# taz.de -- Jüdische Geschichte digital aufbereitet: Per Klick durch die Ruine | |
> Dass in Hamburgs Neustadt das liberale Judentum begann, darauf weist dort | |
> wenig hin. Die Reste eines Tempels von 1844 lassen sich nun online | |
> erleben. | |
Bild: Im Prinzip immer zugänglich: Startbildschirm des neuen virtuellen Angebo… | |
Hamburg taz | Man habe das Datum nicht ohne Grund gewählt, sagt Andreas | |
Dressel: Hamburgs SPD-Finanzsenator steht am Montag in einer etwas | |
schmuddelig wirkenden Toreinfahrt in einer Gründerzeitfront, hinter sich | |
ein zuplakatiertes, auch besprühtes, nicht mehr ganz junges Metalltor. Die | |
Anspielung zielt auf den Jahrestag der Befreiung des | |
[1][Konzentrationslagers Auschwitz] am 27. Januar 1945, der heute dem | |
Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus insgesamt gewidmet ist – | |
diese Opfer waren zuallererst Europas Jüdinnen und Juden. | |
Und dem Judentum, seiner Lebendigkeit und Sichtbarkeit im heutigen Hamburg, | |
sei eben dieser Pressetermin geschuldet, so Dressel weiter. Um endlich | |
hinzuweisen auf ein kleines Schild, das, weiter oben in der Tordurchfahrt | |
angebracht, nun über den Gehsteig hinaus ragt. Darauf ist ein QR-Code zu | |
sehen, links und rechts davon, einmal auf Deutsch, einmal auf Englisch, ein | |
Hinweis auf den „Einblick“, den dieser Code liefere – und oben drüber: | |
„Tempel Poolstraße“. | |
Einen virtuellen Rundgang galt es vorzustellen am so historischen Datum; | |
einen Rundgang durch das, was noch steht vom einstigen neuen Israelitischen | |
Tempel, [2][einer Keimzelle] des bis heute vor allem in Nordamerika sehr | |
aktiven liberalen Judentums: Hier erbaute sich gegen Mitte des 19, | |
Jahrhunderts das noch junge Reformjudentum seinen ersten eigenen Tempel, | |
zuvor hatte man ein umgewidmetes „Tanzhaus“ genutzt in der nahegelegenen | |
Ersten Brunnenstraße. Im klassizistisch-neogotischen Stil mit maurischen | |
Elementen gestaltet vom Architekten Johann Hinrich Klees-Wülbern, bot der | |
Tempel Poolstraße Platz für immerhin rund 640 Menschen. Fast 90 Jahre lang | |
war dies der zentrale Anlaufpunkt für das liberale Judentum. | |
Hinter dem QR-Code, von Dressel vor Ort überprüft, oder klassischer über | |
die Adresse [3][www.tempel-poolstrasse.de] zu erreichen, findet sich nun | |
ein Überblick darüber, was dort einmal stand: Von „einer schönen Ansicht | |
als 3D-Puppenhaus“ sprach vor Ort am Montag Christian P. Schlichte, Inhaber | |
der Firma CP 360 Pano, die mit der technischen Umsetzung betraut war. „Die | |
Betrachter:innen können sich anschließend virtuell frei auf dem Gelände | |
bewegen“, so Schlichte weiter. Es gibt 18 anklickbare „Content Points“, d… | |
dann spezifische Informationen verfügbar machen, über die Architektur etwa | |
oder die frühere Nutzung. | |
Das mit dem Bewegen ist am realen Ort nämlich schwieriger: Meist stehen | |
Interessierte vor dem erwähnten Tor mit den Plakaten und den Graffitis. Bis | |
vor rund fünf Jahren nutzte den Hof und Teile der Tempelreste eine | |
Autowerkstatt, was die Zugänglichkeit paradoxerweise eher verbesserte: Die | |
Autos mussten ja rauf auf den Hof und wieder runter von ihm. Was immerhin | |
den Blick ermöglichte – auf den beklagenswerten Zustand des Objekts: 1944 | |
von Bomben getroffen, war, was noch stand, jahrzehntelang der Witterung | |
ausgesetzt, woran sich auch nicht viel änderte, als es 2003 [4][unter | |
Denkmalschutz gestellt] wurde. | |
„Sicherungsmaßnahmen“ erfolgten, nachdem die Stadt das Grundstück gekauft | |
hatte, das war vor etwa fünf Jahren. „Gerettet“ habe man diesen | |
historischen Ort, das war Dressel nun wichtig. Auf lange Sicht müsse sich | |
das Ganze „wirtschaftlich selbst tragen“, hatte er bei früherer Gelegenheit | |
erklärt – Hamburg ist und bleibt eine Stadt der kaufmännischen Vernunft, | |
und man hatte schließlich Steuermittel in den Grundstückskauf investiert. | |
Es kursierten anfangs auch irritierende Szenarien, etwa das vom | |
[5][Wohnungsbau], mit dem sich eine künftige Nutzung der Ruine das Areal | |
würde teilen müssen. Jetzt sprach Dressel erneut von einer „tragfähigen“ | |
Lösung, die her müsse. Aber der Wohnungsbau ist vom Tisch. | |
Dass der Tempel vergleichsweise diskret im Hinterhof stand, dürfte ihn in | |
der großen Pogromnacht im November 1938 gerettet haben – da hatten ihn | |
Hamburgs liberale Jüdinnen und Juden aber schon aufgegeben und unter Wert | |
verkaufen müssen. Um eine Restitution bemüht sich der liberale | |
Israelitische Tempelverband, der sich als Nachfolger der damaligen | |
Bauherren sieht, allerdings auch seit längerem um seine Anerkennung als | |
Gemeinde streitet. | |
Vor ziemlich genau einem Jahr, Anfang Februar 2024, warb diese kleinere der | |
Hamburger jüdischen Gemeinden gar für einen Wiederaufbau des Gebäudes – ein | |
cleverer PR-Schachzug vor dem Hintergrund, dass sich die Stadt, aber auch | |
der Bund bekannt haben zum Bau einer Synagoge [6][am einstigen Bornplatz] | |
im Hamburger Grindelviertel. Das Areal in der Poolstraße soll „mit einer | |
Zukunftsperspektive entwickelt werden und als jüdisches Kulturdenkmal und | |
Erinnerungsort erhalten bleiben“; was das genau heißt, ist noch in der | |
Findung. | |
Zunächst interessiert die Zuständigen, was an Resten noch im Boden | |
schlummert; zuletzt hat der Landesbetrieb für Immobilienmanagement und | |
Grundvermögen zusammen mit der Stadt Essen per Radar den Grund | |
durchleuchten lassen. Und irgendwann im laufenden Jahr soll auch gegraben | |
werden hinter dem Tor in der Gründerzeitfassade. | |
27 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Auschwitz/!t5009473 | |
[2] /200-Jahre-Reformjudentum/!5464453 | |
[3] https://tempel-poolstrasse.de/ | |
[4] /Denkmalschutz/!t5011287 | |
[5] /Wohnungsbau/!t5008446 | |
[6] /das-wird/!5989768 | |
## AUTOREN | |
Alexander Diehl | |
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