# taz.de -- Yehudis Fletcher über ihre Autobiografie: „Ich bin die verkörpe… | |
> Die Autorin Yehudis Fletcher ist Mitglied einer ultraorthodoxen jüdischen | |
> Gemeinschaft in Manchester und lebt offen lesbisch. Wie geht das | |
> zusammen? Darüber hat sie ein Buch geschrieben. | |
Bild: Yehudis Fletcher bereitet vor dem Schabbat das Essen vor für Freunde und… | |
An einem Vormittag im Juni empfängt Yehudis Fletcher in ihrem Haus im | |
jüdisch-orthodoxen Viertel Manchesters. Kürzlich hat sie ihre Autobiografie | |
veröffentlicht, deshalb sind wir zum Gespräch verabredet. Auf dem Esstisch | |
steht ein Laptop, daneben stapeln sich Dokumente, sie scheint voll in der | |
Arbeit zu stecken. Ihre Partnerin und zwei ihrer Kinder im Teenageralter | |
sind auch zu Hause, sie schauen während des Interviews kurz herein. | |
taz: Frau Fletcher. Sie leben als orthodox-jüdische Frau. Hat Ihr Tag heute | |
mit Morgengebeten begonnen? | |
Yehudis Fletcher: Beten habe wir heute noch nicht geschafft. Normalerweise | |
versuchen meine Lebenspartnerin und ich zusammen zu beten. Ich musste heute | |
aber meinen ältesten Sohn um 5.45 Uhr in die Schule fahren, weil er das | |
Frühstück jüngerer Schüler beaufsichtigt, die vor dem Unterricht Thora | |
lernen wollen … | |
taz: … also das Alte Testament. Sie sprechen von Ihrem Sohn Noam, richtig? | |
Fletcher: Ja, wobei die Namen im Buch nicht die echten meiner Kinder sind, | |
sondern die Namen, die ich vor ihrer Geburt ausgesucht hatte. Es wurde mir | |
nicht gestattet, die Kinder so zu nennen. Bei uns ist es so, dass der Rabbi | |
einen Namen erlauben muss, und er hat meine Vorschläge abgelehnt. | |
taz: Ein ziemlicher Eingriff. | |
Fletcher: Ja, eigentlich ist die Namensgebung das Recht der Mutter, aber | |
bei unserer Form der messianischen Tradition entscheidet der Rabbi. | |
taz: Wie ging Ihr Vormittag weiter? | |
Fletcher: Meine Partnerin hat mir Kaffee und Ei gekocht. Nach dem Frühstück | |
habe ich mich mit einem Wissenschaftler ausgetauscht, der sich mit der | |
ultraorthodoxen Gemeinschaft beschäftigt, danach hatte ich ein Meeting mit | |
einer großen Hilfsorganisation. Und jetzt sind Sie da. | |
taz: Sie haben vor Kurzem Ihre Autobiografie veröffentlicht. Ist es Ihr | |
erstes Buch? | |
Fletcher: Nein, mein erstes Buch habe ich mit sechs Jahren geschrieben, ich | |
habe es selbst illustriert. Ich kann mich noch an den Aufbau erinnern und | |
dass ich die Seiten zusammenband. Mit 16 habe ich dann einen Blog | |
geschrieben. Auf die Idee, meine Autobiografie zu schreiben, bin ich vor | |
vier Jahren gekommen, nach einem wahnsinnigen Streit mit einem meiner | |
Brüder. | |
taz: War das der Moment, als Sie ihm sagten, dass Sie lesbisch sind? | |
Fletcher: Genau. Er beschimpfte mich als Schwein. Ich bin wütend aus seinem | |
Büro in den Regen gestürzt und landete völlig durchnässt im Park. In meiner | |
Verzweiflung rief ich eine Freundin an, die Journalistin ist. Sie schlug | |
vor, dass ich über mein Leid, über die Homophobie, die ich erlebte, | |
schreiben sollte. | |
taz: Und das haben Sie getan. | |
Fletcher: Ja. Ich wollte gehört werden, ich wollte nicht mehr im | |
Verborgenen sein. In einer ultraorthodoxen Gemeinschaft zu leben bedeutet | |
eine große Einschränkung. In meiner Geschichte geht es aber nicht nur um | |
verrückte religiöse Fanatiker:innen, sondern generell darum, welchen | |
Schaden Ideologien anrichten können. Wahrscheinlich können sich die Leute | |
in Deutschland, die in der DDR die Stasi erlebt haben, am besten | |
vorstellen, wie es in meiner Gemeinschaft zugeht. | |
taz: Es gibt eine starke Kontrolle? | |
Fletcher: Die Gemeinschaft ist hierarchisch organisiert. Es werden | |
Druckmittel benutzt, damit die Normen eingehalten werden. Ich hatte zum | |
Beispiel Schwierigkeiten, als offen lesbische Frau meine Kinder in | |
jüdischen Schulen unterzubringen. | |
taz: Sie beginnen Ihr Buch mit dem Akt einer Rebellion. Sie sind sechs | |
Jahre alt und waschen heimlich Ihre Hände nicht nach dem traditionellen | |
Ritus vor dem Schabbatmahl. Was war das für ein Moment? | |
Fletcher: Das rituelle Händewaschen bezieht sich auf das Wegwaschen von | |
potenziellen Dämonen, als wäre etwas mit meinem Körper verkehrt. Ich wollte | |
das testen. Dieser Moment spricht für mich, der unreinen Person per se, die | |
ich in den Augen vieler orthodoxer Juden bin. Es ist der Faden, der sich | |
durch mein ganzes Leben zieht. | |
taz: Ihre Eltern gingen mit Ihnen und Ihren Geschwistern nach Israel. Als | |
Jugendliche fühlten Sie sich dort so isoliert, dass Sie versuchten, sich | |
das Leben zu nehmen. Ihre Eltern schickten Sie daraufhin nach England | |
zurück, wo Sie als 15-Jährige bei einem pädophilen ultraorthodoxen Mann | |
wohnten. | |
Fletcher: Er hat versucht mein Vertrauen zu erschleichen, um mich dann | |
sexuell zu missbrauchen. Damals hatte ich noch nicht die Worte, um das auch | |
so zu benennen. Ich glaubte, dass ich sündige, weil ich nicht verhindern | |
konnte, dass dieser Mann durch mich verführt wurde. | |
taz: Rabbiner des Beit Din, des traditionellen religiösen jüdischen | |
Gerichts, konfiszierten daraufhin Ihr Beweismaterial und empfahlen dem | |
Täter eine Therapie. | |
Fletcher: Das Beit Din hätte die Polizei verständigen und den Missbrauch | |
melden müssen. Stattdessen haben sie versucht, ihn zu vertuschen. Sie | |
schlugen auch vor, dass die Töchter des Täters lange Morgenröcke tragen | |
sollten. Damit sagten sie nichts anderes, als dass junge Mädchen in Pyjamas | |
zu verführerisch sind. | |
taz: Die Verantwortung wurde den Mädchen zugeschoben. | |
Fletcher: Man muss ausgebildet sein, um mit sexuellem Missbrauch richtig | |
umzugehen. So eine Ausbildung fehlt Rabbinern. Missbrauch hat nichts mit | |
Scheidungen, koscherem Essen oder finanziellem Streit zu tun, also all den | |
Dingen, womit sie sich auskennen. Bei mir hatten sie vor allem im | |
Hinterkopf, wie es aussieht. Man wollte das störende Mädchen, das | |
unangenehme Sachen sagt, zum Schweigen bringen. Dabei wussten alle in der | |
Gemeinschaft, dass er ein Kinderschänder war. Trotzdem durfte er seine | |
eigenen Sommerlager veranstalten und Mitbewohner:innen haben. | |
taz: Niemand hatte Sie oder Ihre Eltern gewarnt, besser nicht bei ihm | |
einzuziehen? | |
Fletcher: Nein. Ich glaube, es mangelte am Verständnis dafür, was | |
Missbrauch bei Kindern anrichtet. Die Leute sagten: Schaut euch das arme | |
Mädchen an, ihre Eltern können sich nicht um sie kümmern. So rechtfertigten | |
sie das. | |
taz: Jahre später wurde der Mann, der Sie missbraucht hatte, zu 13 Jahren | |
Haft verurteilt. | |
Fletcher: Ich sagte als Zeugin in dem Prozess gegen ihn aus. Dass er | |
schuldig gesprochen wurde, war natürlich gut. Solange er hinter Gittern | |
saß, war Manchester etwas sicherer. Für mich war aber vor allem wichtig, | |
Teil des Prozesses zu sein, denn es bedeutete, dass ich vor dem Gesetz als | |
Person zähle. | |
taz: In Ihrem Buch schildern Sie den sexuellen Missbrauch schockierend | |
konkret. War es schwer, das aufzuschreiben? | |
Fletcher: Es sind Einzelheiten, die ich nicht vergessen kann, und statt sie | |
in meinem Kopf herumspuken zu lassen, habe ich sie auf Papier gebracht. So | |
bekomme ich sie aus meinem Körper. Der Prozess des Schreibens half mir auch | |
bei der Einordnung. Manche Sachen habe ich erst da verstanden. | |
taz: Als junge Erwachsene blieben Sie zunächst den traditionellen | |
religiösen Erwartungen an Sie treu. | |
Fletcher: Ich wurde zweimal verheiratet und zweimal geschieden. Meine | |
Familie arrangierte die Ehen nach traditionellem Brauch. Mein erster | |
Ehemann war sehr gewalttätig. Ich entkam ihm und musste dann beweisen, dass | |
die Scheidung nicht meine Schuld war. Im orthodoxen Judentum kann eine Frau | |
sich genauso wenig von einem Mann trennen wie ein Pferd sich von seiner | |
Besitzer:in. Ich hatte ihn im Ehebett mit einer Frau erwischt, das half | |
mir. Ich unterschrieb ein Dokument, dass ich das nie gesehen hätte, man gab | |
mir 10.000 Pfund … | |
taz: … umgerechnet 11.700 Euro. | |
Fletcher: Die Scheidung war eine Art Tauschgeschäft. Ich besitze das | |
Dokument bis heute, eine Kopie davon liegt im Jüdischen Museum in | |
Manchester. Es soll zeigen, in was für unmögliche Situationen Frauen | |
gebracht werden können. Mit 19 war ich also bereits einmal geschieden und | |
heiratete wieder. | |
taz: Sie lebten in der zweiten Ehe, hatten drei Kinder, als Sie sich zu | |
Ihrer Homosexualität bekannten. Wie kam es dazu? | |
Fletcher: Schon als ich 17 Jahre alt war, wurde mir klar, dass ich lesbisch | |
bin. Mein Rabbiner sagte mir, dass dieses Gefühl für Frauen mit meiner Ehe | |
verschwinden würde. Heute weiß ich, dass das nicht wahr ist, aber damals | |
wollte ich, dass der Rabbiner recht hat. Ich glaubte, dass ein liebender | |
Ehemann mich hetero machen könnte. Es klappte nicht. Eines Tages stand ich | |
in einer Bar für Lesben in London und wurde leidenschaftlich von einer Frau | |
abgeknutscht. Von da an gab es kein Zurück mehr. Ich trennte mich von | |
meinem zweiten Ehemann. Er stand der Scheidung nicht im Wege. Meine drei | |
Kinder leben heute bei mir. | |
taz: Als lesbische geschiedene Frau wagten Sie den Bruch mit der Tradition. | |
Wie hat Ihr Umfeld, mal abgesehen von Ihrem Bruder, reagiert? | |
Fletcher: Einige haben das akzeptiert. Für andere ist es wichtiger, Teil | |
unserer Community und ihres Gedankenguts zu bleiben, etwa für meine Mutter. | |
Sie hat selbst keinen ultraorthodoxen Hintergrund, sie hat Literatur | |
studiert und ist ausgebildete Lehrerin, aber sie heiratete meinen Vater. | |
Sie will vor allem keinen Streit. Sie rennt durchs Leben, ist immer | |
beschäftigt, geht auf Hochzeiten, da bleibt wenig Platz für eine Reflexion | |
der Gefühle, wie ich sie von ihr erwarten würde. | |
taz: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie es sich erlauben, in der | |
ultraorthodoxen Gemeinschaft zu bleiben. Was heißt das genau? | |
Fletcher: Ja, das Bleiben ist mir persönlich sehr wichtig. Die Leute sagen: | |
Wenn es dir nicht gefällt, dann geh. Aber wieso sollte ich gehen? Es ist | |
nicht richtig, dass ich nur Teil der Gemeinschaft sein kann, wenn ich mich | |
in meinen individuellen Rechten einschränke. Der Schutz der Menschenrechte | |
sollte überall gelten. Leider sehen das nicht alle so. Mein Bruder sagte | |
mir, dass die Leute hier im orthodoxen Viertel Menschen wie mich nicht um | |
sich haben wollten. | |
taz: Sie bleiben, trotz aller Widerstände. | |
Fletcher: Die Tatsache, dass ich lesbisch bin, sollte nicht bedeuten, dass | |
ich meine Sachen packen und die Gemeinschaft verlassen muss. Ich muss auch | |
deshalb bleiben, weil ich Synagogen, jüdische Schulen und koschere | |
Lebensmittelgeschäfte in meiner Nachbarschaft benötige. Ich will auch in | |
der Nähe meiner Freund:innen leben, weil ich am Schabbat kein Fahrzeug | |
benutze. Aber ja, ich bin sozial isoliert. Jeder Akt ist politisch, selbst | |
wenn ich nur rausgehe, um den Müll vor die Haustür zu tragen. Ich bin für | |
alle sichtbar. Einfach weil ich da bin, als lesbische orthodoxe Jüdin. | |
Immer beobachtet zu werden ist anstrengend. | |
taz: Machen Sie es sich nicht unnötig schwer? In anderen jüdischen | |
Gemeinden sind queere Menschen willkommen. | |
Fletcher: Es geht mir weniger um meine religiöse Praxis, sondern um das, | |
was ich in meinem sozialen und wirtschaftlichen Rucksack mit mir | |
herumtrage. Ich habe eine andere Geschichte als liberale Jüdinnen und | |
Juden. Zum Beispiel durfte ich keine richtige Schule besuchen. Meine erste | |
Hochschulausbildung begann ich, nachdem ich drei Kinder in die Welt gesetzt | |
hatte. Im dritten Studienjahr stand ich aufgrund meiner Scheidung als | |
Alleinerziehende ohne Dach über dem Kopf da. Das sind andere Lebensumstände | |
als sie die meisten Jüdinnen und Juden kennen. Wenn ich mich der | |
ultraorthodoxen Gruppe entziehe, fehlt zudem mein Widerspruch gegen | |
Frauenverachtung und Homophobie. Wenn niemand widerspricht, werden unsere | |
Mädchen weiter in arrangierte Ehen gezwungen und können nicht selbst über | |
ihre Sexualität bestimmen. | |
taz: Sie tragen heute eine Hose, ein T-Shirt und offene Haare. Sie | |
rebellieren auch gegen Kleidungsvorschriften? | |
Fletcher: Wer eine lange Bluse mit Rock tragen will, soll das tun. Aber | |
wenn eine Frau sie nur trägt, um nicht aus der Gemeinschaft geworfen zu | |
werden, dann fehlt die eigene Wahl. | |
taz: Welche Synagoge besuchen Sie? | |
Fletcher: In Manchester gibt es keine Synagoge, in die ich gehen kann. Ich | |
werde schlecht behandelt. Deshalb halte ich wöchentliche Feiern wie | |
Schabbat und jährliche Feste wie Purim bei mir zu Hause ab, gemeinsam mit | |
anderen, größtenteils lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans Menschen, | |
die entweder noch in der Gemeinschaft leben oder gezwungen waren zu gehen. | |
Manchmal gehe ich in eine orthodoxe Synagoge in London. Obwohl die noch | |
strikter in ihrer Interpretation sind als hier, ist meine Anwesenheit dort | |
kein Thema. | |
taz: Sie schrieben, dass bei der Bar-Mizwa Ihres ersten Sohnes, die mit 13 | |
gefeiert wird, die ultraorthodoxe Synagoge in Manchester halb leer war. | |
Fletcher: Halbleer wäre schön gewesen, fast ganz leer! Eine Zeitlang bin | |
ich noch weiter dorthin gegangen, weil es Verbindungen gab zu meiner | |
Familie. Aber irgendwann hörte ich auf, nicht zuletzt, weil sie Whiskey | |
ausschenkten, der von jenem Mann gesponsert wurde, der mich als 15-Jährige | |
sexuell misshandelt hatte. | |
taz: Wie halten Sie es als ultraorthodoxe lesbische Person mit dem, was die | |
heiligen Schriften über gleichgeschlechtliche Beziehungen sagen? | |
Fletcher: Die Thora verlangt für schwule Männer die Todesstrafe. Lesben | |
gelten als angeblich ungezügelt. Wissen Sie, es hängt davon ab, wie man die | |
Gesetze auslegt. Der große jüdische Gelehrte Maimonides hat gesagt, dass | |
wir zwar nach den Geboten leben, aber nicht an ihnen zugrunde gehen sollen. | |
taz: Woran hängen Sie in dieser Welt des orthodoxen [1][Judentums]? | |
Fletcher: Dieses Leben ist mein Zuhause, es ist meins. Ich kann den | |
Geschmack meiner Seele nicht von mir stoßen. Es ist der Lebens-, Tages-, | |
Wochen- und Monatszyklus. Die ganze Woche geht es um die Frage, was ich am | |
Schabbat machen werde. | |
taz: Gilt das nicht für das Judentum generell? | |
Fletcher: Ich glaube, es gibt Unterschiede. Die Art, wie wir uns etwa auf | |
die hohen Feiertage im September vorbereiten, ist vollkommen anders, viel | |
intensiver, glaube ich. Nichtorthodoxe Jüdinnen und Juden sehen uns als die | |
ärmeren, weniger kulturell ausgereiften Cousin:innen. Wir werden als | |
altmodisch abgeschrieben. | |
taz: Sie kritisieren die [2][orthodoxe Gemeinschaft] auf der einen Seite, | |
auf der anderen stehen Sie für sie ein. | |
Fletcher: Weil ich selbst dazugehöre und deshalb das Recht habe, mich | |
kritisch zu äußern. Es ist meine Gemeinschaft, ich lebe nach vielen ihrer | |
Regeln und Gebote, vor allem nach dem Gebot, dass wir einander lieben | |
sollen. Deshalb habe ich auch ein Problem damit, dass Menschen uns | |
verurteilen, wenn ich mit meiner Lebenspartnerin auf die Straße gehe. | |
taz: Um Veränderungen zu bewirken, haben Sie vor einigen Jahren mit anderen | |
die Organisation Nahamu gegründet. | |
Fletcher: „Nahamu“ bedeutet auf Hebräisch „trösten“. Wir sind da, um … | |
anderes Modell für das Leben der Ultraorthodoxen anzubieten, in dem | |
Traditionen bewahrt werden, aber das schutzbedürftige Menschen auch ein | |
Leben in Würde ermöglicht. Wir müssen keine Pädophilen schützen oder | |
Menschen zur Heirat zwingen, damit unsere Kultur erhalten bleibt. | |
taz: Gibt es Leute, die Ihnen zur Seite stehen? | |
Fletcher: Viele meiner Freunde sind aus der orthodoxen Community. Wir haben | |
zudem großartige Allianzen mit Menschen verschiedenster Herkunft, deren | |
Familientraditionen auch sehr restriktiv sind, etwa aus Südostasien. Aber | |
ich muss Ihnen sagen, unter all denen sind wir die extremsten. | |
taz: Tatsächlich? | |
Fletcher: Die Hilfsorganisationen für südostasiatische und Schwarze Frauen | |
haben teils noch nie von den Dingen gehört, die ich beschreibe. Etwa das | |
Abrasieren der Haare von Frauen nach ihrem Menstruationszyklus. Oder dass | |
Kinder, deren Mütter Auto fahren, aus den Schulen geworfen werden. Ich | |
möchte langfristige Veränderungen, damit wir das bewahren können, was für | |
uns wertvoll ist. | |
taz: Sie sagen auch, Sie helfen anderen, indem Sie in der Community | |
bleiben. Haben Sie dafür ein Beispiel? | |
Fletcher: Auf dem Spielplatz und vor der Schule werde ich von anderen | |
Eltern immer gemieden. Eine Frau, die ihre Kinder auf dieselbe Schule wie | |
meine schickt, war Teil dieser Leute. In der Bäckerei hörte ich eines | |
Tages, wie jemand meinen Namen rief. Hinter einem der Regale versteckte sie | |
sich. Als ich näher kam, flüsterte sie: „Bitte, Yehudis, kannst du mir | |
sagen, wo ich abtreiben kann?“ Und das tat ich. | |
taz: So etwas geht nur, wenn Sie in der Gemeinschaft sind. | |
Fletcher: Ich bin die verkörperte Rebellion und sende damit eine Botschaft | |
an andere Menschen: Wenn sie etwas brauchen, das in der Community nicht | |
erlaubt ist, können sie mich fragen. | |
5 Jul 2025 | |
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