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# taz.de -- 80 Jahre Befreiung des KZ Auschwitz: Der gar nicht so unglaubliche …
> In der Ukraine und anderen früheren sowjetischen Gebieten leben viele
> Menschen, deren Familiengeschichten von NS-Terror und Stalinismus geprägt
> sind.
Uns, die wir zu Friedenszeiten in der damaligen [1][Sowjetunion] geboren
wurden, erschien Krieg als etwas Unglaubliches. Wie ein unwirkliches
Schauermärchen, das niemals Platz finden sollte in unserem kindlichen,
später erwachsenen Leben.
So dachten wir, obwohl in vielen Familien die Eltern einst als Kinder oder
die Großeltern einst als junge Leute noch selbst den Zweiten Weltkrieg
erlebt hatten, den man in der Sowjetunion „Großer Vaterländischer Krieg“
nannte. Und obwohl um uns herum Radio, Fernsehen, Kino, Schulbücher und
sogar Ferienlagerspiele voll waren mit Kriegsthemen. Oder vielleicht auch
gerade deswegen.
In meiner Kindheit wurde in meiner Familie nur selten über den Krieg
gesprochen. Doch einmal erzählte mir meine Mutter, wie sie als junge
Zwangsarbeiterin in Stettin mit einem anderen Mädchen oft zum Hafen ging,
um eimerweise Fischabfall zu holen. Das war überlebenswichtig für ihre
Pflegeeltern und die anderen [2][Zwangsarbeiter], mit denen sie in der
Ziegelfabrik schwer schuften musste. Ich verstand, wie meine Mutter schon
als Mädchen versucht hatte, ihre Nächsten zu unterstützen. Das zeichnete
sie ihr ganzes Leben aus.
Ich wusste, dass die Großväter vieler Gleichaltriger im Zweiten Weltkrieg
gekämpft und sogar Orden bekommen hatten. Also fragte ich meine erwachsenen
Verwandten, ob einer meiner Opas an der Front gewesen war. „Nein“, hieß es
kurz, „aus unserer Familie hat niemand gekämpft.“ Erst später verstand ic…
warum. Da war ich etwa sieben Jahre alt. Von einem Kind in unserem Hof
schnappte ich den Propagandaspruch auf:
„Ehrliches Wort – roter Stern. Opa Lenin und Stalin sehen Betrug nicht
gern.“
Das war so leicht zu merken. Also kam ich nach Hause und zitierte es vor
meinem Vater. Er antwortete verwundert: „Und weißt du denn, wer dieser
Stalin ist?“ Ich wusste es nicht.
Lenin wurde in meiner Kindheit zur Ikone stilisiert. Im Kindergarten
lernten wir Gedichte über den Revolutionsführer, in der Schule schrieben
wir Referate und bastelten Alben. Über Stalin aber, dessen Personenkult
schon vor meiner Geburt geendet hatte, hörte ich praktisch nichts. Also
erklärte mir mein Vater, dass dieser Diktator einer der größten
Massenmörder des 20. Jahrhunderts war, und er erzählte mir vom Großen
Terror und dem Gulag.
Ich erfuhr, dass beide Familien meiner Eltern Opfer der Repressionen
geworden waren. Mark, mein Opa väterlicherseits, war ein hochgebildeter
Mensch, aber starb 1943 mit nicht einmal 40 Jahren unter ungeklärten
Umständen im Gulag. Iwan, mein Opa mütterlicherseits, wurde in der Hochzeit
des Stalinschen Terrors 1937 vom NKWD erschossen. Meine Oma Praskowija
musste als Ehefrau eines „Volksverräters“ acht Jahre im Lager verbringen.
Und meine Mutter, damals sieben Jahre alt, wurde in ein Heim für
„Verräterkinder“ gesteckt. Von dort wurde sie von ihrer Tante Olena und
ihrem Onkel Marcel gerettet, die sie als liebevolle Pflegeeltern aufnahmen.
Bis die nächste schwere Herausforderung kam: der Zweite Weltkrieg, die
deutsche Besatzung und die Verschleppung zur Zwangsarbeit ins Deutsche
Reich.
So schrieben sich zwei verbrecherische Ideologien in unsere
Familiengeschichte ein: Stalins Totalitarismus und Hitlers
Nationalsozialismus.
Das erste ehrliche Buch über den Zweiten Weltkrieg, das mich zutiefst
erschütterte, war der dokumentarische Roman „Babij Jar“ von Anatolij
Kusnezow – eine Chronik des Lebens, genauer des Überlebens im besetzten
Kyjiw. Zentrales Ereignis ist die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung
durch die Deutschen in Babyn Jar. Diese eilig gefertigten Aufzeichnungen
eines 13-jährigen Jungen, später als Erwachsener ergänzt, standen in
krassem Gegensatz zu den sowjetischen Heldenmythen über den Krieg. Kein
Wunder, dass der Autor aus der UdSSR ausgewiesen wurde und 1979 bei einem
nie aufgeklärten Unfall in London starb.
Als Kusnezows Buch erschien, zur Zeit des politischen Tauwetters Ende der
1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre, wurde auch zum ersten Mal über die ins
Deutsche Reich deportierten Zwangsarbeiter gesprochen. Die „Ostarbeiter“
organisierten sich. Mitbegründerin einer solchen ukraineweiten Organisation
war meine Mutter. Ihre Mission war es, das von ihrer Generation Erlebte für
die nachfolgenden zu bewahren. Daraus entstand die Bücherreihe „Erinnern
für die Zukunft“ mit Zeitzeugenberichten über die deutsche Besatzung und
die Zwangsarbeit, aber auch über die schreckliche Wirklichkeit des
sowjetischen Alltags wie Holodomor und Repressionen.
Aus diesen Berichten lernte ich, dass für die damals jungen
Zwangsverschleppten der Krieg 1945 nicht zu Ende war. Er dauerte für sie
noch weitere Jahrzehnte und bestimmte ihr gesamtes weiteres Leben. Denn
nach ihrer Rückkehr wurden sie von sowjetischen Behörden des Verrats
verdächtigt, ihre Chancen auf Bildung und Karriere waren eingeschränkt. Nur
wenige konnten diese Widerstände überwinden, meine Mutter gehörte zu diesen
Glücklichen. Mit ihrem starken Willen wurde sie, aller Stigmatisierung
ihrer Biografie durch die Regime Stalins und Hitlers zum Trotz, eine
erfolgreiche Wissenschaftlerin und leitete sogar eine eigene
Forschungsgruppe.
Ich weiß, dass es auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion Millionen
solcher Familiengeschichten gibt, die von diesen zwei Diktaturen geformt
wurden. Ich denke, aus diesem Grund stimmten beim ukraineweiten Referendum
1991 mehr als 90 Prozent der Menschen für die Unabhängigkeit des Landes.
Und das ist auch die Basis für den unerbittlichen ukrainischen Widerstand
gegen Russlands Aggression in der Gegenwart. Wir Ukrainer wollen keine
Rückkehr zu Diktatur und Gulag, wie Putin sie in seinem Staat formiert und
in der Welt verbreiten will.
Tatsächlich war jener Krieg, der uns immer so unglaublich und unmöglich
erschien, doch die ganze Zeit da. Wir haben ihn nur nicht bemerkt, solange
er nicht in unseren Vorgarten kam.
Ich erinnere mich an die schrecklichen Bilder der Bombardierungen in
Tschetschenien, an das dem Erdboden gleich gemachte Grosny … und an das
Schweigen der internationalen Gemeinschaft. Ich erinnere mich an 1994, als
die Ukraine unter internationalem Druck ihre Atomwaffen abgab. Für viele
von uns – und auch für unsere polnischen Freunde – war das ein
alarmierendes Zeichen, denn es zeigte die schwächer werdende
Verteidigungsfähigkeit unserer Region. Aber die internationale Gemeinschaft
redete den ukrainischen Politikern ein, dass man – ganz im Gegenteil –
damit die Sicherheit stärke. Kaum zehn Jahre später kam es zum ersten
russischen Angriff auf die ukrainische Insel Tusla. Wiederum gute zehn
Jahre später zur Annexion der Krim.
Und nun der 24. Februar 2022: die vollumfängliche Invasion. Russland
beschießt Kyjiw und Städte in der ganzen Ukraine. Wir hören die
Explosionen. In der zweiten Kriegsnacht weckt mich ein heftiger Schlag, aus
dem Fenster sehe ich eine riesige rote Flamme, die mir das Blut gefrieren
lässt. In wenigen Tagen ist unser Wohnblock fast leer. Wir tun uns schwer,
mit der Entscheidung wegzufahren. Besonders meine Mutter will ihr Zuhause
nicht verlassen. Aber meine Schwester hat vor zwei Monaten ein Kind
bekommen. Das war nun das Hauptargument für unsere Flucht.
Meine Mutter hätte nie gedacht, dass sich das Grauen, das sie schon als
Kind im Krieg erlebt hatte, für sie wiederholen würde. Und dass es sie
wieder nach Deutschland treiben würde. Nur diesmal nicht zur Ausbeutung,
sondern für Hilfe und Schutz.
Ljudmyla Sljessarjewa ist ukrainische Journalistin, Mitglied des
Journalistenverbandes und Polnisch-Übersetzerin. Sie unterstützt das von
ihrer Mutter Nadija Sljessarjewa gegründete „Frauenzentrum Nadija“
(„nadija“ heißt übersetzt auch Hoffnung), das sich mit der internationalen
Aufarbeitung von Schicksalen ukrainischer Zwangsarbeiterinnen beschäftigt.
Nadija Sljessarjewa hatte in Dnipro die deutsche Besatzung erlebt und war
zur Zwangsarbeit ins damals deutsche Stettin verschleppt worden. Sie starb
am 31. Dezember 2023 in Deutschland, das nun ihr Zufluchtsort vor Russlands
Angriffskrieg gegen die Ukraine geworden war.
Ausführlich beschrieben ist die Geschichte von Nadija Sljessarjewa in Folge
4 der Scroll-Doku [3][„Der Krieg und seine Opfer“]: „Unter Zwang“
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Peggy Lohse
Dieser Text ist entstanden im Rahmen von [4][„Der Krieg und seine Opfer“],
ein Projekt von dekoder, unterstützt von [5][taz Panter Stiftung]. Zwei
Podcastfolgen wurden ebenfalls aufgenommen und unter [6][„Freie Rede“]
veröffentlicht.
24 Jan 2025
## LINKS
[1] /Sowjetunion/!t5017671
[2] /Zwangsarbeit/!t5018577
[3] https://war.dekoder.org/de/unter-zwang
[4] https://war.dekoder.org/
[5] /stiftung
[6] /stiftung/podcasts
## AUTOREN
Ljudmyla Sljessarjewa
## TAGS
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