# taz.de -- Erbstücke von Frauen: Was wir weitergeben | |
> Die Erbstücke unserer Protagonistinnen sind mehr als Gegenstände. Sie | |
> erzählen von Müttern, Großmüttern und Urgroßmüttern – und deren Mut u… | |
> Stärke. | |
Bild: Nicht nur Porzellan wird vererbt. Fünf Frauen berichten von besonderen E… | |
## Heimaterde im Glas aus Iran für Roya Vahedi | |
Meine Mutter war 72 Jahre alt, als sie aus unserem Heimatdorf in Nordiran | |
nach Deutschland kam. Sie wusste, dass sie nie wieder dorthin zurückkehren | |
würde. Deshalb sammelte sie vor unserem Haus ein paar Hände voll Erde ein | |
und füllte sie für die Reise mit dem Flugzeug in einen Plastikbeutel. In | |
Deutschland bewahrte meine Mutter die Erde in einem Schraubglas auf. Sie | |
sagte meiner Schwester und mir, dass wir die Erde nach ihrem Tod gemeinsam | |
mit ihrem Sarg begraben sollten. Dann stellte sie das Glas irgendwo in | |
ihren Küchenschrank. | |
Nachdem unsere Mutter 2016 gestorben war, räumten wir ihre Wohnung aus und | |
fanden die Erde. Wir hatten einfach vergessen, sie mit ihr zu beerdigen. | |
Meine Schwester und ich haben später einen Teil davon auf dem Beet an ihrem | |
Grab verstreut. Den Rest teilten wir unter uns auf. Als meine Schwester | |
starb, habe ich ihren Teil der Erde mit ihr begraben. Mein Teil steht jetzt | |
unten im Keller auf einem Regal – weil die Erde für mich mit Trauer | |
verbunden ist, will ich sie nicht in der Wohnung haben. Obwohl ich gar | |
nicht so heimatverbunden bin, will ich sie eines Tages auch mit ins Grab | |
nehmen. Auch, weil die Erde mich an meine Mutter erinnert, die eine so | |
starke Frau war. | |
Sie hat mich und meine 5 Geschwister versorgt und uns allen Bildung | |
finanziert. Sie hat sehr viel handwerklich gearbeitet, zum Beispiel | |
Teppiche gewebt. Mein Vater hat sie geschlagen, oft hat er gesagt „du bist | |
eine liebe Frau, aber nur, wenn du den Mund hältst“. Meine Mutter hat aber | |
nie den Mund gehalten. Trotz all der Verletzungen und Rippenbrüche hat sie | |
sich immer gewehrt. Ich halte meinen Mund auch nicht. Ich protestiere gegen | |
Hinrichtungen im Iran und zeige im Alltag Zivilcourage, wenn es nötig ist. | |
Vielleicht habe ich von meiner Mutter also nicht nur die Erde unserer | |
Heimat geerbt, sondern auch ihre Stärke. | |
## Kopftuch zum Schmücken für Fatma Akkaya | |
Schon als kleines Mädchen habe ich von meiner Mutter ein schlichtes, weißes | |
Kopftuch mit einer hellblauen Borte vererbt bekommen. Es bedeutet mir sehr | |
viel, obwohl ich nicht besonders religiös bin. Aber es ist ein Andenken an | |
meine verstorbene Mama. Sie war Analphabetin und hat trotzdem versucht, | |
selbst im Koran zu lesen. Ich würde sagen, dass ich ihre Lebensart, ihren | |
Mut und ihr Selbstbewusstsein geerbt habe. Das weiße Kopftuch habe ich als | |
junges Mädchen regelmäßig nachmittags zum Koranunterricht getragen. | |
Zur Schule bin ich damit aber nie gegangen, das habe ich mich nicht | |
getraut. Ich wäre eine totale Außenseiterin gewesen. Es war ohnehin schon | |
schwierig für mich in einer deutschen Klasse Anerkennung zu bekommen. | |
Aber ich habe alles gemeistert – auch dank meines Vaters, der zu mir | |
gehalten hat. Er hat gesagt, dass ich mich nicht bedecken muss, und wollte, | |
dass ich ein selbstständiger Mensch werde. Ich durfte am Schwimmunterricht | |
teilnehmen, was den meisten türkischen Mädchen nicht erlaubt war, und ich | |
war bei Klassenreisen und Faschingsfeiern dabei. Ich habe sogar am | |
Religionsunterricht teilgenommen und nachmittags dann zu Hause mit meiner | |
Mutter gebetet. Im Nachhinein fühlt sich das teilweise an wie ein | |
Doppelleben. | |
Ich bewahre das Tuch heute in meinem Kleiderschrank auf. Manchmal benutze | |
ich es noch, wenn ich doch mal ein Ritual einhalte. Oder ich nehme es so in | |
die Hand und denke an meine Mama. Später will ich es an meine Töchter | |
weitergeben, deshalb habe ich noch weitere Kopftücher gekauft. Natürlich | |
werden sie sich ihre eigenen Gedanken machen und selbst entscheiden, wofür | |
sie die Tücher benutzen. | |
Es ist eine Kultur und eine Tradition, die ich nicht aufgeben will. Man | |
verschenkt damit noch viel mehr als nur das Tuch selbst – ein Kopftuch ist | |
nicht nur eine religiöse Kopfbedeckung, es kann so vieles sein: ein | |
Schmuckstück, oder ein wärmender Ohrenschutz in der kalten Jahreszeit. Oder | |
man wickelt es sich beim Tanzen um die Hüfte wie einen Rock. | |
## Blechdose für Besonderes für Christa Donner | |
Die Dose gehörte meiner Mutter. Ich weiß nicht genau, von wem sie sie | |
bekommen hatte – es könnte ihre Schwiegermutter gewesen sein. Meine Mutter | |
bewahrte in der Dose Kaffeebohnen auf. Wie ein kleines Heiligtum stand sie | |
an einem ganz bestimmten Platz im Buffet. Wir Kinder haben sie niemals | |
angefasst, ganz ehrfürchtig waren wir. Dieses kleine Ding hat sozusagen das | |
Reich der Mutter verkörpert. Immer, wenn meine Mutter sie aus dem Schrank | |
nahm, bedeutete das: Jetzt ist ihre Kaffeezeit. Sie oder mein Vater haben | |
dann mit der Handmühle die Bohnen gemahlen. | |
Bei mir steht die Dose heute wieder im Küchenschrank, das ist ganz | |
automatisch so, dass sie dort stehen muss, vielleicht ist das eine Art | |
Intuition. Ich bewahre darin keine Kaffeebohnen auf, aber dafür besondere | |
Sachen, die für mich nicht alltäglich sind. Konfekt oder ein gutes Stück | |
Schokolade zum Beispiel. Manchmal auch Studentenfutter und Nüsse. | |
## Brosche von stillen Heldinnen für Ines Chavah Stenger | |
Meine Großmutter erhielt eine Brosche als Mitgift, als sie 1930 zusammen | |
mit meinem Großvater aus Hannover abreiste. Von Bremen aus fuhren sie mit | |
einem Schiff nach Buenos Aires, von dort ging es weiter ins Landesinnere an | |
die Grenze zwischen Brasilien, Paraguay und Argentinien. Ein jüdischer | |
Großgrundbesitzer hatte dort Land gekauft, um es günstig an junge Ehepaare | |
abzugeben, die den Urwald besiedeln sollten. Doch schon kurz darauf wurde | |
mein Großvater unter ungeklärten Umständen bei einer Feier der Kolonisten | |
ermordet. Meine Großmutter war plötzlich ganz auf sich allein gestellt. Sie | |
kämpfte sich durch und brachte fünf Kinder zur Welt. | |
Meine Mutter erhielt die Brosche von ihr, als sie mit 13 Jahren nach Buenos | |
Aires geschickt wurde. Sie lebte dort in einem jüdischen Waisenhaus, wo sie | |
eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin und Kindererzieherin erhielt. | |
Während dieser Zeit entdeckte sie ihre Liebe zum Judentum und lernte eine | |
andere Art des Lebens kennen. Das Judentum wurde so zu einem zentralen Teil | |
ihres Lebens. | |
Mit 18 heiratete meine Mutter meinen Vater – einen Holocaust-Überlebenden, | |
der, wie sie selbst, stark traumatisiert war. Er war die Liebe ihres | |
Lebens. Sie bekamen sechs Kinder und wanderten 1971 nach Berlin aus, denn | |
mein Vater stammte von dort. | |
Für meine Mutter war das Leben hart, die Stadt und die fremde Umgebung | |
waren neu für sie und sie litt unter einer schweren Sehbehinderung. | |
Trotzdem hielt sie die Familie zusammen und setzte alles daran, ihren | |
Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Dass sie dennoch am Ende nur | |
eine Rente von 250 Euro bekam – das war eine viel zu geringe Anerkennung | |
für ihr lebenslanges Schaffen. | |
Meine Mutter war eine unglaublich starke Frau. Sie hat mir gezeigt, wie | |
wichtig es ist, sich im Leben durchzukämpfen. Kurz vor ihrem Tod gab sie | |
mir die Brosche. Jedes ihrer Kinder bekam etwas anderes von ihr, doch sie | |
wusste genau, dass ich, so wie sie, gern schönen Schmuck trage. Aber für | |
mich ist die Brosche mehr als nur ein Schmuckstück. Sie symbolisiert meine | |
Verbundenheit mit meiner Familie und Herkunft. Manchmal trage ich sie – und | |
fühle mich in diesen Momenten meiner Mutter ganz nah. | |
## Tischdecke mit Geschichte für Monika Krieps* | |
Die Tischdecke gehörte meiner Urgroßmutter. Mein Onkel hatte sie wohl lange | |
bei sich, ich habe sie erst nach seinem Tod von seiner Frau bekommen – | |
damit habe ich nicht gerechnet. Über die Familie meines Opas war mir lange | |
nichts bekannt, weil er als Junge von zu Hause abgehauen ist und zur | |
kaiserlichen Marine ging. Von der Frau meines Onkels habe ich erfahren, | |
dass meine Urgroßmutter Weißnäherin war und diese Tischdecke selbst genäht | |
hat. Mir bedeutet es viel, so unverhofft mehr über meine Geschichte | |
erfahren zu haben. | |
Wir benutzen bei uns zu Hause eigentlich gar keine Tischdecken, aber diese | |
lege ich jetzt zu Weihnachten aus, weil mit Kreuzstich kleine Kerzen | |
eingestickt sind. Sie ist wertvoll für mich. Ich würde sie gern | |
weitergeben, wenn ich selbst nicht mehr da bin, aber ich habe keine Kinder. | |
Gerade denke ich viel darüber nach, was nach meinem Tod mit all meinem | |
Plunder passieren soll. Vielleicht soll die Tochter meines Mannes die Decke | |
bekommen. | |
*Name geändert | |
Protokolle: Lin Hierse | |
9 Mar 2025 | |
## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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