# taz.de -- Alltag in Gaza: „Als fehle ein Teil meines Herzens“ | |
> Mohammed Mousa ist ohne seine Familie im Gaza-Streifen zurückgeblieben. | |
> Er hofft auf eine bessere Zukunft. | |
Bild: Mohammed Mousa mit seinen Kindern, auf seinem Arm Omer | |
Mohammed Mousa, 40, ist Arzt und hat bis Kriegsbeginn in Gaza-Stadt gelebt. | |
Mit seiner Frau und seinen vier Kindern ist er kurz danach nach Rafah | |
geflohen. | |
Die Hand meiner Tochter klebte von innen an der Fensterscheibe des Busses, | |
mit dem meine Familie vor einer Woche Gaza über den Grenzübergang nach | |
Ägypten verließ. Und jetzt, während meine Familie in Kairo ist und ich in | |
Rafah zurückgeblieben bin, kann ich nicht aufhören zu weinen. 17.000 Dollar | |
haben wir dafür bezahlt, dass meine Frau und unsere vier Kinder in | |
Sicherheit sein können. Für mich fehlte das Geld. Als ich meine Familie zur | |
Grenze brachte, flehte ich den Grenzbeamten an, sie begleiten zu dürfen. | |
Aber er lehnte ab. Ich solle mich „koordinieren“, um die Grenze überqueren | |
zu können. | |
Koordinieren, das heißt, viel Geld hinzublättern. Bezahlt man 5.000 Dollar, | |
dauert es zwischen dreißig und vierzig Tagen, bis man auf der Liste | |
erscheint, um rausgelassen zu werden. Zahlt man zwischen 10.000 und 12.000 | |
Dollar, dann dauert es nur etwa eine Woche. Also bin ich zurückgekehrt in | |
das Zelt, in dem wir seit Monaten Unterschlupf gefunden haben. | |
Seitdem bin ich zwiegespalten: Ich bin dankbar, dass meine Familie in | |
Sicherheit ist. Ich weiß, dass sie alle etwas zu essen und zu trinken | |
haben, aber es fühlt sich an, als fehle ein Teil meines Herzens. Und ich | |
habe furchtbare Angst vor einer [1][israelischen Offensive in Rafah] – und | |
dass ich dann nicht mehr zu ihnen kann. | |
Meine größte Sorge gilt unserem fünfjährigen Sohn Omer, bei dem ein | |
Hämangiom am linken Schläfenbein diagnostiziert wurde, ein Tumor. Das ist | |
sehr selten. | |
In Gaza kann es nicht behandelt werden, weil dafür die technische | |
Ausstattung fehlt, und so wurde er vor dem Krieg mehrfach wegen seines | |
kritischen Zustands im hochqualifizierten Jerusalemer Krankenhaus Shaare | |
Zedek behandelt. Im November hatte er einen Termin für einen dringenden | |
Eingriff – doch der wurde wegen des Krieges abgesagt. Jetzt hat sich in dem | |
betroffenen Bereich Eiter angesammelt, und er ist schwer infiziert. | |
Omer hört dadurch auch nicht mehr gut. Er hat Angst vor den Bomben, so wie | |
alle meine Kinder. Am Anfang habe ich versucht, ihnen weiszumachen, dass es | |
ein Spaß sei. Aber mein ältester Sohn ist 14 Jahre alt, er weiß, wie sich | |
der Krieg anhört, und so wussten sie schnell, dass es kein Spiel war. Ich | |
habe ihnen oft das Handy gegeben, damit sie Spiele spielen können und | |
abgelenkt sind. Die Angst war allgegenwärtig und sie hatten Albträume. Vor | |
zwei Wochen landete ein Schrapnell direkt auf unserem Zelt, aber Gott hat | |
uns beschützt, wir wurden nicht verletzt. | |
Omer braucht nun dringend eine Behandlung in einem sehr gut ausgerüsteten | |
Krankenhaus. Ich bin selbst Arzt – aber kann meinem eigenen Sohn nicht | |
helfen. 2022 habe ich ein Erasmus-Mundus-Stipendium erhalten und hatte | |
angefangen, im spanischen Oviedo Gesundheitswissenschaften zu studieren. | |
Doch wegen Omers schlechter gesundheitlicher Situation bin ich noch im | |
ersten Semester nach Gaza zurückgekehrt. Einige befreundete | |
Kommiliton*innen, die ich in der Zeit kennengelernt habe, versuchen nun, | |
uns zu helfen. Sie haben eine Crowdfunding-Kampagne [2][auf gofundme | |
gestartet], um Omer und den Rest meiner Familie in Sicherheit zu bringen. | |
Jetzt fehlt noch das Geld für mich, damit ich zu meiner Familie nach Kairo | |
kann. | |
Unser Haus in Gaza-Stadt ist zerstört. Ich hatte einen Bekannten von mir | |
gebeten, nachzusehen. Er schickte mir ein Foto. Das Haus ist wortwörtlich | |
in Schutt und Asche gelegt. Meine Frau wurde ohnmächtig, als ich es ihr | |
erzählte. | |
Es ist mein großer Traum, mir und meiner Familie ein sicheres und | |
friedvolles Leben in Gaza aufzubauen. Aber ich glaube, das wird es in Gaza | |
für viele Jahre nicht geben. Und während ich noch einmal Bilder meiner | |
Familie ansehe, das Foto mit den Händen meiner Tochter am Fenster des | |
Busses, weine ich weiter und bete, dass Gott uns beschützt. Dass es bald | |
[3][zu einem Waffenstillstand] kommt und Omer die Behandlung bekommt, die | |
er braucht. | |
Protokoll: Judith Poppe | |
17 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Stockende-Verhandlungen-im-Gaza-Krieg/!6000601 | |
[2] https://www.gofundme.com/f/help-sick-Omer-and-his-family-in-Gaza?utm_campai… | |
[3] /Appell-fuer-Waffenstillstand-in-Gaza/!5986550 | |
## AUTOREN | |
Mohammed Mousa | |
## TAGS | |
Kolumne Gaza-Tagebuch | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Hamas | |
Kolumne Gaza-Tagebuch | |
Kolumne Gaza-Tagebuch | |
Kolumne Gaza-Tagebuch | |
Kolumne Gaza-Tagebuch | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Alltag in Gaza: Zwischen Hoffnung und Flucht | |
Anfang Mai besetzte Israel den Grenzübergang zwischen Gaza und Ägypten und | |
begann seine Invasion in Rafah. Seitdem lebt unser Autor in Todesangst. | |
Vertriebene in Gaza: Staub meiden im Krieg | |
Der Vater unseres Autors liegt im Gazastreifen im Krankenhaus. Dort, im | |
Treppenhaus, macht er eine seltsame Beobachtung – und geht ihr nach. | |
Alltag in Gaza: Der Klang von Musik und Raketen | |
Unser Autor schreibt Gedichte und liebt Musik. Doch der Krieg hat die | |
Klänge im Gazastreifen verändert. | |
Alltag in Gaza: Einen Luftballon steigen lassen | |
Najala Abu Nahla erzählt vom Leben in Rafah im Süden des Gazastreifens. | |
Dort hilft sie Kindern, trotz des Krieges Freude zu empfinden. | |
Krieg im Nahen Osten: Gefährliche Doppelmoral | |
Im Gazastreifen gilt das Völkerrecht ganz offensichtlich nicht mehr. Dort | |
sind die Regeln einer werteorientierten Außenpolitik bedeutungslos | |
geworden. | |
Hoffnung auf Feuerpause: Hamas prüft Freilassung von Geiseln | |
Frankreich, Ägypten und Jordanien fordern einen sofortigen | |
Waffenstillstand. Für eine Bodenoffensive in Rafah gibt es offenbar bereits | |
einen Termin. |