# taz.de -- Jüdische Schule in Hamburg: Bilder aus dem vernichteten Leben | |
> Die Israelitische Töchterschule in Hamburg war die letzte jüdische Schule | |
> in der NS-Zeit. Für Nachkommen ist sie bis heute ein wichtiger Ort. | |
Bild: Bilder aus dem Leben: Israelitischen Töchterschule bei einem Ausflug 1934 | |
Hamburg taz | Als Kim Estes-Fradis zum ersten Mal die Israelitische | |
Töchterschule in Hamburg besuchte, war der Name über der Tür zwar noch da. | |
Aber lesen konnte sie ihn kaum, so verdreckt waren die Buchstaben an der | |
gelb-blauen Fassade des 1883 errichteten Hauses im Karolinenviertel. | |
Damals, 1972, beherbergte es eine Sprachheilschule. Nichts außer dem | |
Schriftzug erinnerte an seine Vergangenheit. Estes-Fradis war Anfang 20 und | |
mit ihrer Mutter, der ehemaligen Schülerin der Töchterschule Erika Estis, | |
aus den USA [1][nach Hamburg gekommen]. | |
Erika Estis lebte damals seit 26 Jahren in New York. Aber geboren worden | |
war sie 1922 als Erika Freundlich in Hamburg. Da ist sie aufgewachsen und | |
zur Schule gegangen, bis sie 1938 mit einem Kindertransport nach England | |
floh. | |
Als Zeitzeugin hat sie seit den 1990ern [2][ihre Geschichte immer wieder | |
erzählt]. Sie hatte großen Anteil an der wissenschaftlichen Untersuchung | |
der Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Hamburg. Oft trat sie vor | |
Jugendlichen auf, nicht nur in Hamburg, um ihnen von ihrem Leben zu | |
erzählen, von ihrer Flucht und ihrer Erfahrung. Anfang 2023 ist Erika Estis | |
im Alter von 100 Jahren in New York gestorben. Sie hinterließ drei Kinder, | |
sieben Enkel und acht Urenkel. | |
## Die letzte jüdische Schule in Hamburg | |
„She wanted to show me her life“, sagt ihre Tochter Estes-Fradis, ihre | |
Mutter habe ihr das Leben, das sie in Hamburg führte, zeigen wollen, die | |
Schule, die sie besucht hat. Kim Estes-Fradis ist seit ihrem ersten Besuch | |
oft wiedergekommen, wie jetzt, im Juli 2025, zur Eröffnung der neuen | |
Dauerausstellung in der Gedenk- und Bildungsstätte. Die gibt es seit 1989. | |
Während der NS-Zeit war dieses Haus die letzte Schule in Hamburg, die | |
jüdische Kinder besuchen durften. 1942 musste sie, wie alle jüdischen | |
Schulen im Deutschen Reich, schließen. [3][Mehr als 300 Schüler*innen | |
und Lehrer*innen wurden deportiert und ermordet]. | |
Die neue Dauerausstellung soll auch die Geschichte der Schule vor dem | |
Nationalsozialismus und vor der Shoah erzählen. Über zwei Jahre lang hat | |
ein Team um Historikerin und Kuratorin Anna de Villiez und Judaistin Sabine | |
Kößling die Ausstellung neu konzipiert, mit 400.000 Euro von der Stadt. Auf | |
200 Quadratmetern erzählt sie die Geschichte der ehemaligen jüdischen | |
Mädchenschule, als eine von drei miteinander verflochtenen Strängen. | |
Historikerin von Villiez steht vorne am Pult, unter der Tafel vor Reihen | |
von Holzbänken mit Bunsenbrennern, Messgeräten und einer Luftabzugshaube. | |
Der bis heute erhaltene Chemieraum sei ein für das Jahr 1930 hochmodern | |
eingerichtetes Klassenzimmer. | |
## Geschichte durch die Augen ehemaliger Schüler*innen | |
„Ich stehe hier jetzt ein bisschen wie eine Oberlehrerin“, sagt sie und | |
zeigt auf einen Stundenplan von 1891, der im ehemaligen Chemieraum an der | |
Wand hängt. Montag, fünfte Klasse: Deutsch, Hebräisch, Handarbeit, Deutsch, | |
Rechnen. Eine Schulwoche ging von Sonntag bis Freitag. | |
Die Geschichte der Schule erschließt sich wie in diesem Raum an vielen | |
Stellen durch die Augen ehemaliger Schüler*innen. Die Ausstellung erzählt | |
Schulalltag während der zunehmenden antisemitischen Verfolgung im | |
Nationalsozialismus – und davor. Das tut sie anhand von Aufsätzen, Briefen, | |
Zeugnissen, Stundenplänen, eines Poesiealbums oder von Fotografien, die | |
schon im Treppenhaus hängen. Wie das von jugendlicher Schüler*innen auf | |
einer Hafenrundfahrt 1934. Es sind Zeugnisse aus dem Leben. | |
Vor 1933 war die Schule ein moderner Bildungsort für jüdische Mädchen, | |
besonders aus ärmeren Familien. Ab 1930 konnten sie dort sogar einen | |
Realschulabschluss machen. Nachdem die Talmud-Tora-Schule im Hamburger | |
Grindelviertel 1939 geschlossen wurde, wurden auch jüdische Jungen | |
aufgenommen. Ab 1938 durften jüdische Schüler*innen im „Deutschen Reich“ | |
keine staatlichen Schulen mehr besuchen. | |
Die neue Ausstellung, sagt von Villiez, erzähle nicht nur von der Shoah, | |
sondern eben auch über jüdisches Leben in Hamburg. In ihr lasse sich vieles | |
ablesen: jüdische, Bildungs- und Gendergeschichte. Diese drei Stränge sind | |
auf den vom Hamburger Gestaltungsbüro „Raumproduktion“ entworfenen Tafeln | |
farblich markiert. | |
Kim Estes-Fradis ist zur Eröffnung mit ihrem Bruder Wayne Estes da. Sie | |
haben dem Gedenk- und Bildungsort schon die Schlittschuhe und den | |
Schulranzen ihrer Mutter gespendet. Heute haben sie ihre alten Schulbücher | |
mitgebracht. Erika Estis hatte sie ihr Leben lang aufbewahrt. Ihre Kinder | |
fanden sie erst nach ihrem Tod. | |
Ihr Sohn Wayne Estes sagt, er und seine Geschwister glauben, die Bücher | |
seien die letzte Verbindung seiner Mutter zu ihrem Leben in Hamburg | |
gewesen. „She kept them forever, literally.“ Die Schule sei auch für ihn | |
und seine Geschwister ein sehr wichtiger Ort. Sie verdankten ihr ihre | |
Leben: „We owe the school our lives.“ | |
Es war eine Lehrerin, die ihrer Mutter 1938 den Tipp gab, ihre Eltern zu | |
bitten, sie auf einem Kindertransport nach England zu schicken. So | |
überlebte Erika Estis die Shoah. Ihre Eltern, Irma und Paul Freundlich, | |
wurden 1942 nach Polen deportiert. Wo genau sie ermordet wurden, wissen | |
ihre Nachkommen nicht. | |
Angehörige ehemaliger Schüler*innen oder Lehrer*innen, wie die Kinder | |
von Erika Estis, kämen jedes Jahr zu Besuch, sagt die Historikerin Anna von | |
Villiez. „Viele haben den Ort viel stärker auf dem Zettel als die Hamburger | |
Öffentlichkeit“, sagt die Historikerin. | |
Die neu überarbeitete Ausstellung richtet sich, anders als die alte, nicht | |
mehr vorwiegend an ein deutsches nicht-jüdisches Publikum. Sie bietet auch | |
Raum für Gedenken, ein Totenbuch mit den Namen aller ermordeter ehemaliger | |
Schüler*innen und Lehrer*innen. | |
Es solle, sagt von Villiez, auch ein Raum sein für die wachsende jüdische | |
Gemeinde in Hamburg. An der Konzeptphase waren Nachkommen ehemaliger | |
Schüler*innen ebenso beteiligt wie Schüler*innen jüdischer Schulen in | |
Hamburg. In der ehemaligen Turnhalle der Schule feiert Hamburgs Liberale | |
Jüdische Gemeinde Gottesdienst. Im Haus finden Sprachkurse in Hebräisch und | |
Jiddisch statt. | |
Viele Hamburger*innen kennen den Ort bis heute nicht. Der Name der | |
ehemaligen Schule ist heute außen am Gebäude wieder gut lesbar. Die | |
historische Inschrift wurde 1981 rekonstruiert. | |
17 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Auf-schwankendem-Boden/!1447627&s=Israelitische+T%C3%B6chterschule&… | |
[2] https://zeitgeschichte-hamburg.de/publikation-detail/in-den-tod-geschickt.h… | |
[3] /Gedenkort-Israelitische-Toechterschule/!5927192 | |
## AUTOREN | |
Amira Klute | |
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