# taz.de -- Gaza nach dem Krieg: Szenarien mit einem großen Haken | |
> Während Israel Rafah unter Beschuss nimmt, erstarkt die Hamas im Norden | |
> wieder. Für langfristigen Frieden in der Region braucht Gaza eine | |
> Exitstrategie. | |
Bild: Völlige Zerstörung: Für Gaza braucht es dringend eine Exit-Strategie | |
Wo und vor allem wie geht es zum Ausgang? Das ist derzeit die virulenteste | |
Frage, die sich rund um die israelische Offensive in Gaza stellt – nach | |
sieben Monaten Krieg, nachdem über 5 Prozent der palästinensischen | |
Bevölkerung im Gazastreifen tot oder verletzt sind, über 60 Prozent aller | |
dortigen Wohngebäude zerstört wurden, mindestens 286 israelische Soldaten | |
im Gazastreifen gefallen und 125 israelischen Geiseln lebend oder tot in | |
der Gewalt der Hamas sind und seit Freitag auch noch [1][nach einem | |
Beschluss des Internationalen Gerichtshofs], der einen sofortigen Stopp der | |
israelischen Militäroffensive in Rafah fordert. | |
Wie es in Gaza auch nach dem Krieg weitergehen soll, das ist auch eine | |
Frage, die die israelische Regierung selbst spaltet. Der Oppositionsführer | |
und Mitglied des Kriegskabinetts Benny Gantz hat dem israelischen Premier | |
Benjamin Netanjahu ein Ultimatum für eine Exitstrategie gestellt. Beim | |
letzten Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Bahrain riefen die arabischen | |
Staaten im Abschlussdokument dazu auf, eine internationale Friedenstruppe | |
einzusetzen, bis eine Zweistaatenlösung umgesetzt ist. | |
## Israel hat die Hamas nicht besiegt | |
Eines wird immer deutlicher: Die ursprünglichen israelischen Kriegsziele, | |
von der militärischen Befreiung der Geiseln bis hin zur Zerstörung der | |
Hamas, haben sich als unrealistisch erwiesen. Laut einem Bericht von | |
Politico, der sich auf Aussagen aus US-Geheimdienstkreisen stützt, sollen | |
bisher gerade einmal ein Drittel der Hamas-Kämpfer, die seit dem 7. Oktober | |
aktiv sind, getötet worden sein, während 65 Prozent der von der Hamas | |
verwendeten Tunnel noch intakt seien und die Hamas seit Kriegsbeginn | |
Tausende neue Kämpfer rekrutiert habe. | |
Die Militäroffensive gegen Rafah hatte Netanjahu auch mit dem Ziel | |
gerechtfertigt, dort die vermeintlich letzten vier Hamas-Bataillone | |
auszulöschen. Es sollte so etwas wie seine letzte Karte sein, die er mit | |
der Offensive in Gaza ausspielt. Aber statt in Rafah die Hamas endgültig zu | |
zerstören, ist die israelische Armee nun wieder in Kämpfe mit ihr im Norden | |
des Gazastreifens verstrickt, den bisher heftigsten seit Beginn des Kriegs. | |
Und das in einem Gebiet, das die israelische Armee vor Monaten als „unter | |
Kontrolle“ erklärt hatte. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Kämpfe | |
wieder im zentralen Gazastreifen in Khan Yunis ausbrechen werden. | |
Es ist ein Problem, das vielen Streitkräften bereits widerfahren ist: Sie | |
werden von der Politik in einen Krieg geschickt, melden große | |
Anfangserfolge und dann hat die Politik für sie keine Exit-Strategie. Das | |
US-Militär musste diese Lektion im Irak und zuletzt schmerzhaft in | |
Afghanistan lernen. Israel hat diese Misere schon einmal beim Krieg gegen | |
die Hisbollah im Libanon 2006 erlebt. Die allmächtige israelische Armee | |
konnte die schiitische Hisbollah dort nicht besiegen, seitdem sitzt | |
letztere in Beirut mit an der Macht. Und jetzt steht die israelische Armee | |
wieder vor diesem Punkt. | |
## Israel will Besatzungsmacht bleiben | |
Dabei kursieren die wildesten Nachkriegspläne. Mal ist die Rede davon, dass | |
eine private Söldnertruppe den Grenzübergang von Rafah übernehmen könnte. | |
Dann kursiert in den israelischen Medien ein Szenario, in dem nicht die | |
Palästinensische Selbstverwaltungsbehörde im Westjordanland (PA) die Macht | |
im Gazastreifen übernehmen soll, sondern eine undefinierte Gruppe von | |
Palästinensern, die nicht mit der Hamas in Verbindung stehen sollte. Die PA | |
sollte dabei bestenfalls eine inoffizielle Rolle spielen, was diese bereits | |
abgelehnt hat. Dann ist wieder die Rede von einer internationalen oder | |
arabischen Friedenstruppe, die das Machtvakuum in Gaza jenseits der Hamas | |
füllen soll. | |
All diese Szenarien haben einen großen Haken: Bisher wollen weder Netanjahu | |
noch Gantz, noch Verteidigungsminister Joaw Galant in einer Nachkriegszeit | |
die israelische Sicherheitskontrolle über den Gazastreifen aufgeben. Dieser | |
soll weiterhin vom Rest der Welt abgesperrt bleiben. Israel will weiterhin | |
nicht nur alles kontrollieren, was dort raus- und reinkommt, sondern | |
auch den Luftraum über und die See vor dem Gazastreifen. Kurzum: den Status | |
quo behalten, der schon vor dem Krieg nicht für Israels Sicherheit gesorgt | |
hatte, wie der blutige 7. Oktober allen Israelis schmerzlich vor Augen | |
geführt hat. | |
Zusätzlich gibt es nun den bereits fertiggestellten israelischen | |
Netzarim-Sicherheitskorridor im zentralen Teil des Gazastreifens. Das ist | |
eine Schneise, die den Gazastreifen in einen nördlichen und südlichen Teil | |
trennt und die der israelischen Armee schnellen Zugang garantiert. [2][Die | |
israelische Armee möchte sich] das Recht vorbehalten, von dort aus weiter | |
militärische Razzien durchzuführen, oder gar in Gaza zu bombardieren. In | |
anderen Worten: die israelische Besatzung des Gazastreifens soll | |
beibehalten werden. | |
Unter diesen Bedingungen wird sich aber niemand, weder irgendwelche nicht | |
mit der Hamas verbundenen Palästinenser, noch die Palästinensische | |
Selbstverwaltungsbehörde, noch irgendeine arabische oder internationale | |
Friedenstruppe dazu hergeben, den israelischen Polizisten in Gaza zu | |
spielen. Denn was als Nächstes geschehen würde, ist vollkommen | |
vorhersehbar: Wer immer diese Rolle übernimmt, würde von den Palästinensern | |
im Gazastreifen, ob Hamas-Anhänger oder Gegner, als Kollaborateur der | |
israelischen Besatzung angesehen. | |
## Die USA werkeln im Hintergrund | |
US-Außenminister Antony Blinken sagte vor kurzem in einem Interview mit | |
CBS, dass die USA seit vielen Wochen daran arbeiteten, einen glaubwürdigen | |
Plan für die Nachkriegszeit in Gaza auszuarbeiten, bis ein | |
Sicherheitsapparat jenseits der Hamas aufgebaut ist. | |
Die Financial Times berichtet, [3][dass die USA] mit einigen arabischen | |
Staaten über eine mögliche arabische Friedenstruppe in Gaza im Gespräch | |
sind, die nach einem Ende des Krieges dort das Sicherheitsvakuum füllen | |
soll. Die Zeitung bezieht sich dabei auf Gespräche mit nicht namentlich | |
genannten westlichen und arabischen Offiziellen. Ägypten, die Vereinigten | |
Arabischen Emirate und Marokko, heißt es dort, dächten über eine Teilnahme | |
an einer arabischen Friedenstruppe nach. Saudi-Arabien soll gleich | |
abgelehnt haben. | |
Dabei kann es sich aber nicht um viel mehr als Sondierungsgespräche | |
gehandelt haben, denn es gibt bisher von keinem der arabischen Länder eine | |
offizielle Bestätigung oder eine öffentliche Diskussion darüber. Das Ganze | |
scheint nicht über unverbindliche Gedankenspiele hinauszugehen und ist | |
bestenfalls ein Testballon. Und selbst da haben die arabischen anonymen | |
Gesprächspartner wohl die Bedingung gestellt, dass eine Teilnahme an einer | |
Friedenstruppe nur denkbar wäre, wenn sie mit irreversiblen Maßnahmen für | |
eine Zweistaatenlösung einherginge. Und hier beißt sich die Katze wieder in | |
den Schwanz, da ein möglicher palästinensischer Staat im Gazastreifen und | |
Teilen der Westbank nicht nur von Netanjahu, sondern auch von einer | |
Mehrheit der israelischen Bevölkerung kategorisch abgelehnt wird. | |
## Frieden gibt es nur mit palästinensischer Staatlichkeit | |
So bleiben am Ende alle Nachkriegsideen nichts weiter als Rohrkrepierer. | |
Fakt ist: Der Gazastreifen ist zwar zu weiten Teilen zerstört, nicht aber | |
die Hamas. Und langsam macht sich die Erkenntnis breit, dass die | |
israelische Besatzung und die totale israelische Sicherheitskontrolle im | |
Gazastreifen wohl andauern werden und damit auch die Instabilität nicht | |
nur für Israelis und Palästinenser, sondern für die gesamte Region. Denn am | |
Ende wird sich niemand mit klarem Verstand finden, der unter den | |
gegenwärtigen sicherheitstechnischen und militärischen Bedingungen nach dem | |
Krieg den Karren aus dem Dreck ziehen wird. | |
Der einzige echte Ausweg ist, international und unter Beteiligung der | |
Palästinenser und Israels eine überlebensfähige Zweistaatenlösung | |
aufzustellen, den Weg dorthin und den Zeitrahmen zu definieren. Als | |
Garantie müsste das Konstrukt eines palästinensischen Staats | |
[4][international anerkannt] werden. Dann kann auch über ernsthafte und | |
machbare Zwischenlösungen und Sicherheitsarrangements für den Gazastreifen | |
nachgedacht werden, bei denen die Beteiligten nicht den Ruf bekommen, der | |
verlängerte Arm der israelischen Besatzung zu sein. Denn die, das haben wir | |
in den letzten Monaten gelernt, bietet weder den Palästinensern noch den | |
Israelis Sicherheit. | |
27 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] /UN-Gericht-zu-Israels-Militaereinsatz/!6012648 | |
[2] https://www.haaretz.com/israel-news/2024-05-24/ty-article/.premium/231-days… | |
[3] https://www.politico.com/news/2024/05/23/us-postwar-gaza-00159723 | |
[4] /Anerkennung-von-Palaestina-als-Staat/!6010019 | |
## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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