# taz.de -- Alltag in Gaza: Zwischen Hoffnung und Flucht | |
> Anfang Mai besetzte Israel den Grenzübergang zwischen Gaza und Ägypten | |
> und begann seine Invasion in Rafah. Seitdem lebt unser Autor in | |
> Todesangst. | |
Bild: Kein Entkommen aus Rafah | |
Esam Hani Hajjaj (27) kommt aus Gaza-Stadt und ist Schriftsteller und | |
Dozent für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch ist er in | |
den südlichen Gazastreifen nach al-Fuchari geflohen. | |
Fünf Tage hätte es noch gebraucht, bis mein Vater und ich über den | |
Grenzübergang Rafah hätten ausreisen können, nur fünf Tage. Wir hatten die | |
sogenannten [1][Koordinationsgebühren] aufgetrieben, wir standen auf der | |
Liste, [2][um Gaza über den Grenzübergang Rafah nach Ägypten verlassen zu | |
können]. Fünf Tage hatten noch gefehlt. | |
Aber die Besatzung jagt uns, wohin wir auch gehen, und hat den | |
Grenzübergang Rafah übernommen. Seitdem kann niemand mehr raus. Alle | |
wachten mit der Nachricht vom Einmarsch in Rafah auf und dachten, dass es | |
vor der eigentlichen Invasion des Militärs noch Vorbereitungen geben würde. | |
Aber dann siegte doch die Angst, und die Familien begannen, ihre | |
Habseligkeiten zu packen, um zum zweiten oder dritten Mal an unbekannte | |
Orte zu fliehen. | |
Meine Familie und ich fühlen uns verloren, weil wir nicht wissen, wohin wir | |
gehen sollen. Wir sind 300 Meter vom Gouvernement Rafah entfernt und | |
dachten, wir wären hier sicher, nachdem unser Haus wenige Wochen nach | |
Kriegsbeginn über unseren Köpfen bombardiert wurde. | |
Ich erinnere mich gut an diesen Tag; Staub kam aus meinem Mund, und ich | |
dachte, mein Leben wäre vorbei. Es war einer der schlimmsten Tage meines | |
Lebens. Meine Schwester und ich standen nebeneinander inmitten der Trümmer | |
und warteten darauf, dass ein Weg aus den Trümmern sichtbar würde. | |
## Das Szenario des Todes verfolgt uns | |
Minutenlang konnten wir nichts sehen, dann legte sich der Staub, und mein | |
Bruder rief aus dem unteren Stockwerk, dass der Weg frei sei. Wir fanden | |
alle Familienmitglieder bis [3][auf meinen Vater]. Also begannen wir in den | |
Trümmern nach ihm zu suchen. Nach langem Suchen fanden wir ihn. | |
Aber der Krankenwagen weigerte sich darauf zu warten, bis wir ihn aus den | |
Trümmern gezogen hatten. Denn normalerweise trifft die Besatzung ein Haus | |
zweimal. Auf den ersten Schlag folgt ein paar Minuten später ein weiterer | |
Schlag. Also war unser Haus zu diesem Zeitpunkt extrem gefährdet. Nach | |
einem heftigen Streit erklärten sich die Rettungssanitäter bereit, in | |
einiger Entfernung zu warten und uns dann ins Krankenhaus zu bringen. | |
Zunächst fuhren wir ins Shifa-Krankenhaus im Norden des Gazastreifens. Doch | |
am nächsten Tag wurde mein Vater zur Behandlung in das Europakrankenhaus in | |
der Nähe von Chan Yunis verlegt. Das Shifa-Krankenhaus war völlig überfüllt | |
und konnte die Operationssäle nicht öffnen. Eilig packte ich meine Sachen | |
und folgte ihm. | |
Im Europakrankenhaus war es sehr ruhig, wir hörten kaum eine Explosion oder | |
einen Bombenangriff. Heute sind die Panzer 300 Meter entfernt. Ich dachte, | |
wir wären hier in Sicherheit, aber das Szenario des Todes verfolgt uns. | |
## Jeder Ausgang ist versperrt | |
Ich frage mich, welche Sünde ich begangen habe, dass der Tod uns so grausam | |
verfolgt. Auch meine Freunde in Rafah wissen nicht, wohin sie gehen sollen; | |
viele von ihnen leben obdachlos auf der Straße. Ihre Träume sind zerbrochen | |
wie Knochen durch Raketeneinschläge. | |
Genau wie der Traum meines Vaters: Zu fliehen und seine Behandlung | |
abschließen zu können. „Fünf Tage hätte es gedauert, bis ich auf dem | |
rechten Auge wieder hätte sehen können“, hörte ich ihn vorhin hinter dem | |
Vorhang im Krankenhauszimmer sagen. Die Besatzung hat ihm das Augenlicht | |
geraubt, und jetzt raubt sie ihm das Recht auf Behandlung. | |
Seitdem die Besatzung den Grenzübergang Rafah besetzt hält, ist für meine | |
Familie, meine Freunde und 2,5 Millionen Bürger in Gaza wirklich jeder | |
Ausgang versperrt. Das Gesundheitswesen wird noch mehr zusammenbrechen als | |
zuvor, Lebensmittel werden sehr knapp, wir warten hier ängstlich auf den | |
Tod und hoffen, dass er uns nicht ereilt: Bleiben wir, wo wir sind, oder | |
fliehen wir wieder? Klar ist nur, dass wir seit sieben Monaten einen | |
Völkermord erleben und nun im Süden eine Hungersnot droht. | |
28 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Esam Hajjaj | |
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