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# taz.de -- Rechtsextremismus in Berlin: Rechtsruck führt zu Überstunden
> Immer häufiger kommt es zu rechtsextremen Vorfällen in Berlin – aber den
> lokalen Register- und Beratungsstellen werden zusätzliche Mittel
> verwehrt.
Bild: Ein immer häufigeres Bild: Nazis auf Berliner Straßen, hier in Marzahn
Berlin taz | Es klingt wie eine Gruselgeschichte aus den Neunzigern, aber
was dem 16-jährigen Schüler Leon W. in Hohenschönhausen passiert ist, hat
sich erst vor gut einer Woche ereignet: Mehr als ein Dutzend vermummte
Neonazis lauerten dem Elftklässler laut dessen Angaben an einem
Freitagabend in der Nähe seiner Wohnung auf, beleidigten ihn und jagten ihn
durch die nächtlichen Straßen ([1][die taz berichtete]). Die Polizei
bestätigte später einen Einsatz; jetzt ermittelt der Staatsschutz. Dem
Angriff vorangegangen waren Bedrohungen gegen W., der sich an seiner Schule
gegen Rassismus engagiert.
Leon W. ist mit seinen Erlebnissen nicht allein. Immer häufiger kommt es
auf Berlins Straßen [2][zu rechtsextremen Vorfällen]. Neonazis kleben
Sticker, sprayen Parolen, bedrohen, pöbeln, rauben, [3][schlagen zu]. Im
Fokus der Aktivitäten stehen vor allem die Bezirke Marzahn-Hellersdorf,
Treptow-Köpenick und eben Lichtenberg, wo Leon W. wohnt.
Wer etwas beobachtet – zum Beispiel einen Naziaufkleber oder ein Graffito
bemerkt –, aber auch, wer selbst bedroht oder angegriffen wurde, kann sich
an eine lokale Registerstelle wenden. Die [4][gibt es in jedem Bezirk], sie
dokumentieren rechte und rassistische Vorfälle vor Ort, auch unterhalb der
Strafbarkeitsgrenze. Doch die Registerstellen sind zunehmend überlastet –
vor allem jene im Osten der Stadt.
„Bei uns in [5][Marzahn-Hellersdorf] kristallisieren sich viele Probleme
heraus“, erzählt Anne Schönfeld vom örtlichen Register der taz. „Die AfD
hat hier bei der Bundestagswahl ihr berlinweit bestes Wahlergebnis
eingefahren – und es gibt ein umfassendes neonazistisches Netzwerk.“
Man habe deshalb schon immer zu den Bezirken mit den meisten Vorfällen im
berlinweiten Vergleich gehört, sagt Schönfeld. Aber seit einiger Zeit
beobachtet sie einen beispiellosen Anstieg der Meldungen. Zwar hat sie die
Fallzahlen für 2024 noch nicht abschließend ausgewertet, doch schon jetzt
rechnet Schönfeld mit doppelt so vielen Einträgen wie im Vorjahr, als 531
Vorfälle in die Statistik eingingen. Das wiederum waren schon 45 Prozent
mehr als noch 2022.
## Statistik und Tipps
Jede einzelne Meldung verwandelt Schönfeld in einen detailreichen Eintrag,
damit [6][eine über Jahre und Bezirksgrenzen hinweg vergleichbare
Statistik] entsteht. Zudem bietet Schönfeld sogenannte Verweisberatung an:
Wer Gewalt erfahren hat und Hilfe braucht, erhält Tipps, welche juristische
oder psychosoziale Beratungsstelle in der Situation weiterhelfen kann.
Das ist ziemlich viel Arbeit. In Marzahn-Hellersdorf muss Anne Schönfeld
sie allein machen – eine große Herausforderung: „Immer mehr Leute erleben
rechte Gewalt. Die Betroffenen sind zum Teil minderjährig, werden
traumatisiert. Wenn die anrufen, dann gehe ich ans Telefon.“ Der Rechtsruck
bedeutet für sie ein kaum zu bewältigendes Arbeitspensum: „Man soll keine
Überstunden machen, aber man kann die Menschen bei dieser Form von Arbeit
nicht im Stich lassen“, sagt Schönfeld.
Sorgen bereite ihr vor allem der „exorbitante Anstieg an Bedrohungen“.
Mitverantwortlich seien dafür [7][neue Netzwerke von jungen Rechtsextremen]
wie etwa „Deutsche Jugend Voran“ und „Jung und Stark“, die im vergangen…
Jahr zum ersten Mal in Erscheinung getreten sind. „Die nehmen vor allem
Menschen ins Visier, die als politische Gegner*innen gelesen werden.
Besonders oft trifft es Antifas und queere Personen“, berichtet Schönfeld.
Auch der Übergriff auf Leon W. fällt in dieses Muster.
## Drohungen und Beleidigungen
Eine Beobachtung, die auch Jeannine Löffler macht. Löffler arbeitet für das
Register im benachbarten Bezirk [8][Treptow-Köpenick], ebenfalls ein
Hotspot rechtsextremer Aktivitäten in Berlin. Die interaktive
„[9][Vorfalls-Karte]“ auf der Webseite der Meldestelle verzeichnet
vorläufig 107 Fälle von Bedrohungen, Beleidigungen und Pöbeleien im
vergangenen Jahr. 2023 waren es laut Jahresauswertung noch 80 – bereits das
ein Höchststand.
„Zwar haben die körperlichen Angriffe kaum zugenommen. Aber unsere
Erfahrung zeigt: Das kommt noch“, erklärt Löffler gegenüber der taz.
„Zuerst kommen die Gewaltaufrufe, dann folgen Gewalttaten.“ Deshalb sei
auch der massive Anstieg der dokumentierten Fälle von rechter Propaganda so
beunruhigend – deren Zahl hat sich der vorläufigen Statistik zufolge nahezu
verdreifacht. „Das war eine regelrechte Materialschlacht im vergangenen
Jahr“, sagt Löffler dazu. Aus der Vorfalls-Karte geht hervor, dass sich die
Gesamtzahl der Meldungen auch in ihrem Bezirk im Jahresvergleich auf knapp
1.000 Fälle verdoppeln dürfte.
Die Registerstellen in Treptow-Köpenick und in Marzahn-Hellersdorf sind die
einzigen lokal verankerten Anlaufstellen bei rechten und rassistischen
Erlebnissen in den jeweiligen Bezirken. Bereits im vergangenen Jahr habe
sie deshalb den Berliner Senat gewarnt, dass die Arbeit bald nicht mehr zu
schaffen sei, sagt Anne Schönfeld aus Marzahn-Hellersdorf. Alle
Bezirksregister sind zuwendungsfinanziert und hängen am Tropf des
[10][klammen Landeshaushalts].
Der Senat sei sich „der Bedeutung und der Notwendigkeit der Arbeit der
Registerstellen bewusst“, erklärt eine Sprecherin der Senatsverwaltung für
Antidiskriminierung auf taz-Anfrage. Man habe keine Kürzungen vornehmen
müssen; vielmehr seien die Zuwendungen an die Register in diesem Jahr sogar
leicht gestiegen: um etwa 4.000 Euro pro Bezirk. Zusätzliche Mittel für die
Bewältigung der Projektarbeit stünden „aktuell jedoch nicht zur Verfügung�…
so die Sprecherin.
## Fehlende Unterstützung
Doch auf die hatte insbesondere das Register in Marzahn-Hellersdorf
gehofft, um eine zusätzliche Personalstelle schaffen zu können. Tatsächlich
waren dem Projekt in einem Teilbescheid sogar die dafür beantragten Gelder
in Aussicht gestellt worden. Die Summe für das gesamte Jahr wurde später
aber wieder nach unten korrigiert, Anne Schönfeld erhält nun also doch
keine Unterstützung durch eine zusätzliche Kolleg*in.
Mangelnde Planungssicherheit ist ein Problem, mit dem auch andere
zuwendungsfinanzierte Projekte in dem Bereich zu kämpfen haben – etwa die
[11][Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus] Berlin (MBR). „Die
Projektförderung von Jahr zu Jahr macht es schwer, kompetentes und
erfahrenes Personal auf Dauer zu halten“, sagt MBR-Projektleiterin Bianca
Klose. Trotz der Bewilligung der Förderung bleibe es herausfordernd, auf
den „steigenden Bedarf in Zeiten der Polarisierung und Radikalisierung
langfristig zu reagieren“, so Klose.
Klose berichtet ebenfalls von einer Verdopplung der Erstberatungen im
vergangenen Jahr. Zudem gebe es immer mehr [12][Anfragen aus dem Bereich
Schule]. Allgemein beobachte sie eine „verstärkte Präsenz gewaltbereiter
rechtsextremer Gruppen im öffentlichen Raum“, sagt Klose.
Das äußert sich laut Anne Schönfeld in Marzahn-Hellersdorf darin, dass
rechte und rassistische Vorfälle mittlerweile aus allen Ortsteilen gemeldet
werden – auch aus Einfamilienhaussiedlungen wie Mahlsdorf. „Es ist nicht
mehr ein reines Plattenbauphänomen“, sagt Schönfeld.
17 Mar 2025
## LINKS
[1] /Welle-rechter-Gewalt/!6071615
[2] /Neonazi-Attacke-auf-Antifas/!6019369
[3] /Angriff-auf-SPD-Mitglieder-in-Berlin/!6057431
[4] https://berliner-register.de/
[5] /Berlin-Marzahn-Hellersdorf/!t5028418
[6] /Rassismus-in-Berlin/!6000248
[7] /Rechtsextreme-Jugend/!6024038
[8] /Treptow-Koepenick/!t5588546
[9] https://berliner-register.de/register/treptow-koepenick/vorfalls-karte/
[10] /Kuerzungspolitik-in-Berlin/!6057914
[11] https://www.mbr-berlin.de/
[12] /Rechtsextreme-Vorfaelle-an-Schulen/!6025879
## AUTOREN
Hanno Fleckenstein
## TAGS
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