# taz.de -- 80 Jahre Befreiung des KZ Auschwitz: 14 Millionen Opfer, die lange … | |
> In den Berichten über Russlands aktuellen Krieg wird kaum an die | |
> Massenverbrechen erinnert, die Deutsche in der Ukraine begangen haben. | |
Am 8. Mai 2025 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 80. | |
Mal. Zugleich erschüttert seit fast drei Jahren ein neuer Krieg Europa: | |
Russlands brutaler [1][Angriff auf die Ukraine]. Von Beginn an führt die | |
Berichterstattung über diesen Krieg der Weltöffentlichkeit das Leid der | |
Zivilbevölkerung vor Augen und legt das Ausmaß der humanitären Katastrophe | |
in der Ukraine offen. | |
Die mehr als 14 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten, die zwischen 1941 | |
und 1945 im Krieg [2][NS-Deutschlands] gegen die damalige Sowjetunion ihr | |
Leben verloren, stehen dagegen bis heute im Schatten der Geschichte und | |
werden in der deutschen Erinnerungskultur wenig gewürdigt. | |
Das Füllen dieser Erinnerungslücken stellt eine dringende Aufgabe dar und | |
zielt darauf ab, die oft übersehenen Orte deutscher Massenverbrechen in | |
Belarus, der [3][Ukraine], Russland, dem Baltikum und weiteren Regionen der | |
ehemaligen Sowjetunion stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. | |
Zugleich erfordert sie weitere vertiefte Forschung, etwa zu den jüdischen | |
Opfern des „Holocaust durch Kugeln“, der so bezeichnet wird, weil die | |
jüdische Bevölkerung in den besetzten sowjetischen Gebieten nicht in | |
Gaskammern, wie in Auschwitz, sondern zumeist durch Massenerschießungen | |
ermordet wurde. | |
Allein in der Ukraine, die vollständig unter der brutalen deutschen | |
Besatzungsherrschaft stand, wurden 1,5 Millionen Jüdinnen und Juden | |
ermordet, ebenso Zehntausende Roma und Romnja sowie kranke und behinderte | |
Menschen. | |
Über 300 ukrainische Ortschaften wurden unter deutscher Besatzung zerstört | |
und ihre Einwohner ermordet. Die Mehrheit der 2,8 Millionen | |
Zwangsarbeiter:innen, die aus den besetzten sowjetischen Gebieten nach | |
Deutschland verschleppt wurden, stammte aus der Ukraine. | |
In der heutigen Ukraine verweben sich auf eindringliche Weise verschiedene | |
historische Gewalterfahrungen bis in die Gegenwart. 2022 erfuhren wir aus | |
den Medien von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die in der | |
Hafenstadt Cherson begangen wurden, als die Stadt von März bis November | |
2022 unter russischer Besatzung stand. 80 Jahre zuvor hatte die Chersoner | |
Stadtbevölkerung die Schrecken der deutschen Besatzungsherrschaft erfahren. | |
In Deutschland ist bis heute kaum bekannt, dass im Herbst 1941 etwa 5.000 | |
jüdische Männer, Frauen und Kinder sowie 1.000 Psychiatriepatient:innen, | |
darunter auch Kinder, in Cherson von deutschen Einsatzkommandos ermordet | |
wurden. | |
Die Kleinstadt Korjukiwka in der Region Tschernihiw zeigte nach der | |
russischen Großinvasion 2022 bemerkenswerten Widerstand. Mutige Bewohner | |
stellten sich den heranrückenden Panzern entgegen und zwangen sie zur | |
Umkehr. Weitgehend unbekannt ist in der deutschen Öffentlichkeit, dass die | |
Ortschaft 1943 von Einheiten der deutschen Sicherheitspolizei und des SD in | |
Tschernihiw komplett niedergebrannt wurde, wobei bis zu 6.700 Einwohner, | |
Männer, Frauen und Kinder ihr Leben verloren. | |
Die Namen Oradour, Lidice und Distomo – Schauplätze ähnlicher deutscher | |
Verbrechen an der Zivilbevölkerung im Zuge von vermeintlichen | |
„Vergeltungsaktionen“ gegen Widerstandsgruppen – sind heute feste | |
Bestandteile der europäischen Erinnerungskultur. Korjukiwka und Hunderte | |
anderer zerstörter Ortschaften in der Ukraine bleiben hingegen einer | |
breiteren Öffentlichkeit bis heute weitgehend unbekannt. Das gilt auch für | |
die zahlreichen belarussischen „Feuerdörfer“, denen der Schriftsteller Ales | |
Adamowitsch 1975 einen beeindruckenden gleichnamigen Band mit | |
Augenzeugenberichten gewidmet hat, der nun erstmals ins Deutsche übersetzt | |
wurde (Aufbau-Verlag). | |
Wer erinnert sich heute an die 200 Roma und Romnja aus dem Dorf | |
Alexandrowka bei Smolensk, die auf einer 1937 gegründeten sowjetischen | |
„Zigeunerkolchose“ beschäftigt waren und im April 1942 von deutschen | |
Einsatzkommandos ermordet wurden? Weder diese deutschen Täter noch die des | |
Patientenmords von Cherson oder der Vernichtung von Korjukiwka wurden nach | |
1945 für ihre Taten verurteilt. Zahlreiche deutsche Täter blieben in der | |
Bundesrepublik für ihre grausamen Verbrechen ungestraft, wodurch den Opfern | |
ein wiederholtes Unrecht widerfuhr. Die mangelhafte juristische | |
Aufarbeitung der NS-Verbrechen im Osten ist ein düsteres Kapitel der | |
Nachkriegsgeschichte und trägt bis heute zu den Leerstellen in der | |
deutschen Erinnerungskultur bei. | |
In der Ukraine, Russland und Belarus befindet sich die seit 1991 | |
entstehende Erinnerungskultur an diese Opfergruppen oftmals noch in ihren | |
Anfängen. Bis zum Ende der Sowjetunion blieben die ermordeten Jüdinnen und | |
Juden, Roma und Romnja, kranken und behinderten Menschen sowie andere | |
zivile Opfer meist namenlos – subsumiert unter der anonymen Masse der | |
„Opfer des Faschismus“. Im Gedächtnis der lokalen Gemeinschaften, vor deren | |
Augen sich die schrecklichen Taten abgespielt hatten und die in der Nähe | |
der Massengräber lebten, blieben die Verbrechen jedoch über Jahrzehnte | |
präsent. | |
Nach der Auflösung der Sowjetunion hätte die gemeinsame Aufarbeitung der | |
Verbrechen des Nationalsozialismus und des Stalinismus sowie ein | |
gemeinsames Gedenken an die unterschiedlichen Opfergruppen eine | |
integrierende Funktion für die Gesellschaften der Nachfolgestaaten der | |
Sowjetunion entfalten können. In Russland unter seinem Präsidenten Putin | |
stand jedoch, anders als in der Ukraine, weiterhin die Erinnerung an eine | |
heldenhafte Vergangenheit im Vordergrund, während die Opfer nur eine | |
historische Randnotiz darstellen. | |
Die russische und die ukrainische Erinnerungskultur haben sich | |
unversöhnlich auseinanderentwickelt. Seit 2014 sind in der Ukraine und in | |
Russland Erinnerungskonflikte über zentrale Ereignisse geteilter Geschichte | |
mit zunehmender Schärfe zu Tage getreten. Beide Staaten haben | |
Geschichtsgesetze verabschiedet, um Geschichte für politische Zwecke zu | |
nutzen: Russland glorifiziert damit die heldenhafte sowjetische | |
Vergangenheit und unterdrückt kritische Stimmen, während die Ukraine sie | |
einsetzt, um sich vom sowjetischen Erbe abzugrenzen und die stärkere | |
Herausbildung einer ukrainischen Nation zu fördern. | |
2022 erreichten die Erinnerungskonflikte eine neue Eskalationsstufe, als | |
Putin die Erinnerung an den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ | |
heranzog, um seine Aggression gegen die Ukraine zu rechtfertigen und sich | |
vermeintlich die Unterstützung der russischsprachigen Bevölkerung zu | |
sichern. Dies hat den Boden für den neuen Krieg bereitet. Warnungen aus | |
Polen und den baltischen Staaten vor der aggressiven russischen | |
Geschichtspolitik fanden in Deutschland über lange Zeit kaum Beachtung. | |
In Deutschland erleben wir aktuell einen hochdynamischen Wandel der | |
Erinnerungskultur. Der russische Angriffskrieg hat nicht nur in der | |
Ukraine, sondern auch international Diskussionen über russischen und | |
sowjetischen Imperialismus sowie Kolonialismus angestoßen. In Deutschland | |
überschneiden sich diese Debatten mit erinnerungskulturellen | |
Auseinandersetzungen über die Singularität des Holocaust und mögliche | |
Kontinuitätslinien zwischen Holocaust und Kolonialismus. Im Rahmen des | |
sogenannten Historikerstreits 2.0 rückte durch Putins neoimperialen Krieg | |
auch der deutsche koloniale Blick auf Osteuropa stärker in den Fokus. | |
Aktuelle Herausforderungen liegen im bevorstehenden Ende der | |
Zeitzeug:innengeneration, in der Bedrohung durch rechtsradikale Parteien | |
wie die AfD, die durch Geschichtsrevisionismus und Relativierungen die | |
Erinnerungskultur untergraben, sowie in den Anforderungen an eine inklusive | |
Erinnerungskultur in einer postmigrantischen Gesellschaft. | |
Große Aufgaben für die Forschung sowie für die Bildungs- und | |
Erinnerungsarbeit stehen bevor – in Deutschland ebenso wie in der Ukraine, | |
Russland, Belarus und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die | |
Würdigung der Opfer deutscher Massenverbrechen im Osten stellt auch eine | |
gemeinsame Erinnerungsaufgabe dar. | |
In der Ukraine brachte die Öffnung ehemaliger Geheimdienstarchive im Jahr | |
2015 neue Impulse für die Forschung – etwa für die Untersuchung des | |
Holocaust, weiterer ziviler Opfergruppen und der Frage der Kollaboration. | |
Auf der Grundlage nun zugänglicher sowjetischer Nachkriegsprozessakten | |
können in Vergessenheit geratene Verbrechenskontexte erstmals dicht | |
beschrieben und erforscht werden. | |
Biografische sowie alltags- und erfahrungsgeschichtliche Zugänge können | |
genutzt werden, um die Erfahrungen der Opfer und ihre Perspektiven auf die | |
Geschichte an die jüngere Generation zu vermitteln. Die „Osterweiterung der | |
deutschen Erinnerung“ bleibt 2025 eine dringende Aufgabe. | |
Tanja Penter ist Historikerin und Professorin für Osteuropäische Geschichte | |
an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg sowie Sprecherin des | |
DFG-Graduiertenkollegs „Ambivalent Enmity“. Zu ihren | |
Forschungsschwerpunkten gehört die Geschichte Russlands, der Ukraine und | |
der Sowjetunion im 19. und 20. Jahrhundert und zum Vergleich der | |
Diktaturen. Unter anderem arbeitet sie zu zivilen Opfern der deutschen | |
Besatzungsverbrechen in der Ukraine während der NS-Zeit sowie zur | |
Nachkriegsgeschichte der juristischen (Nicht-)Aufarbeitung dieser | |
Verbrechen. | |
Dieser Text ist entstanden im Rahmen von [4][„Der Krieg und seine Opfer“], | |
ein Projekt von dekoder, unterstützt von [5][taz Panter Stiftung]. Zwei | |
Podcastfolgen wurden ebenfalls aufgenommen und unter [6][„Freie Rede“] | |
veröffentlicht. | |
24 Jan 2025 | |
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[4] https://war.dekoder.org/ | |
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## AUTOREN | |
Tanja Penter | |
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