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# taz.de -- Deutscher sticht Frau nieder: Wenn der Messerangriff niemanden inte…
> Ein Mann sticht wahllos auf eine Frau ein, aber der Aufschrei bleibt aus.
> Der Täter passt nicht ins Muster. Was, wenn das Muster falsch ist?
Bild: Gewalttaten im öffentlichen Raum machen Angst und verunsichern. Aber nic…
Am vergangenen Wochenende wurde eine junge Frau, 19 Jahre alt, [1][am
Bahnhof in Hodenhagen niedergestochen]. Nach den ersten Erkenntnissen der
Polizei kannten sich Täter und Opfer nicht, der Mann suchte sie offenbar
willkürlich aus, stach wieder und wieder auf sie ein, trieb sie vor sich
her auf den Bahnsteig, bis sie ins Gleisbett fiel. Er ist – nach Angaben
der Polizei – 43 Jahre alt und schon länger auffällig, auch mit
Gewaltdelikten, mit hoher Wahrscheinlichkeit psychisch krank.
Das ist die Art von Tat, die jeder normale Mensch beängstigend findet – ein
Angriff im öffentlichen Raum, willkürlich, unvorhersehbar. Zwar werden die
allermeisten Gewaltopfer von jemandem getötet oder verletzt, den sie
kennen, aber diese statistische Erkenntnis führt natürlich zu rein gar
nichts.
Jeder einzelne von uns glaubt, dass wir uns im sozialen Nahraum auskennen
und reagieren können – wie soll man sonst durchs Leben gehen? Das Böse muss
zwingend da draußen lauern, im Dunkeln und fremd sein.
Womit wir bei einem interessanten Punkt sind, was diesen Fall im
niedersächsischen Hodenhagen angeht. Haben Sie wahrgenommen, dass es hier
große Statements und Betroffenheitsgesten gab? Hat sich irgendjemand
hingestellt und gesagt: „Das geht so nicht weiter. Unser Land muss sicherer
werden. Hier ist mein 5-, 7- oder 10-Punkte-Plan, um das zu erreichen“?
## Ein Platzverweis fürs Durchdrehen
Nein? Warum nicht? Weil es „nur“ ein Opfer gab, das glücklicherweise auch
überlebt hat? Oder vielleicht, weil der Messerstecher in diesem Fall nicht
„importiert“ war, wie es im rechten Jargon heißt, sondern Deutscher? Weil
diese Tat nicht in das Muster passt, das man sich zurechtgelegt hat? Dieses
Muster, das sagt: Wir können das Problem einfach an der Grenze abweisen
oder ins Ausland abschieben und müssen uns nicht weiter damit befassen.
Was ist, wenn das Muster falsch ist? Was ist, wenn sich an den
zugewanderten Tätern nur sehr viel früher und schärfer ein tieferliegendes
Problem zeigt? Was ist, wenn wir eigentlich ein Problem mit der Behandlung
von psychisch Kranken haben?
Im vergangenen Sommer saß ich mit einem Kollegen in der Mittagspause in der
Sonne, als sich ein laut vor sich hin schimpfender Mann näherte, eine Art
Kung-Fu-Tritt über dem Kopf meines Begleiters vollführte, über einen
Parkplatz hinter uns rannte, gegen Autos trat, in einen Supermarkt lief,
eine Frau ins Gesicht schlug, schimpfend weiterzog in die nächste Eisdiele,
wo er Stühle umwarf und Leute bedrohte bis die Polizei kam.
Die stoppte ihn, redete ein Weilchen auf ihn ein, nahm seine Personalien
auf und ließ ihn dann laufen. Auf unsere Frage, ob es noch irgendeine Art
von Zeugenaussage von uns bräuchte, schüttelte einer der Polizisten den
Kopf. Nein, nicht nötig. Der Mann sei am Morgen schon einmal aufgefallen.
Der habe jetzt hier auch noch einen Platzverweis erhalten.
## Hilflosigkeit und zu wenig Therapieplätze
Natürlich ist mir klar, dass man Leute nicht aufgrund von Bagatelldelikten
wegsperren kann. Aber in diesem Fall sind zwei Dinge passiert: Niemand der
Umstehenden hatte das Gefühl, dass hier irgendetwas für die Sicherheit
getan wurde. Und niemand hatte das Gefühl, dass irgendjemand sich ernsthaft
bemühte, diesem offensichtlich kranken Menschen zu helfen.
Aber wenn dieser Mann jetzt als Nächstes ein Messer gezogen hätte und am
Bahnhof jemanden niedergestochen hätte, wäre er halt wenigstens schon im
System gewesen, „polizeibekannt“ eben. Noch heftiger ist dieses Gefühl der
Ohnmacht in den Fällen, in denen psychisch kranke Täter über Monate hinweg
ihre Umgebung terrorisieren.
An die Öffentlichkeit kommt das meist nur in den spektakulären Fällen: Wenn
[2][der Bürgermeister von Harsum in seiner Verzweiflung versucht,] an einen
Waffenschein zu kommen, weil er sich und seine Familie von einem vermutlich
psychisch kranken Mann akut bedroht sieht. Oder wenn [3][der psychisch
kranke Vater des Attentäters von Hanau] mal wieder die Opferfamilien
terrorisiert.
Aber jedes Mal, wenn solche Fälle durch die Medien waberten, traf ich auf
Leute, die sagten: So einen gab es bei uns im Ort auch. Und jedes Mal
folgten die Geschichten der gleichen Dramaturgie: Man musste sehr lange,
sehr bange warten, bis dieser Mensch sich selbst oder anderen etwas antat,
was schlimm genug war, um eine Einweisung zu rechtfertigen.
Die in den allermeisten Fällen ja aber auch nur eine vorübergehende Lösung
ist. Es gibt natürlich viele gute Gründe dafür, warum die Hürden dafür so
hoch sind. Die Frage ist allerdings, ob den Betroffenen unterhalb und
jenseits dieser Hürde gut genug geholfen wird.
Wenn aber sozialpsychiatrische Dienste so überlastet sind, dass sie sich
darauf konzentrieren müssen, das allerschlimmste zu verhindern, gerichtlich
bestellte Betreuer selten vor Ort und dann auch noch hilflos sind,
spezialisierte Pflegedienste Mangelware und ambulante Therapieplätze
genauso – dann könnten einem daran schon ein paar Zweifel kommen.
Egal, mit wem man spricht: Eltern, die Therapieplätze für Kinder und
Jugendliche suchen, Sozialarbeiter, die sich um Obdachlose kümmern,
Angehörige von Psychiatrie-Erfahrenen – alle klagen über ein hoffnungslos
überlastetes System, das eine vernünftige psychiatrische und
psychotherapeutische Versorgung überhaupt nicht mehr zulässt.
## Es ist einfacher über Grenzsicherung zu reden
Natürlich zeigt sich das am drastischsten bei denen, denen es an
stabilisierenden Faktoren fehlt und deren Zugang zur Gesundheitsversorgung
eingeschränkt ist. Dazu gehören dann eben auch Geflüchtete, die man ja eher
destabilisiert: mit der Unterbringung in Massenunterkünften, ohne
Tagesstruktur und soziale Einbindung, in ewig andauernder Ungewissheit
durch endlose Verfahren oder Kettenduldungen.
Politisch adressiert wird das Problem kaum. Im Gegenteil, die
Ampel-Koalition hat in ihrer Regierungszeit einiges unerledigt gelassen:
von der Finanzierung der Psychotherapeuten-Ausbildung bis zur im
Koalitionsvertrag eigentlich angestrebten Finanzierung von
Dolmetscherleistungen im Gesundheitssystem.
Und damit ist ein Problem noch gar nicht benannt, das für richtig
unangenehme Diskussionen sorgen könnte: Der Frage nämlich, ob die knappen
vorhandenen Ressourcen immer so richtig und zielführend eingesetzt werden.
Aber da würde man sich ja gleich mit zwei Gruppen anlegen: gut situierten
und gebildeten Menschen, die Therapie als Instrument der Selbsterkenntnis
und Selbstoptimierung begreifen und Therapeuten, die lieber einen „Burn-on“
behandeln als eine Traumafolgestörung.
Das ist natürlich alles legitim, man kann ja niemanden zu einer Therapie
zwingen – auf beiden Seiten nicht. Man könnte allerdings schon einmal
fragen, ob da in einem doch immer noch zu großen Teilen öffentlich
finanziertem Gesundheitswesen, die richtigen Prioritäten und Anreize
gesetzt werden.
Das ist natürlich alles wenig wahlkampftauglich, man bräuchte Studien und
Förderprogramme, mehr Geld in diesem unübersichtlichen Sektor rund um die
psychosoziale Betreuung, das macht sich alles nicht so gut als
10-Punkte-Plan, vermute ich. Da hofft man vielleicht doch lieber, [4][dass
es beim nächsten Mal wieder ein Geflüchteter ist, dann kann man über
Grenzen reden.]
21 Feb 2025
## LINKS
[1] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Mes…
[2] /Nach-Drohungen-gegen-Buergermeister/!5996381
[3] /Vater-von-Hanau-Attentaeter-verurteilt/!6042872
[4] /Offener-Brief/!6066214
## AUTOREN
Nadine Conti
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