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# taz.de -- Flucht und Migration: Das Messer im Kopf
> Traumatisierung unter afrikanischen Migranten und Geflüchteten ist
> verbreitet. Aber sie wird erst wahrgenommen, wenn Menschen zu Mördern
> werden.
Bild: Afrikanische Geflüchtete versuchen sich nach dem Kentern ihres Bootes s�…
Als die Killer Fridas Familie im halbzerstörten Haus ihres Großvaters
fanden, stellten sie sie vor die Wahl: Zahlt für die Munition, dann
erschießen wir euch, das geht ganz schnell. Zahlt ihr nicht, hacken wir
euch in Stücke. Sie konnten nicht zahlen, also führte man sie zum
Straßengraben und sie mussten sich hineinlegen.
„Mein Großvater bettelte sie an, uns gehen zu lassen“, erzählte Frida
später. „Aber einer sprang in den Graben und schlug ihn mit einem Knüppel.
Daraufhin sprangen sie alle hinein und begannen, uns mit ihren Waffen
umzubringen. Meine kleinen Brüder brüllten. Ich sah, wie meiner Mutter der
Kopf abgeschlagen wurde. Blut strömte über mein Gesicht. Ein Mann schlug
mich auf den Hinterkopf und ich wurde ohnmächtig.“ Als sie wieder
aufwachte, lag sie unter den Leichen ihrer Familie. Sie hielt still. Als
die Killer weg waren, schrie Frida um Hilfe. Sie hörte, wie eine Frau
panisch rief, da sei ein Geist. Schließlich rettete sie ein junger Mann und
versteckte sie, bis alles vorbei war.
22 Jahre später, im April 2016, erzählte Frida Umuhoza die Geschichte, wie
sie Ruandas Völkermord an den Tutsi 1994 überlebte, auf einer
UN-Gedenkveranstaltung in New York. Ihr Vortrag ging um die Welt, viele
Tutsi-Überlebende teilten ihn auf sozialen Medien.
Am 27. Juli 2024 ging der Ruander Axel Rudakabana im englischen Southport
mit einem Messer auf eine Tanzveranstaltung für Kinder und hackte drei
kleine Mädchen tot. Ob er Frida Umuhozas Geschichte kannte, ist nicht
überliefert. Aber seine Tante gehört zu denen, die sie öffentlich geteilt
hatten, und seine Mutter hatte ebenfalls auf sozialen Netzwerken an den
Völkermord erinnert.
## Den Wahlkampf auf den Kopf gestellt
Beim [1][Prozess gegen den zur Tatzeit 17-Jährigen] wurde berichtet, Axel
Rudakabana habe sich „obsessiv“ mit Genoziden beschäftigt – dem in Ruand…
aber auch mit anderen Völkermorden sowie mit islamistischem Terror. Am 23.
Januar wurde er zu 52 Jahren Haft verurteilt.
Die Bluttat von Southport erregte Großbritannien, von Rechtsextremisten
aufgestachelte Mobs gingen auf Muslime, Einwanderer und Flüchtlinge los.
Die frisch gewählte Regierung von Labour-Premierminister Keir Starmer hat
sich davon nicht erholt, Rechtspopulisten bestimmen seitdem die politische
Agenda, ihr Anführer Nigel Farage liegt mit seiner Forderung, die Grenzen
dichtzumachen, in manchen Umfragen vorn.
In Deutschland hat der [2][Messerangriff eines ausreisepflichtigen Afghanen
in Aschaffenburg am 23. Januar], bei dem auch ein Kleinkind starb, den
Wahlkampf auf den Kopf gestellt. Statt über die Wirtschaftslage wird über
Flüchtlinge gesprochen und CDU-Oppositionsführer Friedrich Merz begab sich
mit seinem gescheiterten „Zustrombegrenzungsgesetz“ ins Fahrwasser der
rechtsextremen AfD, in der irrigen Annahme, er sei der Kapitän.
Vorbild für Merz ist dabei Emmanuel Macron, der Ende 2023 mit den Stimmen
der extremen Rechten ein hartes neues Migrationsgesetz durch Frankreichs
Parlament brachte. Das folgte auf den Messerangriff des Syrers Abdelmasih
Hannoun, ein Deserteur der Assad-Armee, im Stadtpark von Annecy am 8. Juni
2023, bei dem vier kleine Kinder lebensgefährlich verletzt wurden. „Eure
Migranten, unsere Toten“ war danach die Parole rechter Demonstranten.
## Kaum Hilfe für psychisch Kranke
All diese Gräueltaten haben gemein, dass sie nichts mit Islamisten zu tun
hatten, anders als manche andere. Es gibt weitere Messermorde mit Tätern
aus Sudan, Somalia, Libyen oder Eritrea, oft mit unklarer Motivation. In
Teilen von Politik und Öffentlichkeit wurden solche Taten lange Zeit nur
dann für wichtig befunden, wenn sie von Islamisten begangen wurden: Da
spricht man von Terror.
Andere Täter gelten als verwirrt, die Morde als Einzelfälle. Diese zynische
Hierarchisierung hat sich glücklicherweise geändert. Aber Konsequenzen
bleiben der extremen Rechten überlassen, mit ihren unmenschlichen
Forderungen nach kollektiver Ausgrenzung und Bestrafung. Es ist höchste
Zeit für menschliche Antworten.
Wie geht in einem indifferenten Umfeld ein ruandisches Kind aus einer
Familie von Völkermordüberlebenden mit traumatischen Erinnerungen seiner
Angehörigen um? Wie verarbeitet ein desertierter Assad-Soldat seine Taten?
Wie bewältigen Flüchtende aus Sudan, Somalia oder Eritrea den Horror, den
sie womöglich auf ihrer Odyssee aus Afrika nach Europa erlebt haben?
Die kurze Antwort: Sie bewältigen es ganz oft nicht. Sie werden davon
heimgesucht. Der britische Flüchtlingsrat hat ermittelt, dass 61 Prozent
aller Asylsuchenden schwere psychische Belastungen aufweisen. In
Deutschland ergaben Studien, ein [3][Drittel aller Flüchtlinge weise eine
posttraumatische Belastungsstörung] auf. Aber kein Land geht adäquat mit
Traumatisierung unter Geflüchteten um.
## Manche zerbrechen am Erlebten
Psychische Belastungen werden selten aufgefangen, es gibt keine an den
jeweiligen Hintergrund angepasste Unterstützung beim Umgang mit der schier
unmöglichen Zerreißprobe, vergangenen Schrecken hinter sich zu lassen, ohne
die eigene Lebensgeschichte – das Einzige, was ein Geflüchteter bei der
Ankunft noch sein Eigen nennen kann – zu verdrängen.
Die Flüchtlingspolitik befördert diesen Spagat. Asylsuchende sollen all
ihre Fluchtgründe jederzeit verständlich schildern können, aber ihre
Fluchtgeschichte ist uninteressant. Sie sollen an ihrer Integration
arbeiten und zugleich ohne selbstbestimmte Lebensumstände abwarten, dass
andere über ihre Zukunft entscheiden. Manche können damit umgehen. Manche
zerbrechen daran.
So schafft man für die Betroffenen keinen Seelenfrieden. Deutschland ist
ein Land, in dem ganze Fernsehkrimis von [4][traumatisierten
Bundeswehrsoldaten nach ihrer Rückkehr von Auslandseinsätzen] handeln
können. Aber wenn es um Menschen aus den Ländern dieser Auslandseinsätze
geht, pendelt die Gesellschaft zwischen Hetze und Schweigen.
3 Feb 2025
## LINKS
[1] /Prozess-zum-Messerangriff-in-England/!6042810
[2] /Zwei-Tote-und-zwei-Verletzte/!6064381
[3] /Traumatherapie-fuer-Gefluechtete/!5993666
[4] /Traumatisierte-Bundeswehrsoldatinnen/!5789008
## AUTOREN
Dominic Johnson
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