| # taz.de -- Vertriebene in Gaza: Staub meiden im Krieg | |
| > Der Vater unseres Autors liegt im Gazastreifen im Krankenhaus. Dort, im | |
| > Treppenhaus, macht er eine seltsame Beobachtung – und geht ihr nach. | |
| Bild: Wartet auf einen Waffenstillstand: Mohammed Abu Ouda | |
| Esam Hani Hajjaj (27) kommt aus Gaza-Stadt und ist Schriftsteller und | |
| Dozent für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch ist er in | |
| den südlichen Gazastreifen nach al-Fuchari geflohen. | |
| Um sieben Uhr morgens liege ich auf dem Rücken, gefangen irgendwo zwischen | |
| Schlaf und Wachsein, nach einer Nacht, in der ich nicht schlafen konnte. | |
| Die Geräusche stören mich: das ständige Geräusch der Flugzeuge, Menschen, | |
| die sich gegenseitig anschreien, weil sie nichts anderes zu tun haben. Sie | |
| schreien einfach, und wenn man sie fragt warum, sagen sie, dass ein | |
| Mückenstich ihre Nerven zum Kochen gebracht hat und sie es nicht ertragen | |
| können, die Stimme eines anderen zu hören. | |
| In der letzten Nacht hat um drei Uhr morgens in den Zelten ein Mann einen | |
| anderen Mann und dessen kleinen Sohn angeschrien, weil ihre Stimmen von | |
| morgens bis abends nicht zur Ruhe gekommen waren und auch sie nicht | |
| schlafen konnten. „Wenn du und dein Sohn nicht ruhig seid“, schrie der | |
| Mann, „dann komme ich hoch und schlage euch.“ Das Kind konnte wegen der | |
| Mückenstiche nicht schlafen. | |
| Ich schlafe in einem Klassenzimmer. Neben mir, in der gleichen Reihe, nur | |
| durch einen Vorhang getrennt, schlafen die Frau meines Onkels und ihre | |
| Tochter. Die Frau meines Onkels ist in der Nacht immer wieder aufgewacht. | |
| „Geht weg, geht weg“, sagte sie und meinte damit die Mücken. Als sie | |
| endlich schlief, wurde sie durch den Lärm der Bomben geweckt und konnte | |
| nicht wieder einschlafen. Auch ich konnte bis zum Morgengrauen nicht | |
| schlafen. | |
| Jedes Mal, wenn ich mich um die medizinische Versorgung meines Vaters | |
| kümmere – er liegt im Europäischen Krankenhaus in der Nähe von Rafah – u… | |
| durch das Treppenhaus gehe, das zum Operationssaal führt, sehe ich | |
| vertriebene Familien, die dort schlafen, weil sie weder in den Zelten noch | |
| innerhalb des Krankenhauses einen anderen Platz gefunden haben. Alle | |
| Krankenhaustreppenhäuser sehen derzeit so aus. | |
| Auf dem Weg durch das Treppenhaus sehe ich oft einen schweigenden Mann mit | |
| seiner Frau und seinen Kindern und frage mich, wie sie den Lärm der | |
| Schritte Tag und Nacht ertragen können. Wie schlafen sie? Wann schlafen | |
| sie? Ich beschließe, zu ihnen zu gehen, denn das Schweigen des Mannes | |
| verwirrt mich mehr als die gescheiterten Verhandlungen der letzten sechs | |
| Monate um einen Waffenstillstand. | |
| Als ich bei ihnen ankomme, finde ich nur die Frau vor. Ich entschuldige | |
| mich für mein Eindringen, und erkläre, dass ich Schriftsteller sei und mit | |
| ihrem Mann sprechen wolle. Er sei erst vor fünf Minuten hier gewesen, | |
| erklärt sie. Ich sage ihr, ich würde noch einmal wiederkommen, wollte aber | |
| auch mit ihr sprechen. Ich frage sie nach ihrem Leben und ihrem Schlaf hier | |
| im Treppenhaus. Warum gerade im Treppenhaus? | |
| Sie sagte, sie hätten keinen anderen Ort als das Treppenhaus gefunden; das | |
| Krankenhaus sei voller Vertriebener. Wenn sie schlafe, müsse sie ihr | |
| Gesicht bedecken, damit sie die Füße derer nicht sehe, die an ihr | |
| vorbeigehen. „Wir hatten ein Haus mit zwei Zimmern und einem Bad aus | |
| Asbest“, erzählt sie. „Früher empfand ich das als klein und unzureichend, | |
| aber jetzt möchte ich dorthin zurückkehren. Aber ich kann nicht in die | |
| Grenzstadt Abasan zurückkehren, weil die Besatzung dort alles zerstört | |
| hat.“ Ich ließ Naveen mit ihrer Tochter zurück. | |
| Am Abend komme ich zurück. Der Mann, Mohammed Abu Ouda, ein | |
| palästinensischer Algerier mit einer algerischen Mutter und einem | |
| palästinensischen Vater, ist da. Seine Frau habe ihm schon von mir erzählt, | |
| sagt er. Wir gehen ein wenig spazieren, und er erzählt mir von seiner | |
| Atemwegserkrankung. Wegen der muss er Staub meiden und sich an einem Ort | |
| ohne Feuchtigkeit aufhalten – so wie es dort in dem Treppenhaus ist, wo sie | |
| gerade schlafen. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, an einen anderen Ort zu | |
| ziehen, würde er es tun?, frage ich. | |
| Das ginge nicht, sagt er, weil er unter Erstickungsanfällen leide und das | |
| Treppenhaus in der Nähe der Notaufnahme des Krankenhauses liege; es dauere | |
| nur eine Minute, um dorthin zu gelangen und sich behandeln zu lassen. Würde | |
| er woanders hingehen, wäre das nicht mehr möglich. Mohammed hat allerdings | |
| versucht, mit seiner Familie nach Algerien zu fliehen – er hat ja einen | |
| algerischen Pass – aber das ist ihm bislang nicht gelungen. | |
| Er hat Angst, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen und einen Anfall zu | |
| erleiden, bei dem ihm dann niemand helfen kann, weil es an Krankenhäusern | |
| und Medikamenten mangelt. Manchmal geht er durch die Gänge des | |
| Krankenhauses, in der Hoffnung, Nachrichten über einen Waffenstillstand | |
| aufzuschnappen. Sobald das der Fall ist, sagt er, werde er zu seinem Haus | |
| in Chan Junis zurückgehen, selbst auf die Gefahr hin, dabei zu ersticken. | |
| Übersetzung aus dem Englischen: Judith Poppe | |
| In der Reihe „Gaza-Tagebuch“ berichten unsere Autor*innen von ihrem | |
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| 1 May 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Esam Hajjaj | |
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