Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Zerbrochene Freundschaften im Jahr 2024: In Zeiten der Dunkelheit
> Viele Freundschaften sind in diesem Jahr zerbrochen. Zurück bleiben jede
> Menge Fragen und das Gefühl von Verlorenheit und Verzweiflung.
Bild: Berlin, 7. Oktober 2023: Mahnwache „Wir stehen an Eurer Seite…“ vor…
Es war ein schwieriges Jahr für Freundschaften. 2024 sei sein Adressbuch um
98 Prozent geschrumpft, sagte vor ein paar Tagen ein Freund aus London, dem
es nicht gut geht. Ich dachte kurz, 98 Prozent, das ist aber sehr viel.
Aber ich schwieg. Ich hatte gelernt, dass 2024 auch bedeutet, [1][einfach
mal nichts zu sagen,] sondern einfach zuzuhören, die Position des anderen
gelten zu lassen und vielleicht sogar zu verstehen.
Ob das alles antisemitische Gründe habe, wisse er nicht, sagte mein Freund.
Es könne natürlich auch sein, dass Menschen im digitalen Dunkel dieser Tage
einfach verschwinden, wegdriften, überfordert sind – aber er spüre es schon
sehr, wie sich die Stimmung verändert hat, [2][wie viel einsamer er sich
fühle], wie er an Depressionen leide. Dass er nicht mehr wisse, wo er
hingehöre und auf wen er sich verlassen könne.
Er klang sehr matt. Auch ich habe Freunde verloren, oft weiß man
tatsächlich nicht, wie und warum. Selten meldet sich jemand und nennt einen
Grund für das Abhandengekommensein. Dieses Schweigen ist noch
enttäuschender, denn es ist ein zweifacher Verrat an der Freundschaft.
Wenigstens dieses bisschen Offenheit und Respekt sollten sein. Sind es nur
die digitalen Mittel, die dieses Weggleiten ermöglichen?
Das Seltsame an diesem Jahr nach dem 7. Oktober 2023, dem schlimmsten
Pogrom an Jüdinnen und Juden seit dem Zweiten Weltkrieg und dem darauf
folgenden [3][Krieg Israels in Gaza,] ist diese aufgeladene Passivität,
diese Konfrontationslosigkeit inmitten all der Konfrontationen. Aber
zwischen den Menschen scheint ein Gespräch oft nicht mehr möglich zu sein,
es wird vermieden. Dadurch geht viel verloren, was an gegenseitigem
Verstehen nötig wäre.
Ich sage nicht, dass ich weiß, wie das geht. Ich habe sicher Menschen
verletzt und verloren, ich habe erlebt, wie sich ein Klima der Angst in
diesem Land ausgebreitet hat, Angst der Juden, Wut der Palästinenser, Angst
vor Zensur auf palästinensischer Seite, [4][Anfeindungen gegen jüdische
Studierende], Ratlosigkeit im öffentlichen Raum, im öffentlichen Sprechen,
was so wichtig ist für eine funktionierende Demokratie.
## Es ist etwas zerbrochen
Es ist da etwas zerbrochen, in manchen Menschen und zwischen den Menschen.
Ich habe die Verzweiflung und die Entfremdung gesehen bei Menschen, die
nicht hinnehmen wollten, dass dieses Land und diese Gesellschaft einen
Krieg in Gaza dulden, der in diesem Exzess nicht zu rechtfertigen ist. Ich
habe gesehen, wie sich jüdische Freunde verändert haben, weil sie den
antisemitischen Grundton dieser Gesellschaft nicht ertragen. Oder anders:
weil sie ihn zu lange verdrängt hatten.
Dieser Grundton war vor dem 7. Oktober schon da, er ist das Fundament, auf
das dieses Land gebaut ist, Der Publizist Michel Friedman hat es in
„Fremd“, seinem langgezogenen Schmerzensschrei von einem Buch,
eindrucksvoll beschrieben. „Die Angst ist mein Lebensgefährte“, schreibt
er. Es klingt wie ein Abschied, aber es gibt diesen Abschied nicht oder es
gab ihn schon vor langer Zeit, weil es fast unmöglich scheint, als Jude in
diesem Land zu leben. Nach dem 7. Oktober umso mehr.
Dieses [5][Land also hat sich 2024 in seiner angespannten Ambivalenz
gezeigt.] Die tatsächlich bleibende Unmöglichkeit, mit der Schuld
umzugehen, und die ebenso bleibende Unfähigkeit, diese Unmöglichkeit
anzuerkennen – und die Tendenz, sie stattdessen in eine Härte zu
verwandeln, mit der gegen das vorgegangen wurde, was als antisemitisch
gesehen wurde und was 2024 besonders oft „die Anderen“ waren.
Das hatte, wie so oft in Deutschland, etwas sehr Selbstgerechtes und führte
dazu, wie es die Leiterin der Berlinale, Tricia Tuttle, gerade gesagt hat
und wie ich es selbst beim Kuratieren einer Ausstellung erlebt habe, dass
immer mehr Künstlerinnen und Künstler und auch andere Menschen dieses Land
meiden, weil sie vom Diskurs abgestoßen sind. Auch dieses Wegdriften oder
Wegbleiben spürt man erst einmal nicht, lange nicht, bis es sich zu einer
Realität verdichtet hat.
## Gegenteil von Relativismus
Was also bleibt? Eine für mich wichtige Erfahrung war ein Konzert mit
Werken des Komponisten György Ligeti, ein österreichisch-ungarischer Jude,
der einen offenen, sinnlichen, menschenfreundlichen Avantgardismus
entwickelte, wie ich es an diesem Abend empfand. Es war das Prinzip dieser
Musik, das mich beeindruckte, die verschiedenen rhythmischen Muster, die
gleichzeitig Bestand hatten, diese Fähigkeit, wie es Ligeti wichtig war,
verschiedene Wahrheiten damit auch gleichzeitig wach zu halten, gelten zu
lassen, gemeinsam ins Schwingen zu bringen.
Etwas öffnete sich da, es schien wie ein Schlüssel, wie eine Möglichkeit,
gleichzeitig offen zu sein für das eine Leiden und doch nicht das Leiden
der anderen Seite zu vergessen. Das ist das Gegenteil von Relativismus, es
ist der Versuch, keine Position einzunehmen außer der der Menschen. Es ist
damit auch das Gegenteil von unpolitischem Denken – vielmehr ist es die
Definition des Politischen aus dem Geist der Empathie heraus.
Das fand ich auch in einem Text, den mir ein anderer Freund geschickt
hatte, eine Beschreibung des eindrucksvollen Lebens von André Spire, der
für eine aufgeklärte, engagierte jüdische politische Tradition steht – und
der sich Anfang des 20. Jahrhunderts von der französischen Gesellschaft
abwandte, die ihn mit ihrem Antisemitismus abstieß. Er wandte sich dem
Zionismus zu. Es steckt so viel Wut und Schmerz in den Texten, die Spire in
dieser Zeit schrieb, es war klar, dass er lieber gehen würde, als sich
anzupassen, sich zu assimilieren. Es war ein Akt der Freiheit.
Wer ist dein Nachbar, wer ist dein Freund, wer ist dein Bruder, so fragt
Spire in einem Gedicht. Dein Bruder, so seine Antwort, ist nur der, der die
gleiche Seele hat wie du, der sich deiner ebenbürtig erklärt.
19 Dec 2024
## LINKS
[1] /Einsamkeitsgipfel-in-Berlin/!6054251
[2] /Weihnachten-und-Einsamkeit/!6054290
[3] /Hilfslieferungen-fuer-den-Gazastreifen/!6050052
[4] /Tagung-des-Tikvah-Instituts/!6056232
[5] /Negativity-Bias-im-Journalismus/!6055111
## AUTOREN
Georg Diez
## TAGS
Schlagloch
Gaza-Krieg
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Freundschaft
Social-Auswahl
Das Leben einer Frau
Das Leben einer Frau
Freundschaft
Diktatur
Waffenexporte
Gaza
Schlagloch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Freund*innenschaft: „Wir sind beide echt gerne füreinander da“
Paula und Mai kennen sich ewig von der Schule, aber beste Freundinnen sind
sie erst jetzt geworden. Weil sie anders, „komisch“ sind? Ein Gespräch.
Freund*innenschaft unter Kindern: „Manchmal plappern wir auch viel“
Claire und Lilo (7) kennen sich aus der Kita, seit sie 2 Jahre alt sind –
das ist länger, als sie sich erinnern können.
Das Ende von Freundschaften: Ich dachte, wir wären für immer
Christina und Mathilda waren seit dem 2. Lebensjahr beste Freundinnen. Bis
Mathilda sagt: Das war's. Christina bleibt zurück – mit Trauer und Fragen.
Zensur in Russland: Die verbotenen Bücher
In Russland verschwindet Literatur aus den Läden, kommt in „Sonderlager“
oder wird getarnt verkauft. Der Grad der Absurdität nimmt zu.
Waffenexporte an die Türkei und Israel: Deutsche Waffen in alle Welt
2024 exportierte die Bundesregierung Waffen im dreistelligen
Millionenbereich, sagt ein neuer Bericht. Man missachte die eigenen
Grundsätze.
Sourani über das Recht der Palästinenser: „Die deutsche Position ist so hä…
Wie kommen die Palästinenser zu ihrem Recht? Der palästinensische
Menschenrechtsanwalt Raji Sourani hat an Klagen vor dem Internationalen
Gerichtshof und Internationalen Strafgerichtshof mitgewirkt.
US-Präsidentschaftswahlen: Die neue Epoche
Mit Trumps Wahl 2016 endete das Zeitalter der neoliberalen Ordnung. Auch
Politiker hierzulande müssen endlich aufwachen und die neue Zeit gestalten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.