# taz.de -- Negativity Bias im Journalismus: Ist es wirklich so schlimm? | |
> Die Weltlage macht es schwer, optimistisch zu bleiben. Dabei sind 2024 | |
> viele positive Dinge passiert. Über Menschen, die gute Nachrichten | |
> verbreiten. | |
Die schlechten Nachrichten in diesem Jahr häuften sich. Optimismus, so hieß | |
es lange gern im Scherz, sei nur ein Mangel an Information. Mit Blick auf | |
das Klima etwa halten Viele das heute für geradezu unbestreitbar. Die | |
Zukunft erscheint bedrohlich, manche erwarten gar den Kollaps. Doch es gibt | |
Menschen, bei denen ist es umgekehrt: Sie weisen auf empirische | |
Entwicklungen hin, die trotz allem menschlichen Fortschritt zeigen und | |
Gründe zur Zuversicht geben. Christian Jakob beschreibt in diesem Text, was | |
sie dem oft fatalistischen Zeitgeist entgegenhalten. Zusätzlich | |
veröffentlichen wir eine Interviewreihe, in der wir ausführlich mit den | |
Protagonisten dieses Textes, dem [1][Ökonomen Max Roser], dem | |
Fortschrittsinfluencer [2][Angus Hervey] und dem Journalisten [3][Ullrich | |
Fichtner,] darüber sprechen, ob der bisherige menschliche Fortschritt auch | |
all die neuen Krisen übersteht. | |
Fortschrittsinfluencer Angus Hervey | |
Seit über zehn Jahren verschickt Angus Hervey seinen Newsletter Fix the | |
News an mittlerweile rund 55.000 Abonnent:innen in der ganzen Welt. So | |
auch um 11.45 Uhr am Morgen des 6. November. In den USA hatten die | |
Wahllokale da gerade geschlossen. Viele hatten in den Stunden zuvor Trump | |
gewählt, weil sie ihm und seinen Helfern geglaubt hatten, dass Biden ihr | |
Land ruiniert habe. | |
Am 6. November war in Herveys Newsletter zu lesen, dass der Anteil der | |
Menschen ohne Krankenversicherung in den USA auf den Rekordniedrigstand von | |
7,7 Prozent gefallen und die Lebenserwartung auf den Höchstwert von 79,3 | |
Jahren geklettert war. Der Wohnungsbau „boomt wie seit einem halben | |
Jahrhundert nicht mehr“, schrieb Hervey. Inflation, Kriminalität und | |
Fettleibigkeit nehmen ab, Löhne und Gehälter lagen „höher als je zuvor“, | |
ebenso der Anteil der Erwerbstätigen. Die Produktivität übertreffe jene | |
„aller anderen vergleichbaren Länder“, die CO2-Emissionen gehen zurück, d… | |
erneuerbaren Energien legen stark zu. | |
Schon vor Trump sah die Welt düster aus, seine Wiederwahl machte die | |
Novemberdepression für viele perfekt. Gewählt wurde ein Verbrecher, den | |
seine [4][Vertrauten „Faschist“ nennen], der so viel Öl und Gas wie mögli… | |
fördern lassen will, der vielleicht nicht nur die Ukraine, sondern ganz | |
Europa Putins Aggression überlässt. Trump verabscheut den | |
Multilateralismus, den es angesichts der Menschheitskrisen wie | |
Artensterben, Klimakrise und Atomkriegsgefahr so dringend braucht. Er | |
könnte Rechtsextremen auf der ganzen Welt an die Macht verhelfen. Und | |
interessiert sich da überhaupt noch jemand fürs Klima, für Gaza, den Sudan? | |
Den wieder anschwellenden Hunger? | |
Dystopischer, so scheint es, geht es kaum. Ist es für Menschen bei halbwegs | |
klarem Verstand und mit halbwegs intaktem moralischem Empfinden noch | |
möglich, anders auf die Welt zu blicken? | |
## Geschichten vom Fortschritt | |
Angus Herveys Newsletter soll zeigen, dass das möglich ist. Jede Woche sind | |
darin Geschichten vom Fortschritt zu lesen, die für alle verblüffend sind, | |
die ihre Informationen normalerweise aus gängigen Nachrichtenquellen | |
beziehen. Wer an jenem für viele so düsteren Morgen in Herveys Newsletter | |
weiterlas, erfuhr, dass die Zahl der jährlichen Toten durch | |
Luftverschmutzung wegen der Schließung von Kohlekraftwerken seit 2016 um | |
etwa 7 Prozent sank. Oder dass die CO2-Emissionen der EU 2023 um 8,3 | |
Prozent fielen – und es 2024 offenbar ähnlich aussehen wird. | |
Zu lesen war von einer sich abzeichnenden „Revolution bei klimagerechten | |
Nutzpflanzen und -tieren“, von „unglaublichen“ Fortschritten beim Kampf | |
gegen [5][Tuberkulose in Indien], dem erstmaligen Zugang zu elektrischen | |
Haushaltsgeräten für Millionen dank Solarprojekten in Lateinamerika, oder | |
einem Gerichtsurteil in Japan, das wohl die Einführung der Homo-Ehe bringen | |
wird. | |
Ökonom Max Roser | |
Hervey ist nicht der Einzige, der dem Zeitgeist den Blick auf solche | |
Entwicklungen entgegensetzt. An der Universität Oxford hat der deutsche | |
Ökonom Max Roser ein Portal namens „Our World in Data“ aufgebaut. Die | |
Redaktion zeigt mit Grafiken, welche Probleme die Menschheit wirklich hat | |
und wie sie beim Kampf gegen diese vorankommt. | |
Rosers Kollegin Hannah Ritchie hat auf Grundlage dieser Daten gerade ein | |
Buch namens „Hoffnung für Verzweifelte“ geschrieben, der Spiegel-Journalist | |
Ullrich Fichtner veröffentlichte 2023 ein ähnliches Buch mit dem Titel | |
„Geboren für die großen Chancen“. Während vielen die Zukunft heute | |
bedrohlich, wenn nicht lebensfeindlich erscheint, oder sie gar den Kollaps | |
erwarten, zeichnet Fichtner das Panorama einer sehr wohl lebenswerten Welt. | |
Auch in einer wöchentlichen Kolumne legt er dar, warum er eine solche | |
Zukunft für wahrscheinlich hält. | |
Halten Menschen wie Hervey, Roser, Ritchie und Fichtner es für möglich, | |
dass der bisherige Fortschritt auch die Ballung all der neuen Krisen | |
übersteht? Und worauf, glauben sie, dürfen wir für die Zukunft hoffen? | |
## Den westlichen Bias überwinden | |
Es sei nicht ausgemacht, dass der bisherige Trend menschlichen Fortschritts | |
insgesamt anhält, sagt dazu Angus Hervey bei einem Zoomgespräch aus seiner | |
Wohnung in Sydney. Er trägt T-Shirt und kurze Hosen, in Australien ist | |
Sommer. Zwischendurch kommen die Kinder ins Wohnzimmer gelaufen, er bringt | |
sie wieder ins Bett. | |
Zumindest in einigen Teilbereichen hält Hervey die Entwicklung für stabil. | |
Er sieht einen weiteren Anstieg des Lebensstandards weltweit, den weiteren | |
Rückgang der Armut, „unglaubliche Fortschritte“ bei der globalen | |
Gesundheit. Selbst in Bezug auf Menschenrechte ist er optimistisch: Was | |
Frauenrechte, die Homo-Ehe oder die Abschaffung der Todesstrafe angehe | |
etwa. „Das sind wichtige Nachrichten.“ Viele denken heute bei [6][Frauen-] | |
und [7][LGBTQI-Rechten] vor allem an den Backlash in den USA. Doch mit | |
Blick auf den gesamten Planeten zeigt sich darin vielleicht ein westlicher | |
Bias. | |
Beim Artensterben hingegen sehe es schlechter aus, glaubt Hervey. Und trotz | |
des möglichen Rückgangs bei den CO2-Emissionen werde es „dramatische | |
Klimaauswirkungen“ geben. Für möglich hält er auch eine Verschärfung | |
militärischer Konflikte – in Osteuropa, Taiwan, im Südchinesischen Meer. | |
„Es ist eine Zeit großer Unsicherheit.“ Von einer „einzigen Geschichte d… | |
Fortschritts“ wolle er deshalb nicht sprechen – eher von „Elementen des | |
Fortschritts während der kommenden, wahrscheinlich sehr turbulenten 20 oder | |
30 Jahre“. Es werde sich zeigen, ob es „die Geschichte des Zusammenbruchs | |
oder der Erneuerung“ gewesen sein wird. Damit es die Geschichte der | |
Erneuerung werden könne, brauche es „mehr Menschen, die darüber berichten�… | |
sagt er. | |
Denn dass Medien Fehlentwicklungen so sehr betonen und Fortschritt | |
ignorieren, sei eines der größten Probleme, sagt Hervey. Das Verhältnis | |
liege bei „etwa 1.000 zu 1“. Studien hätten gezeigt, dass es heute sechsmal | |
mehr negative Schlagzeilen als noch vor 20 Jahren gebe. Um 2010 herum | |
hätten Social-Media-Plattformen den chronologischen Feed durch | |
algorithmische Sortierung ersetzt. Was am häufigsten angeklickt wird, steht | |
seither ganz oben. „Das war der Beginn einer [8][Explosion von Negativität] | |
und Angst in den Medien“, sagt Hervey. | |
Es sei wie bei einem Kind, das ein Zeugnis mit guten und schlechten Noten | |
nach Hause bringt. „Die Medien sind wie Eltern, die nur auf die Fünfen und | |
Sechsen zeigen. Die Einsen und Zweien sind für die große Mehrheit der | |
Menschen deshalb unsichtbar.“ Gewiss seien Medien dazu da, das Schlechte | |
anzuleuchten, damit es korrigiert werden kann. Doch heute werde die | |
Erfüllung dieser Aufgabe überlagert von einer „Neigung zu provozieren“, | |
sagt er. „Es gibt kaum Reporter, die versuchen, interessante Geschichten | |
über etwas zu schreiben, das richtig läuft.“ So was werde | |
Journalist:innen gar nicht erst beigebracht. | |
## Eine Frage der Perspektive | |
Gezeigt habe sich das etwa daran, wie sehr der [9][Durchbruch beim | |
Malaria-Impfstoff] ignoriert wurde. „50 Jahre lang hat die Welt darauf | |
gewartet“, sagt Hervey. Es sei eine sehr interessante Story über Forschung, | |
Korruption, „geheime Absprachen in den Korridoren der Macht“. Guter Stoff | |
für Reporter, glaubt Hervey. Doch nicht einmal die im Oktober 2024 | |
vermeldete Ausrottung der [10][Krankheit in Ägypten], 8.000 Jahre nach den | |
ersten Aufzeichnungen über ihr Auftreten dort, sei von den Medien groß | |
beachtet worden. Zeitweise starben wohl bis zu 70 Prozent der Bevölkerung | |
Ägyptens an Malaria. Die Ausrottung sei „vielleicht eine der größten | |
Geschichten, die es je gab“. Und doch habe es in den meisten großen Medien | |
„fast nichts“ dazu gegeben. „Und wenn niemand auf solche Einsen hinweist, | |
ist es unwahrscheinlicher, dass wir sie in Zukunft weiter bekommen.“ | |
Beim Klima „warnten Wissenschaftler 30 Jahre lang, ohne dass etwas passiert | |
ist“. Jetzt würden sie und Journalisten „immer weiter eskalieren, um zu | |
versuchen, Aufmerksamkeit zu gewinnen“. Doch Studien zum Medienkonsum | |
zeigten, dass „Schreien und beängstigende Schlagzeilen“ zwar Aufmerksamkeit | |
erzeugen, Menschen aber [11][nicht zum Handeln bewegen]. Im Jahr 2024 | |
könnten die weltweiten Kohlenstoffemissionen zum ersten Mal stagnieren. | |
„Aber diese Geschichte wird nicht Seite an Seite mit der Geschichte der | |
Klimazerstörung erzählt“, sagt Hervey. Nur wenige Journalisten schrieben | |
darüber, „wie wir die Kurve drücken“. Progressiv denkende Menschen müsst… | |
lernen, „bessere Geschichten“ über ihr Projekt zu erzählen. | |
Schützt ihn selbst denn seine Arbeit davor, über all die Horrornachrichten | |
zu verzweifeln? Nein, sagt Hervey. „Wenn ich die Berichte über die | |
humanitäre Krise im Sudan lese, finde ich das absolut verheerend.“ Es gebe | |
vieles, was falsch laufe. Er habe zum Beispiel immer geglaubt, dass die | |
liberale Demokratie sich von selbst durchsetzt. Und so werde auch sein | |
Weltbild „ständig erschüttert“, zuletzt bei der US-Wahl. „Aber gleichze… | |
lese ich zum Beispiel, dass wir im letzten Jahr 150.000 Menschen vor | |
Tuberkulose gerettet haben.“ | |
Für jede erschütternde Geschichte gebe es eine, die „mindestens genauso | |
kraftvoll“ sei. Die Herausforderung sei, diesen „im Kopf gleich viel | |
Gewicht“ zu geben. | |
Viele, die die Welt ähnlich sehen wie Angus Hervey, verweisen auf das 2013 | |
von Max Roser gegründete Portal „Our World in Data“ der Universität Oxfor… | |
Roser hat dort eine Professur für Globale Entwicklung, wurde vom | |
UN-Generalsekretär António Guterres eingeladen und berät die UN in | |
Statistikfragen. Bill Gates nannte Roser „einen seiner Lieblingsökonomen“. | |
Eine „Gute Nachrichten“-Seite betreibe er aber nicht. „Es trifft mich oft | |
hart, was die Statistiken aussagen“, sagt Roser. „Dass 735 Millionen | |
Menschen auf der Welt hungern, ist einfach elend zu sehen.“ Und doch sei es | |
so, dass die Menschheit „gegen alle Erwartungen und gegen riesige | |
Widerstände oft fundamentale, unglaubliche Verbesserungen erreicht“ habe. | |
Fatalismus und Climate Anxiety gehen heute teils so weit, dass junge | |
Menschen über Suizid nachdenken. Er wolle es nicht abtun, dass manche die | |
Zukunft für nicht lebenswert halten, sagt Roser dazu. Und doch sehe er | |
darin einen „Perspektivverlust“. In der Vergangenheit, so sagt er, sei | |
jedes zweite Kind gestorben, bevor es das Ende der Pubertät erreicht hat – | |
und trotzdem fanden Menschen das Leben lebenswert. | |
Heute hungert einer von elf Menschen auf der Welt, 1960 war es einer von | |
drei. Und es gab nicht einmal halb so viele Menschen. Das sei eine | |
Perspektive, die ihm helfe, „nach vorn zu schauen, warum ich eine Familie | |
haben möchte und warum ich versuche, meinen Beitrag zu leisten“, sagt | |
Roser. Es lohne, eines nicht zu vergessen: „Die Menschen in der | |
Vergangenheit waren in viel schlechteren Situationen als wir.“ | |
## Eine Voraussetzung für Fortschritt ist Multilateralismus | |
Viele seien früher „unglaublich pessimistisch“ gewesen. Der erste Satz von | |
Paul Ehrlichs 1968 erschienenem Weltbestseller „Bevölkerungsbombe“ lautet: | |
„The Battle to feed all of humanity is over“. „Da war einfach keine | |
Hoffnung mehr“, sagt Roser. „Und das war die Standardmeinung.“ Ehrlich ha… | |
sogar erwartet, dass Großbritannien im Jahr 2000 „nicht mehr lebensfähig | |
ist und nicht mehr existiert“. Der damalige Fatalismus war falsch, sagt | |
Roser. „Das sollte uns eine Lehre sein für unsere eigene Zeit.“ | |
Heute bewege sich „der Großteil der Menschheit in die richtige Richtung“, | |
aber einige Kriegsgebiete und extrem arme Staaten wie DR Kongo, Madagaskar | |
oder die Zentralafrikanische Republik machten diese Entwicklung nicht mit. | |
Sie seien seit 1950 nicht wohlhabender, sondern noch ärmer geworden. „Um | |
die mache ich mir wegen der Klimakrise am meisten Sorgen.“ | |
Der Fortschritt, den Rosers Zahlen zeigen, hat Voraussetzungen. Unter | |
anderem den Multilateralismus, den Politiker wie Trump abwickeln wollen. | |
Wird das messbare Folgen haben? | |
Weniger Kooperation mache es „schwieriger für uns alle“, sagt Roser dazu. | |
Aber es sei auch „nicht das Ende“. Er erinnert an die Pocken, „eine der | |
elendsten Infektionskrankheiten der Menschheitsgeschichte“. In den letzten | |
100 Jahren vor ihrer Ausrottung 1978 tötete sie eine halbe Milliarde | |
Menschen. Weit mehr Infizierte überlebten, aber blieben für ihr Leben | |
vernarbt, ausgestoßen, teils erblindet. | |
Die Krankheit auszurotten habe nur durch globale Zusammenarbeit für eine | |
Impfkampagne funktioniert. „Zum Höhepunkt des Kalten Krieges, in der sehr | |
misslichen internationalen Lage der 60er und 70er, haben Ärzte und Leute in | |
internationalen Organisationen zusammengearbeitet und so etwas | |
Außergewöhnliches erreicht.“ | |
## Die Menschheit hat schon viel erreicht | |
Menschen würden heute paradoxerweise das Ausmaß globaler Probleme | |
unterschätzen, aber gleichzeitig den Fortschritt im Kampf gegen diese | |
Probleme nicht sehen, sagt Roser. Das habe auch mit der Gewichtung von | |
Nachrichten zu tun. „Jeden Tag sterben 16.000 Kinder, in den Nachrichten | |
findet das überhaupt keine Aufmerksamkeit.“ Stattdessen gab es etwa zur | |
US-Wahl praktisch schon ein halbes Jahr vorher nonstop Berichterstattung. | |
„Ich habe auch viel Zeit damit verbracht, mir über irgendwelche Details im | |
US-Wahlsystem Gedanken zu machen“, sagt Roser. „Letztlich habe ich die | |
Aufmerksamkeit damit oft aufs Falsche gelegt.“ | |
Vielen tut das nicht gut. Psychologen würden ihm von ihren Patienten mit | |
Depressionen schreiben. „Die sind überwältigt [12][von der Nachrichtenlage] | |
und dem Gefühl, dass alles schiefgeht.“ Die Therapeuten „zeigen ihnen mit | |
unseren Grafiken, dass eben nicht alles in die falsche Richtung geht. Das | |
hätte ich nie für möglich gehalten.“ | |
Journalist Ullrich Fichtner | |
Spiegel-Reporter Ullrich Fichtner beschreibt heute schwerpunktmäßig den | |
übersehenen Fortschritt. Er spricht von einem „Wahrnehmungsschock“, als er | |
sich für eine optimistischere Weltsicht geöffnet habe. „Man macht so | |
Bekanntschaft mit einem Weltbild, das Kopf steht, mit seinen eigenen | |
Wissenslücken“, sagt Fichtner. | |
Wenn er über Zuversicht spreche, würden die meisten denken, er hielte die | |
Weltlage für gar nicht so schlimm. „Das ist nicht der Fall.“ Aber: Negative | |
Momentaufnahmen ließen sich nicht einfach linear in die Zukunft verlängern. | |
„Und historisch begründbar lässt sich hinzufügen, dass es unglaublich viele | |
Überraschungen im Lauf der Menschheitsgeschichte gab, die alles auf den | |
Kopf gestellt haben.“ | |
Faszinierend sei, wie im Abstand von etwa 50 Jahren immer wieder sehr große | |
Dinge geschahen: Elektrizität, Atomenergie, digitale Revolution. Heute sei | |
die Menschheit „wahrscheinlich so gesund und lebenstüchtig wie noch nie – | |
obwohl es immer mehr Menschen gibt.“ | |
Widerstandsfrei verlaufe das keineswegs. Die Medizin sei „eine einzige | |
Geschichte von Tabubrüchen“, sagt Fichtner. „Immer wieder sagen Leute: Um | |
Gottes willen, bloß nicht!“ Sei es bei der Blutentnahme, der | |
In-vitro-Fertilisation, der Nierentransplantation: „Immer stehen Leute an | |
der Brücke über das Wasser und sagen: Geh nicht drüber, es wird schlimm | |
enden, der Mensch überhebt sich.“ Heute seien die Reaktionen auf künstliche | |
Intelligenz und andere Innovationen ähnlich. „Gestützt auf historische | |
Erfahrung sollte man sagen: Vielleicht wird doch nicht so heiß gegessen, | |
wie gekocht wird.“ | |
## Das Gehirn fokussiert übermäßig auf das Negative | |
Was die Medizin vorangebracht hat, gibt dem Menschen auch in anderen | |
Feldern Handlungsmacht – etwa beim Kampf gegen die Klimakrise. „Der Mensch | |
ist offensichtlich in der Lage, Prozesse zumindest zu bremsen und | |
einzuhegen, die ihn bedrohen. Das tut er immer wieder“, sagt Fichtner. In | |
Frankreich etwa habe ein sehr vorbildliches Waldbrandmanagement die Zahl | |
der Brände in den vergangenen 20 Jahren signifikant gesenkt. „Der Mensch | |
hat eingegriffen, mit sehr guten Folgen für alle Beteiligten. Das geht in | |
anderen Feldern ja auch. Dabei unterschätzen wir den Menschen und seine | |
Möglichkeiten. Aber wir könnte bei der Anpassung wahrscheinlich schon | |
weiter sein.“ Das liege auch daran, dass jene, die praktische Vorbereitung | |
einfordern, schnell „als Verräter am Kampf gegen die Ursachen“ gelten. | |
Eine Erklärung dafür, warum Zuversicht den Menschen so schwer fällt, sei | |
der „Negativity Bias“, sagt Fichtner: Archaische Überbleibsel evolutionär… | |
Risikovermeidung, die das Gehirn übermäßig auf das Negative, das | |
Gefährliche richten. | |
Doch er beobachte „unglaublich viele voneinander unabhängige Entwicklungen | |
in dieselbe Richtung“. Neue Lehrstühle an Universitäten und | |
Forschungsprojekte mit Bezug zum Klima entstehen, „weil es die jungen | |
Studenten oder Wissenschaftler interessiert, weil sie Verantwortung | |
übernehmen wollen“, sagt er. In der Wirtschaft sei es ähnlich. „In allen | |
Branchen wollen Unternehmer dabei sein. Vielleicht sind sie selber Eltern | |
und denken an die Zukunft, wollen sich korrekt verhalten. Die meisten | |
Menschen wollen ja nicht zum Schlechten beitragen, sondern zum Gelingen.“ | |
Die großen Erfolge der Vergangenheit waren auch möglich, weil | |
Forschungsförderung und Wissenschaftsfreiheit, Grund- und Bürgerrechte | |
günstige Bedingungen für sie boten. Nun kommen der Autoritarismus der | |
Populisten, die Staatswesenzerstörung der Ultralibertären. Ruiniert das | |
nicht die Grundlagen des Fortschritts? | |
„Als Donald Trump zum ersten Mal gewählt worden ist, habe ich Hunderte | |
Berichte darüber gelesen, dass jetzt alles vorbei ist“, sagt Fichtner. Doch | |
in der Regel hätten Populisten es in den vergangenen Jahrzehnten immer nur | |
geschafft, Fortschritt zu verlangsamen und Dinge aufzuhalten. „Dass die es | |
schaffen könnten, dass etwa der Verbrennungsmotor wiederkommt, ist | |
Blödsinn. Kein Mensch will den, nicht mal die Industrie.“ Das Schlimmste an | |
Leuten wie Trump, sagt Fichtner, sei „die [13][wahnsinnige | |
Zeitverschwendung]“, die durch deren politischen Einfluss entstehe, „die | |
aber an der Grundrichtung, die eingeschlagen ist, nichts mehr ändert“. | |
25 Dec 2024 | |
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