| # taz.de -- Online-Projekt zur jüdischen Geschichte: Wo das Reformjudentum sei… | |
| > Über die weltweit erste jüdische Reformsynagoge, eröffnet 1810 in Seesen, | |
| > informiert ein neues Projekt des Portals „Jüdisches Niedersachsen | |
| > online“. | |
| Bild: Sichtbares Zeichen: Die Seesener Reformsynagoge im Hof der Jacobson-Schul… | |
| Peripherie ist gut für Reformen. Für Ideen, die man unauffällig, jenseits | |
| des Rampenlichts ausprobieren will. Da ist zum Beispiel Seesen, die kleine | |
| niedersächsische Gemeinde, die weltweit wahrscheinlich alle Reformjuden | |
| kennen, aber hierzulande fast niemand. Denn Seesen war im 19. Jahrhundert | |
| Hotspot des [1][Reformjudentums]. Das konnte es auch deshalb werden, weil | |
| es dort keine jüdische Gemeinde gab, die protestiert hätte. | |
| Initiator der Reformen war der Halberstädter Bankier und Kaufmann Israel | |
| Jacobson. Früh begeisterte er sich für die aufklärerischen Ideen Lessings | |
| und [2][Moses Mendelssohns]. Als Landesrabbiner im Herzogtum Braunschweig | |
| sah er später die Armut und die fehlenden Bildungschancen der jüdischen | |
| Kinder. Also eröffnete er 1801, unterstützt vom örtlichen Vertreter des | |
| Herzogs, in Seesen eine Schule für zunächst zwölf jüdische Jungen. Für | |
| Mädchen war der Schulbesuch damals auch in der christlichen | |
| Mehrheitsgesellschaft nicht vorgesehen. | |
| Um den jüdischen Kindern also Berufs- und Integrationschancen zu bieten, | |
| konzipierte Jacobson eine Religions- und Industrieschule, die auch | |
| handwerkliche Fächer lehrte. Die Hälfte der Lehrer war jüdisch, die Hälfte | |
| christlich; auch das ein Novum. Und schon 1802 wurde auch der erste | |
| christliche Schüler aufgenommen. „Das war klar im Sinne der auklärerischen | |
| Ideen Jacobsons“, sagt Frassl. | |
| Erforscht hat das Joachim Frassl, langjähriger Kunsterzieher am heutigen | |
| Seesener Jacobson-Gymnasium. Die Ergebnisse seiner Recherchen sind seit | |
| einigen Tagen [3][auf der Homepage „Jüdisches Niedersachsen online“ zu | |
| sehen]. Frassls Forschungen bilden dort den Auftakt des Projekts „Jüdische | |
| Geschichte im ländlichen Raum“. Betrieben wird die Internetseite vom 2016 | |
| gegründeten Israel-Jacobson-Netzwerk für jüdische Kultur und Geschichte. | |
| ## Synagoge als Provokation | |
| Angefangen hat die Recherche ganz unspektakulär: 2001 suchte Frassl Bilder | |
| für eine Jubiläumsfestschrift der Schule. Aber er fand nur ein, zwei Fotos | |
| der weltweit ersten Reformsynagoge, die Jacobson 1810 in deren Innenhof | |
| eröffnetet hatte. Also recherchierte Frassl, ließ von Schülern ein Modell | |
| und später eine 3-D-Rekonstruktion der Synagoge fertigen. Baulich war sie | |
| an Abbildungen des antiken [4][Salomonischen Tempels] in Jerusalem | |
| orientiert. | |
| Zufällig ähnelt auch die benachbarte evangelische Kirche dem Tempel, | |
| weshalb viele glaubten, die Synagoge sei ihre Kopie. „Aber das stimmt | |
| nicht“, sagt Frassl. „Jacobson selbst hat sich bei der Eröffnung | |
| ausdrücklich auf den Tempel Salomos bezogen.“ Allerdings durfte sie nicht | |
| in Stein gebaut werden – dieses „wertvolle“ Material war damals | |
| christlichen Kirchen vorbehalten. „Also schuf man einen Fachwerkbau, der, | |
| weiß getüncht, die Qualität eines Tempels bekam“, sagt Frassl. | |
| Abgesehen davon war die bloße Existenz, die Sichtbarkeit der Synagoge eine | |
| Provokation. „Bis dato waren Synagogen hinter Fassaden verborgen“, sagt | |
| Frassl. „Hier zeigte sich jetzt ein emanzipiertes Judentum“. Auch | |
| methodisch agierten Schule und Synagoge modern: So unterrichtete der | |
| christliche Musiklehrer Chorgesang – „ein gutes Mittel auch zur | |
| sprachlichen Integration der jüdischen Kinder, die zu Hause Jiddisch und | |
| Platt sprachen und nun singend perfektes Hochdeutsch lernten“, sagt Frassl. | |
| „Das geht aus Berichten damaliger Besucher hervor.“ | |
| Auch die Gottesdienste ließ Jacobson von Gesang und [5][Orgelmusik] | |
| begleiten: Letztere galt als christlich und war bis dato in der Synagoge | |
| tabu. Und damit die Kinder alles verstanden, predigte der Rabbi nun deutsch | |
| statt hebräisch. Der Gottesdienst wurde kindgerecht verkürzt, das Gitter | |
| zur Frauenempore geöffnet. | |
| 1828 starb Jacobson. Seine Söhne übernahmen, die Schule wuchs, hatte um | |
| 1900 rund 300 Schüler aus aller Welt. Mit der Verstaatlichung 1922 wurden | |
| dann auch Mädchen zugelassen. | |
| ## „Undeutsche“ Synagoge bekämpft | |
| 1933 wurde ein NSDAP-Mann Direktor und kämpfte sofort vehement gegen die | |
| noch bis 1935 genutzte „undeutsche“ Synagoge auf dem Schulgelände. Und | |
| obwohl deren Abriss im Herbst 1938 schon beschlossen war, „musste die | |
| Synagoge in der [6][Reichspogromnacht] am 9. November 1938 brennen, quasi | |
| als Fanal“, sagt Frassl. SA-Leute erschossen den Synagogenaufseher in | |
| derselben Nacht. Seit 2012 erinnert eine „Stolperschwelle“ an die bislang | |
| 260 bekannten [7][Shoah-Opfer.] Weitere einzelne „Stolpersteine“ könnten | |
| folgen. Bodenmarkierungen auf dem Jacobson-Platz zeigen den einstigen | |
| Standort der Synagoge. | |
| Deren Reformideen verbreiteten sich schnell: Schon 1804 eröffnete die | |
| moderne Samson-Schule in Wolfenbüttel, 1806 folgte das Philantopin in | |
| Frankfurt/M. 1817 gründete sich dann der [8][Israelitische Tempelverband] | |
| in Hamburg, es folgten Reformsynagogen in Berlin, Israel, den USA. | |
| 4 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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