regel sehr wenig. „Es ist hart, da bleibt nicht | |
| viel Zeit übrig“, sagt sie. Auch Kunstformen, die früher in der haredischen | |
| Gesellschaft undenkbar gewesen wären, unterstützt Cohn. Bei einem | |
| Spaziergang im Viertel zeigt sie auf Graffitis. | |
| Auf einem, das während der Coronapandemie entstanden ist, sind | |
| ultraorthodoxe Männer mit Gesundheitsmasken zu sehen. Sie singen und | |
| spielen Keyboard. „Damals wurden Haredim noch mehr ausgeschlossen, weil sie | |
| zu Unrecht vom Rest der Gesellschaft als Virenschleuder wahrgenommen | |
| wurden“, sagt sie. Andere Graffitis lassen sich unter haredischen | |
| Gesichtspunkten gar als Provokation verstehen: „Ahavat chinam“, so lautet | |
| ein Schriftzug – „freie Liebe“. | |
| ## Comicboom innerhalb der haredischen Gesellschaft | |
| Seit fünf Jahren veranstaltet die Art Shelter Gallery eine Comictagung. | |
| Cohn spricht von einem regelrechten Comicboom innerhalb der haredischen | |
| Gesellschaft. Selbst in Me’a She’arim hätten manche Buchläden ein | |
| Comicregal. Doch statt [2][Superman oder Spider-Man] gibt es eigene | |
| Leitfiguren wie die Fearful Heroes, die gegen Nazis kämpfen. Zu diesen | |
| haredischen Helden forscht Cohn aktuell an der Brandeis University in | |
| Boston. | |
| Ein Thema prägt die Art Shelter Gallery zutiefst: der 7. Oktober 2023. Kurz | |
| nach dem Hamas-Massaker sollte die Galerie ihr 20-jähriges Jubiläum feiern, | |
| aber dieser Tag habe alles auf den Kopf gestellt, sagt Cohn. „Wir konnten | |
| nicht einfach weitermachen.“ Direkt nach dem Angriff ließ die Galerie bei | |
| einer öffentlichen Aktion alle Namen der rund 250 Geiseln der Hamas | |
| ausrufen und auf eine schwarze Leinwand schreiben. Bis heute steht diese | |
| Liste am Bunkereingang. | |
| Ende 2024 fand eine Ausstellung von Yechiel Ofner statt: Der Künstler, | |
| Anhänger der Chabad-Bewegung, [3][dient in einer religiösen Armeeeinheit,] | |
| er identifiziert dort Leichen. Am 7. Oktober und den Tagen danach war er im | |
| Einsatz. Als er die Überreste einer Familie im Kibbuz Kissufim entdeckte, | |
| fing er an, an der rußgeschwärzten Wand des ausgebrannten Hauses zwei | |
| Soldat:innen zu malen, die ein Kind schützen. „Es war eine emotionale | |
| Befreiung in diesem Moment“, sagte Ofner in einem Interview. Auf den | |
| schwarz gestrichenen Wänden der Art Shelter Gallery zeichnete Ofner später | |
| das Bild in Kreide nach. | |
| Die Zeichnung in Kissufim wurde erst entdeckt, als die Kibbuzniks Monate | |
| nach dem Angriff wieder zu ihrer zerstörten Community zurückkehrten. „Sie | |
| haben dabei nicht erwartet, dass dahinter ein haredischer Soldat steckt“, | |
| sagt Cohn. Das originale Wandstück wurde entfernt, bevor das zerstörte | |
| Familienhaus abgerissen wurde, und wird nun in den israelischen | |
| Staatsarchiven aufbewahrt. Wenn auch der Anlass tieftraurig ist, für Cohn | |
| sind sich damit die zwei getrennten Welten ein Stück näher gekommen, | |
| zwischen denen das Art Shelter steht. | |
| 17 Apr 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nicholas Potter | |
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