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# taz.de -- Psychische Traumata und PTBS: Dem Trauma auf der Spur
> In Afrika sind durch Kriege und Konflikte ganze Gesellschaften
> traumatisiert. Doch es haben sich Wege zur Heilung gefunden.
Bild: Ein Ayinet-Mitarbeiter spricht mit einem Kriegsopfer im ugandischen Dorf …
Jahrzehntelange Kriege und Konflikte haben auf dem afrikanischen Kontinent
ein trauriges Erbe hinterlassen. Ganze Gesellschaften sind traumatisiert,
mit Konsequenzen über Generationen hinweg. Gleichzeitig ist das Wissen über
Traumata, ihre Folgen und wie sie behandelt werden können, stetig
gewachsen.
Uganda ist dafür ein gutes Beispiel. Der Konflikt zwischen Ugandas Armee
und den Rebellen der LRA (Lord Resistance Army) unter ihrem Anführer Joseph
Kony von 1987 bis 2006 gilt als einer der grausamsten in der jüngeren
Geschichte Afrikas. Kinder und Jugendliche spielten in ihm eine besondere
Rolle. Während des Krieges überfielen die Rebellen systematisch Schulen, um
eine Armee von Kindersoldaten aufzustellen, bis zu 66.000 Kinder wurden
entführt und zwangsrekrutiert, so die Schätzungen von Unicef.
Die Kommandeure bildeten die Jungen zum Töten aus und zwangen sie mitunter,
ihre Eltern mit Macheten zu zerhacken oder die eigene Mutter zu
vergewaltigen. Die Mädchen wurden als Sexsklavinnen gehalten, sie sollten
den Nachwuchs für die Rebellenarmee zeugen. Damit sie niemandem von ihrem
Leid berichten, wurde ihnen der Mund zugenäht oder mit einem
Vorhängeschloss verriegelt, das man ihnen durch die Lippen bohrte. Die
Gewalt war so extrem, dass nach 20 Jahren Krieg eine ganze Generation im
Norden Ugandas zutiefst traumatisiert war.
## Schleppende Strafverfolgung
Im westlichen Rechtsverständnis geht man davon aus, dass eine Gesellschaft
ihre Traumata erst heilen kann, wenn die Täter zur Rechenschaft gezogen
werden und so Gerechtigkeit wieder hergestellt wird. Doch nach Beendigung
des Konflikts im Jahr 2006 zogen sich die meisten der LRA-Rebellen aus
Uganda zurück, sie flohen in das benachbarte Kongo oder in die
Zentralafrikanische Republik und entzogen sich so einer Strafverfolgung.
Gegen ihren Anführer Joseph Kony erließ der Internationale Strafgerichtshof
in Den Haag bereits 2005 Haftbefehl, aber auch [1][er wurde bis heute nicht
gefasst].
So mussten die Ugander lange auf das erste Urteil gegen einen
LRA-Kommandeur warten. 2021 erst [2][verurteilte der Internationale
Strafgerichtshof Dominic Ongwen] wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit. Er war der einzige hochrangige LRA-Offizier, der
je verhaftet wurde. Dabei war er selbst gerade einmal 14 Jahre alt, als er
von der LRA entführt worden war, und somit ein umstrittener Fall. Er ist
ein Beispiel dafür, wie Opfer tiefer traumatischer Erfahrungen selbst zu
Tätern werden können und wie schwer und langwierig es ist, solche Fälle
juristisch aufzuarbeiten.
Im Zuge des Rückzugs der Rebellen in Ugandas Nachbarländer gelang es vielen
Tausenden Kindersoldaten, aus den Reihen der LRA zu fliehen. Sie kehrten
traumatisiert in ihre zerstörten Heimatdörfer zurück und begegneten dort
ihren Eltern und Nachbarn, denen sie oftmals großes Unheil angetan hatten.
Doch anstelle eines versöhnlichen und friedlichen Zusammenlebens
reproduzierte sich das Trauma: Viele der Jugendlichen waren gewalttätig und
kriminell, tranken viel Alkohol und zeigten Anzeichen schwerer
Depressionen.
## Begegnung zwischen Täter und Opfer
Wie kann eine Gesellschaft unter diesen Umständen heilen? In Uganda wurde
auf alternative, traditionelle Methoden der Rechtsprechung zurückgegriffen.
Die Regierung sagte allen LRA-Mitgliedern bis auf wenige Ausnahmen
Straffreiheit zu, wenn sie sich einem öffentlichen Verfahren unterzogen,
das Gerechtigkeit schaffen sollte. Dafür wurden im Norden Ugandas
sogenannte [3][Mato-Oput-Zeremonien] abgehalten, frei übersetzt aus der
Sprache der Acholi: bittere Medizin trinken.
Bei den Zeremonien kamen alle beteiligten Gruppen einer Gemeinde zusammen,
der Dorfälteste fungierte als Richter. Die Täter mussten öffentlich ihre
Taten gestehen und die Angehörigen ihrer Opfer um Vergebung bitten. Dazu
wurde ein bitteres Getränk gereicht. Die Überlebenden wiederum berichteten
dem Täter von ihrem Leid und zeigten sich bereit zu vergeben. Weil das
Verfahren im Gegensatz zu einem Gerichtsprozess lokal und mit wenigen
Ressourcen umgesetzt werden konnte, wurde die flächendeckende Versöhnung
zwischen Familien und Nachbarn möglich.
Ein weiterer Ansatz zur kollektiven Aufarbeitung des Konflikts fand sich in
der psychologischen Begleitung und Behandlung von traumatisierten Kindern
und Jugendlichen. Dabei setzte man auf die Potenziale von
Selbsthilfegruppen wie etwa [4][dem African Youth Network] (Ayinet), das
2005 von Victor Ochen gegründet wurde. Bei einer Sitzung fanden sich
ehemalige Kindersoldaten, also Täter, zusammen mit Opfern und Überlebenden
aus ihren Gemeinden.
Psychologisch geschulte Ayinet-Mitarbeiter moderierten die
Gruppengespräche. Dabei konnten sowohl Opfer als auch Täter ihre
Erinnerungen miteinander teilen. Über 100.000 Kindern und Jugendlichen
wurde so seit 2005 geholfen. Dies trug dazu bei, dass im Verfahren gegen
Dominic Ongwen am Internationalen Gerichtshof zahlreiche Opfer und
ehemalige Kindersoldaten als Zeugen aussagen konnten, ohne dabei
retraumatisiert zu werden.
## Adaption im globalen Norden
Das öffentliche Erzählen der Taten, das gemeinsame Trauern und Trösten, die
Versöhnung – sie sind wesentliche Bestandteile der Traumaheilung, die in
Uganda auf jahrhundertealte Rituale zurückgeht. Auch im globalen Norden
haben Fachkreise diese Form der Gesprächstherapie adaptiert. Im Englischen
ist sie unter dem Begriff testimony therapy – frei übersetzt: Therapie
durch Zeugenschaft – in die Fachliteratur eingegangen. In der deutschen
Fachliteratur wird der Ansatz als Narrative Expositionstherapie bezeichnet.
Sie dient vor allem als Behandlungsmethode für schwer traumatisierte Kinder
und Jugendliche.
Erforscht wurde die Praxis von Trauma-Forscher Thomas Elbert der
Universität Konstanz. Elbert ist Gründungsmitglied von [5][VIVO
International], einem Verein, der weltweit in schwer traumatisierten
Gesellschaften aktiv ist. Der Kern der Methode ist stets die Begegnung
zwischen Opfer und Täter und die gemeinsame Aufarbeitung der Erfahrungen.
2019 erhielt VIVO für seine Arbeit mit den Kindern im Norden Ugandas den
Deutschen Psychologiepreis.
Seit dem Frühjahr 2022 werden diese kollektiven Therapie-Ansätze für Kinder
und Jugendliche auch in der Ukraine angewandt, durch die Schulung und
Beratung seitens ugandischer Traumatherapeutinnen und -therapeuten, zum
Beispiel der Organisation Ayinet.
Der Bedarf ergibt sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist die
psychotherapeutische Versorgung in der Ukraine selbst, aber auch in
Deutschland als Aufnahmeland von Geflüchteten nicht ausreichend, um
Millionen traumatisierte Menschen zu behandeln. In Deutschland etwa warten
Geflüchtete aktuell über sieben Monate lang auf einen Therapieplatz, so die
Angaben des Dachverbands der Psychosozialen Zentren BafF. Zum anderen fehlt
es an Personal, das auf die Behandlung von schweren Traumata spezialisiert
ist.
Umso wichtiger ist es also, dass der Austausch zwischen den ugandischen und
ukrainischen Therapeutinnen und Therapeuten zustande kam. Und dass er in
der Praxis funktioniert.
18 Aug 2023
## LINKS
[1] /Ugandischer-Milizenfuehrer-Joseph-Kony/!5039172
[2] /Urteil-gegen-LRA-Kommandeur-aus-Uganda/!5745244
[3] /Prozess-gegen-LRA-Kaempfer/!5200515
[4] https://ayinet.org/
[5] https://www.vivo.org/
## AUTOREN
Simone Schlindwein
## TAGS
IG
Uganda
Posttraumatische Belastungsstörung
Trauma
LRA
wochentaz
Afrobeat
Uganda
Schwerpunkt Demokratische Republik Kongo
Lesestück Recherche und Reportage
Uganda
Epigenetik
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