# taz.de -- Sourani über das Recht der Palästinenser: „Die deutsche Positio… | |
> Wie kommen die Palästinenser zu ihrem Recht? Der palästinensische | |
> Menschenrechtsanwalt Raji Sourani hat an Klagen vor dem Internationalen | |
> Gerichtshof und Internationalen Strafgerichtshof mitgewirkt. | |
Bild: Raji Sourani, Menschenrechtsanwalt aus Gaza, hier in Guernica, Spanien (A… | |
taz: Herr Sourani, der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat | |
Haftbefehle gegen Benjamin Netanjahu, Joav Galant und Mohammed Deif wegen | |
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen erlassen – aber | |
nicht wegen des Genozidvorwurfs. Was halten Sie von dieser Entscheidung? | |
Raji Sourani: Die Entscheidung, Netanjahu und Joav Galant zu verhaften, ist | |
sehr wichtig. Das ist eine Errungenschaft. Aber ich bin total unglücklich | |
und traurig darüber, wie lange es gedauert hat und wie selektiv und | |
politisiert mit dem Völkerrecht umgegangen wird. Wir haben versucht, alle | |
legitimen rechtlichen Mittel einzusetzen, aber der Genozid in Gaza geht | |
trotzdem weiter. Das macht mein Herz sehr schwer. Gaza ist ein Friedhof des | |
internationalen Rechts. | |
taz: Sie reden von Völkermord. | |
Sourani: [1][Der Völkermord im Gazastreifen wird live in den sozialen | |
Medien übertragen,] und der IGH hatte bereits vorläufige Maßnahmen | |
angeordnet, um die Gräueltaten zu beenden. Das ist wahrscheinlich der am | |
besten dokumentierte Konflikt der Geschichte. Aber die internationale | |
Gemeinschaft hat nichts getan. Der Holocaust und viele andere Gräueltaten | |
sind geschehen, und die Welt hat daraus geschlussfolgert: | |
Zivilist*innen dürfen nicht Opfer eines Kriegs sein. Deshalb gibt es | |
die Genfer Konventionen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. | |
Aus diesem Grund gibt es die Völkermordkonvention. Und deshalb berufen wir | |
uns als Palästinenser auf das humanitäre Völkerrecht. | |
taz: Wie beurteilen Sie die Reaktionen aus Deutschland auf die | |
Haftbefehle? | |
Sourani: [2][Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend, dass | |
Borrell], der Leiter der EU-Außenpolitik, sagt, dass alle EU-Mitglieder die | |
Entscheidung des Gerichtshofs vollständig umsetzen müssen. Das ist kein | |
politisches Argument, das ist eine Gerichtsentscheidung. Wie kann | |
Deutschland Verbrecher schützen, die vom wichtigsten Gericht der Welt, dem | |
Internationalen Strafgerichtshof, gesucht werden? Deutschland steht auf der | |
falschen Seite der Geschichte. Es ist nicht nur ein Komplize, sondern ein | |
Partner bei den Verbrechen. Deutschland ficht sie an, obwohl diese | |
Verbrechen online live und in Echtzeit in die ganze Welt übertragen werden. | |
Warum unterstützt Deutschland Israel immer noch mit Waffen und warum sagt | |
die deutsche Außenministerin, sie unterstütze die israelische Bombardierung | |
von Schutzräumen in Gaza? | |
taz: Es hat auch ein Jahr gedauert, bis der Strafgerichtshof einen | |
Haftbefehl gegen Putin erlassen hat. Dauert es nicht normalerweise eine | |
Weile, bis die Gerichte tätig werden? | |
Sourani: Als Russland in die Ukraine einmarschiert ist, haben die Europäer | |
den ukrainischen Widerstand schnell unterstützt, politisch und mit Waffen. | |
Wir haben gehofft, das würde den Westen aufrütteln, damit er sich der | |
Besatzung in Palästina bewusst wird. Wir mussten die Landkonfiszierung im | |
Westjordanland ertragen, die 17 Jahre andauernde Blockade hat den | |
Gazastreifen in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht erstickt. Der 7. | |
Oktober war nicht der Beginn des israelisch-palästinensischen Konflikts. | |
Der Westen hat die darauf folgenden Angriffe völlig zu Unrecht legitimiert. | |
taz: Haben Sie versucht, das israelische Rechtssystem in Anspruch zu | |
nehmen? | |
Sourani: Ja, aber wir und die israelische Menschenrechtsorganisation | |
B’Tselem sind zu dem Schluss gekommen, dass sie nichts unternimmt, um die | |
organisierten, systematischen Kriegsverbrechen der Besatzung und ihrer | |
Armee zu stoppen, sondern sie vielmehr unterstützt und rechtlich vertuscht. | |
Deshalb haben wir uns an die universelle Gerichtsbarkeit in Ländern wie | |
Spanien, Großbritannien, Südafrika und der Schweiz gewandt. Aber wir wurden | |
politisch blockiert. Sie sagten, dass Israels Machthaber „diplomatische | |
Immunität“ genießen. Bereits nach dem Gazakrieg 2009 sagte die | |
UN-Erkundungsmission: Wenn Israel die mutmaßlichen Verbrecher nicht | |
innerhalb von sechs Monaten zur Rechenschaft ziehe, solle der | |
Internationale Strafgerichtshof eingeschaltet werden. Aber wir haben keine | |
Rechenschaftspflicht gesehen. Und wir haben bemerkt, dass diese Maschine, | |
der IStGH, sich nicht bewegt hat. | |
taz: Jetzt hat er sich bewegt. Staatsanwalt Karim Khan hat die Anträge im | |
Mai gestellt. | |
Sourani: Wir haben uns schon lange vorher an den Strafgerichtshof gewandt. | |
Ich habe nach 2015, als die Palästinensische Autonomiebehörde das Römische | |
Statut des Gerichtshofs ratifiziert hatte, Fälle zur israelischen Blockade | |
des Gazastreifens nach Den Haag geschickt. Der Anklägerin Fatou Bensouda | |
hat 2021 ein Verfahren eröffnet. Die Ermittlungen gerieten ins Stocken, als | |
Khan das Amt übernahm: Zwei Jahre lang unternahm er nichts. Wir haben immer | |
wieder an seine Tür geklopft. Sechs Treffen wurden angesetzt und in letzter | |
Minute abgesagt. Israel muss den Eindruck gehabt haben, dass es über dem | |
Gesetz steht. Deshalb haben wir uns am 29. Dezember als Teil des | |
südafrikanischen Anwaltsteams an den Internationalen Gerichtshof gewandt | |
und die Klage wegen Völkermordes eingereicht. | |
taz: Wie war Ihre Erfahrung am Internationalen Gerichtshof? | |
Sourani: Das Gericht hat fantastisch gehandelt. [3][Es hat den Fall | |
angenommen und den Vorwurf, Israel begehe einen Genozid], damit als | |
plausibel erachtet. Die Richter haben dreimal vorläufige Maßnahmen | |
erlassen: im Januar, im Februar und im April. Sie wurden überhaupt nicht | |
umgesetzt. Dann begann Khan endlich zu handeln und versuchte, die | |
Glaubwürdigkeit des Strafgerichts zu retten. | |
taz: Hatte er Erfolg? | |
Sourani: Wir werden sehen. Die Haftbefehle kamen sehr spät. Sie sind | |
keineswegs ausreichend. Darüber hinaus waren der IStGH und der IGH | |
Angriffen, Kritik, Drohungen und Anschuldigungen gegen Richter und | |
Staatsanwälte durch die USA und Israel ausgesetzt. | |
taz: Sie meinen, der Westen ist voreingenommen? | |
Sourani: Die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien sagen, Israel | |
habe das Recht auf Selbstverteidigung. Aber die israelische Besatzung an | |
sich wird in den Römischen Statuten als Verbrechen der Aggression | |
definiert. Diese gesamte Position ist also rechtlich und politisch falsch. | |
Aber mit diesem Argument legitimieren sie, dass Israel Tausende von | |
Zivilist*innen angreift und tötet, sie vertreibt und aushungert. Und | |
auf der anderen Seite haben Europa und die USA versucht, uns Palästinenser | |
daran zu hindern, uns an internationale Rechtsinstanzen zu wenden. | |
taz: Sie wurden nach Ägypten vertrieben. Wie arbeitet Ihr Team in Gaza | |
unter diesen schwierigen Bedingungen? | |
Sourani: Ich habe mein Haus verloren. Unsere drei Büros sind zerstört. Wir | |
sind 65 Mitarbeiter*innen, die meisten sind im Gazastreifen und einige im | |
Westjordanland. Sie arbeiten unter sehr harten Bedingungen. Wir haben zwei | |
unserer Anwältinnen verloren, und viele unserer Mitarbeiter*innen | |
haben den Großteil ihrer Familien verloren. Sie alle wurden vertrieben, | |
ihre Häuser und Grundstücke wurden zerstört. Sie leiden unter dem Hunger, | |
wie alle Menschen in Gaza. Sie sind Eltern und müssen nach Brot und Wasser | |
für ihre Kinder suchen. Aber wir haben die Verantwortung, alle | |
Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und den Völkermord | |
im Gazastreifen weiterhin rechtlich zu dokumentieren. | |
taz: Möchten Sie nach Gaza zurückkehren? | |
Sourani: Ja, natürlich. Mir wurde angeboten, in Beirut, New York, London | |
und Genf zu arbeiten. Aber ich habe mich entschieden, mein Leben lang in | |
Gaza zu leben. Es ist definitiv mein Wunsch und Traum, so bald wie möglich | |
zurückzukehren. | |
taz: Verteidigt das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte (PCHR) auch | |
Fälle von palästinensischen Opfern gegen palästinensische Gruppen? | |
Sourani: In den letzten 30 Jahren haben wir Hunderte von Fällen bearbeitet | |
und die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah oder die Hamas in | |
Gaza kritisiert. | |
taz: Wie kann man angesichts der Massenflucht und der Stromausfälle | |
praktisch dokumentieren? | |
Sourani: Unsere Arbeit war nie einfach. Wir haben schon früher Angriffe und | |
Kriegsverbrechen während der Kriege dokumentiert. Aber dieser genozidale | |
Krieg hat eine ganz andere Dimension. Ich bin 70 Jahre alt. Ich habe mehr | |
als 40 Jahre meines Lebens dieser Arbeit gewidmet, aber das Ausmaß der | |
ethnischen Säuberung im Westjordanland und in Ostjerusalem durch das | |
Apartheidsystem und das massive Töten, die Zerstörung, die Vertreibung und | |
den Hunger in Gaza hätte ich mir nie vorstellen können. Dieser Schmerz und | |
dieses Leid sollten in Akten dokumentiert und vor den zuständigen | |
Rechtsorganen vertreten werden. Das ist unsere schwierige Aufgabe im Namen | |
der Opfer. | |
taz: Was bringt Sie dazu, weiterzumachen? | |
Sourani: Wir sind romantische Revolutionäre. Wir glauben an die | |
Rechtsstaatlichkeit, an diese zivilisierten Normen und Werte. Wir sind | |
Expert*innen für internationales Recht und werden von den besten | |
Anwält*innen der Welt unterstützt. | |
taz: Mit Unterstützung des European Center for Constitutional and Human | |
Rights in Berlin klagen Sie gegen deutsche Waffenexporte nach Israel. Sind | |
Sie zuversichtlich, in Deutschland recht zu bekommen? | |
Sourani: Wir arbeiten nicht nur mit hervorragenden europäischen und | |
amerikanischen Menschenrechtsorganisationen zusammen, sondern auch mit | |
israelischen Kollegen. Das Recht sollte universell angewendet werden. Die | |
selektive Anwendung des Rechts durch den Westen ist eine Gefahr für die | |
Glaubwürdigkeit des globalen Rechtssystems. | |
26 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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