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# taz.de -- Kinder und Jugendliche: Die vernachlässigte Minderheit
> Die Bundesrepublik ignoriert junge Menschen. Diese Politik ist nicht
> zukunftsfähig, sagt der Soziologe Aladin El-Mafaalani.
Bild: Ohne sie gibt es keine Zukunft: junge Leute vor alten Steinen des Reichts…
Gerade sieht es aus, als würde bei der anstehenden Bundestagswahl die
Linkspartei bei jungen Leuten überraschend gut abschneiden. Bei der
Europawahl davor [1][war die AfD der Gewinner bei den Jungen]. 16 Prozent
der 16- bis 24-Jährigen hatten für die Rechtspopulisten gestimmt. Damals
gehörte ich zu den Kurzdenkern, die sofort rumgrölten, ob diese Honks nicht
ganz dicht seien und was denn bei denen falsch laufe.
Darüber habe ich gerade mit dem Dortmunder Soziologen [2][Aladin
El-Mafaalani] für die kommende Ausgabe von taz FUTURZWEI gesprochen. Er hat
mit den Kollegen Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier ein
spektakuläres Buch geschrieben mit dem Titel „Kinder – Minderheit ohne
Schutz“. El-Mafaalani sagt, wir sollten eher mal fragen, was bei uns falsch
läuft.
Paraphrasiert auf den Punkt gebracht sagt er: „Die Jungen“, was ich hier
benutze für ein generationelles Grundgefühl der Unter-30-Jährigen, haben
den Eindruck, dass Politik und Gesellschaft sich nicht um sie scheren und
die „Erwachsenen“, Lehrer, Eltern, Politiker, wenig bis nichts mehr auf die
Reihe kriegen. Darauf reagieren sie mit ihrer Stimme. Vor der letzten
Bundestagswahl dachten die 18–24-Jährigen noch, dass die etwas frischer
scheinenden Parteien, Die Grünen und FDP, „etwas“ positiv verändern würd…
Durch die Erfahrung mit der [3][Ampel-Koalition] oder deren medialer
Vermittlung ließen sie von dieser Hoffnung ab, und eine Reihe wählte dann
AfD, damit sich was ändere oder damit die anderen merkten, dass sie nicht
einverstanden waren damit, wie es läuft beziehungsweise an ihnen vorbei
läuft. Ähnlich mag es nun mit dem Schielen zur programmatisch
systemoppositionellen Linkspartei sein.
## Junge Menschen werden immer weniger
Nun kann man El-Mafaalani und Kollegen sehr gut belegt entnehmen, dass sich
Politik und Gesellschaft tatsächlich nicht um Kinder und Jugendliche
scheren. Sie sind sogar die vernachlässigste Minderheit der bundesdeutschen
Gesellschaft und „strukturell diskriminiert“.
Ein wichtiger Grund: Sie werden im Verhältnis der Gesamtgesellschaft immer
weniger, derzeit sind 13 Prozent der Wahlberechtigten unter 30, schon bei
den übernächsten Wahlen werden die Rentner in der Mehrheit sein, weshalb
ihr politischer Einfluss, der jetzt schon groß ist, künftig weiter
zuzunehmen droht. Schlicht, weil sie Wahlen entscheiden und Parteien Wahlen
gewinnen wollen oder müssen und sich entsprechend orientieren.
Nun wurde schon in den guten Jahren der Bundesrepublik nicht vorgesorgt,
sondern alles im Jetzt ausgegeben und eine Zukunfts-Infrastruktur
weitgehend ignoriert (Bahn, Straßen, Brücken, Schulen, Bundeswehr und so
weiter). Wenn jetzt nicht einmal mehr Leute, die den Karren ziehen oder
ziehen müssen, sondern Leute, die selbst keine Zukunft mehr haben, Politik
entscheiden, dann schwindet – no offense, das ist einfach so – der
Zukunftsbezug weiter.
Es gibt schon auch Fortschritt, es gibt eine andere Sensibilität für
Kinder, es gibt ein Bewusstsein, wie toll und wichtig sie sind, aber das
ersetzt keine Politik und auch keine zukunftstaugliche
Bildungsinfrastruktur. Die gern verhöhnten „[4][Helikoptereltern]“ sind so
gesehen auch nur ein Ressentiment, das vom wahren Problem ablenkt.
„Klar, mein Kind über alles, das gibt es sicher, aber das ist ein krasses
Randphänomen“, sagt El-Mafaalani. „Was wir tatsächlich haben, sind sehr
besorgte Eltern, die wahrnehmen, dass das System nicht funktioniert und ihr
Kind keine Räume mehr hat, wo es sich frei bewegen kann.“ Insgesamt werden
Kinder immer weniger, ihre Räume kleiner und ihre Ausbildung schlechter.
„Die Institutionen, die vorher gekriselt haben, haben nun komplette
Aussetzer“, sagt El-Mafaalani.
Und das Zentrale ist: Das betrifft nicht nur Kinder aus deprivilegierten
Haushalten, es betrifft alle Kinder. Nun wird man sagen: Ja gut, aber die
einen haben es noch schwieriger, die anderen werden von ihren solventen
Eltern durchgezogen. El-Mafaalani sagt: Ja, aber gleichzeitig schlagen alle
gesellschaftlichen Krisen und Veränderungen in Kindheit und Jugend
klassenunabhängig durch.
Er belegt dies am Jahrgang 2007, der dieses Jahr 18 wird und prägende
gemeinsame Krisenerfahrungen gemacht habe, von der Flüchtlingskrise über
die Pandemie-Jahre zum russischen Angriffskrieg und seinen Folgen. Diese
Kinder haben das alles oder vieles davon im Alltag und psychisch voll
abgekriegt.
Die vollen Klassen, die fremdgenutzten Turnhallen, der ausgefallene
Unterricht, die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Manche Jahrgänge hätten
in der heiklen Teenie-Phase einen „Fullstop verpasst“ bekommen. Die
Auswirkungen der Erfahrung von völlig überforderten Lehrer und Eltern
während der Pandemie sind noch gar nicht abzusehen.
„Was wir übersehen, ist diese prägende Kraft der Orientierungslosigkeit,
wenn das in Kindheit und Jugend passiert, dieses Gefühl, nichts
funktioniert richtig. Und kaum jemand hat wirklich die Zukunft im Blick.“
Da geht auch Vertrauen verloren, dass alles schon werden wird und die
Erwachsenen wissen, was sie tun. „Für junge Leute ist es ein Running Gag,
dass die Erwachsenen sich verrückt verhalten“, sagt El-Mafaalani.
## Es geht um Lebensgrundlagen
So gesehen war es der Zynismus des Jahrhunderts, als bestimmte Politiker,
in der Regel von Union und FDP, zu den Kindern und Jugendlichen sagten, die
mit Fridays for Future für Zukunftspolitik streikten, sie sollten
gefälligst statt zur Demo in die Schule gehen, damit mal was aus ihnen
werde.
Es ist aber bis heute auch aufgeklärt sein wollenden Teilen der
Gesellschaft nicht klar genug, dass es bei den Streiks nicht allein um den
Schutz des „Klimas“ ging, sondern um die Einforderung von Politik für die
Lebensgrundlagen von Menschen, die nicht in den nächsten zehn, zwanzig
Jahren sterben, sondern bis ins 22. Jahrhundert leben, wenn sie Glück oder
Pech haben, je nach dem.
Es fehlt da offenbar an Problembewusstsein und vor allem an Lösungsideen,
vermutlich auch, weil viele Probleme in der Kinderignoranz verschränkt sind
und nicht im alten Politikportfolio der Parteien und auch nicht im
Links-Rechts-Schema zu denken ist.
Überhaupt ist der Zukunftsbezug nicht links-rechts oder nur klassisch
emanzipatorisch oder in Ressortzuständigkeiten zu denken, so sehr sich das
manche auch wünschten. Fridays for Future stehen demnach nicht für eine
„aktivistische Klimabewegung“ oder das angeblich selbstbezogene
Differenzbegehren privilegierter Bürgerschnupsis, sondern für ein
generationelles Verlangen nach politischer Repräsentation.
„Ich glaube, es gibt eine Art moralische Einheit, die man durchaus
entwickeln kann zu einer Art Minimalkonsens: dass junge Leute, Kinder, ein
übergreifendes und gemeinschaftliches Interesse daran haben, dass ihre
Zukunft geschützt wird“, sagt Luisa Neubauer, die Co-Initiatorin von FFF in
Deutschland war und die meistgehörte Stimme der Unter-30-Jährigen ist.
Weil die handelsüblichen Formate wie Demos, Rumschreien, Festkleben,
Hungern zwar weiter für mediengesellschaftliche Aufmerksamkeit und
Polarisierung gut sind, aber keine Methoden einer Veränderung im Sinne der
Jungen, schlägt El-Mafaalani einen Zukunftsrat von Unter-30-Jährigen vor,
den Parlamente zwingend hören müssen, bevor sie Entscheidungen treffen.
## Die Boomer müssen ran
Zweiter und sicher noch kontroverserer Vorschlag: Die Boomer müssen ran.
Statt auf Kreuzfahrten zu gehen und was man so macht, wenn man im Alter
noch was macht, sollten sie sich engagieren im dysfunktionalen
Erziehungssystem.
Ist das realistisch? „Die Boomer leben ja nicht auf einer Insel der
Glückseeligen“, sagt El-Mafaalani,. „Nehmen Sie eine Person, die 66 ist und
in Rente geht. Sie weiß, dass es jetzt schon einen Pflegenotstand gibt. Und
wie der Bundeshaushalt aussieht und wie viel davon für die Renten
ausgegeben wird. Zumal es von dieser kleinen Gruppe junger Menschen
abhängt, wie gut ich selbst im Alter leben werde, wie die Wirtschaftskraft
sein wird und, und, und.“
Die Idee ist: Rentner könnten in unterschiedlichen Zuständigkeiten halbtags
oder ehrenamtlich mit Kindern weiterarbeiten. Wenn nur jeder zehnte Boomer
mitmache, dann seien das mehr als alle Erzieherinnen und Grundschullehrer
zusammen. Ziel ist es, die Räume und Bezugspersonen von Kinder zu erhöhen
und die Leerstelle zwischen Eltern und Lehrern zu füllen.
## Ohne Kinder keine Zukunft
Das alles ist nicht nur zum Wohle der Kinder notwendig, sondern zum Erhalt
von Wohlstand, Demokratie und Renten. Wenn die wenigen Jungen auch noch
schlecht ausgebildet und desillusioniert und nicht in der Lage sind, die
durch das Gegenwartsversagen eskalierenden Probleme anzugehen, dann können
wir den Laden Bundesrepublik dichtmachen.
Im Grunde ist es simpel: Ohne Kinder keine Zukunft und ohne Politik mit
Kindern im Zentrum auch nicht. „Kinder sind der letzte Sinn und die einzige
Zukunft der Gesellschaft“, heißt es bei El-Mafaalani. Und das ist nicht
pathetisch, das ist einfach so.
Die Mehrheiten der Gesellschaft sind aber im Hier und Jetzt, vermutlich
wird das Bedürfnis nach dem Verweilen im radikal Bröckelnden noch zunehmen,
wenn der Verteilungskampf im Heute richtig losgeht. Wie kriegt man unter
diesen Umständen einen kulturell und institutionell verankerten
Zukunftsbezug? Das ist die Frage, der sich alle jene methodisch
verschreiben müssen, denen die Zukunft ihrer Kinder tatsächlich nicht am
Arsch vorbei geht.
18 Feb 2025
## LINKS
[1] /Jungwaehler-in-Deutschland/!6017042
[2] /Der-Bullshit-Wort-Check-Folge-12/!vn6053908
[3] /Ampel-Koalition/!t5455621
[4] /Helikoptereltern/!t5392837
## AUTOREN
Peter Unfried
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