# taz.de -- Kontroversen beim Nahost-Konflikt: Solidarität. Ja, aber … | |
> Warum ist Mitgefühl im Nahost-Konflikt so ungleich verteilt? Bei den | |
> Debatten spielen vor allem Emotionen eine Rolle, trotz der realen Fakten. | |
Bild: Was ist mit „From the river to the sea, we demand equality“? | |
Die einigen Hundert Menschen, die jüngst in der langen Nacht der Museen in | |
Münster in einer Schlange standen, wurden beim Warten abgelenkt: | |
[1][Propalästinensische AktivistInnen hielten ihnen Schilder entgegen], | |
darauf eine halbe Melone in den Farben Schwarz, Weiß und Grün, den | |
palästinensischen Nationalfarben. Die Aktivisten skandierten „Stop the War“ | |
und „Ceasefire“ – so weit, so gut. Doch dann ertönte „From the River t… | |
Sea, Palestine will be free“. Da war es wieder, dieses unangenehme Gefühl, | |
das diesen uralten palästinensischen Demospruch seit dem Massaker der Hamas | |
am 7. Oktober anders klingen lässt. Der Hamas schwebt eine Art judenfreies | |
Palästina vor, der Spruch ist in Deutschland mittlerweile verboten. | |
Eigentlich gehöre ich zu den „Ja, Aber“-Linken. Eine mit diesem Begriff | |
verunglimpfte Sorte Menschen, die trotz des Terrors durch die Hamas daran | |
erinnern, dass deren furchtbares Massaker eine Vorgeschichte hat. Die | |
Gewalt der Hamas war unverhältnismäßig, ja. Aber: Auch die Gewalt der | |
Israelis in den vorherigen Kriegen in Gaza, ebenso wie im Jetzigen, ist | |
unverhältnismäßig. Dieses „Ja, Aber“ kann ich nicht abstellen. | |
Im Frühjahr 2023 habe ich einen renommierten Postdoc an der Universität in | |
Jerusalem abgesagt, weil mein israelischer Mann mit Antritt der rechten | |
Regierung nicht mehr nach Israel gehen wollte. Die Berichte über brutale | |
Siedler, über die wachsende Zahl an Palästinensern, die in der Westbank | |
durch die Besatzung sterben, mehrten sich. Mein Mann war sich sicher, dass | |
über kurz oder lang eine Intifada ausbrechen würde, angesichts dieser | |
Aussicht wollte er nicht mit mir und unserer Tochter dort für längere Zeit | |
leben. | |
Natürlich hatte er nicht mit dem Massaker am 7. Oktober gerechnet. Und ich | |
habe meinen Postdoc nicht im luftleeren Raum abgesagt. Es gab das | |
eskalative israelische Verhalten, das auch die Eskalation auf der anderen | |
Seite befeuert. Und diesem beidseitigen Blick, diesem Ja-Aber, verdanke | |
ich, dass unsere Familie in Berlin heil weiterlebt. | |
Davon abgesehen, beharren auch diejenigen, die das „Ja, aber“ ablehnen, | |
eigentlich auf einer Vorgeschichte: Ja, der Krieg in Gaza ist brutal, aber | |
die Hamas ist für das Massaker verantwortlich. Kurz, bestimmte Ja-Abers | |
scheinen legitim, andere nicht. | |
## Narrativ der „friedlichen Koexistenz“ | |
Emotionen spielen in den Diskursen eine große Rolle. Auch ich bin | |
empfindlich. Warum gibt es beispielsweise nicht einen Slogan, der Juden und | |
Palästinenser gemeinsam zwischen dem Fluss und dem Meer frei sein lässt? | |
Mittlerweile gibt es Varianten, wie „From the river to the sea, we demand | |
equality“. Wird der wirklich verwendet? | |
Dabei geht es nicht um das Narrativ von der „friedlichen Koexistenz“, das | |
seit Jahrzehnten die ungleichen Rechte der palästinensischen gegenüber | |
jüdischen Israelis verschleiert. Hierzulande gibt es einen ähnlichen | |
medialen Diskurs. Zwar werden die nüchternen Fakten zum Leid und Sterben in | |
Gaza vermeldet, aber das Mitgefühl bleibt ungleich verteilt. Alle großen | |
Medien und PolitikerInnen beeilten sich nach dem Massaker der Hamas am 7. | |
Oktober mit über 1.200 Toten und hunderten Geiseln, ihre Solidarität und | |
ihr Beileid auszudrücken. Die [2][Rede des Wirtschaftsministers Robert | |
Habeck,] mit der er seine Solidarität mit Jüdinnen und Juden in diesem Land | |
bekundete, wurde gefeiert. | |
Aber welcher Politiker in Deutschland hat öffentlich sein Beileid für die | |
Toten in Gaza bekundet? Kaum jemand fordert von den vielen Israel-Freunden | |
hierzulande, sich vom gewaltvollen Vorgehen der israelischen Regierung zu | |
distanzieren. Von allen, die sich mit Palästina solidarisieren, wird jedoch | |
verlangt, sich von der Hamas zu distanzieren. Mittlerweile gibt es 30-mal | |
mehr Tote in Gaza als auf israelischer Seite, die Zerstörung der Städte und | |
Dörfer ist unvergleichbar. Die maßlose Gewalt der Hamas wurde von der | |
maßlosen Gewalt der israelischen Armee in Gaza überlagert. Wer vor diesem | |
Hintergrund die [3][mangelnde Empathie von Palästinensern beklagt,] muss | |
sich selbst mangelndes Mitgefühl vorwerfen lassen. | |
Und doch, in Momenten wie dem „River“-Spruch, spüre ich die Härte, diese | |
Einseitigkeit, wenn nicht gesehen wird, dass einige Deutsche oder Israelis | |
gegen den Krieg in Gaza sind. Plötzlich habe ich Angst, dass selbst die | |
Progressiven im propalästinensischen Camp kein Zusammenleben mehr wollen. | |
Dass sie die Hamas vielleicht doch gut finden. | |
## Empathielosigkeit und Verallgemeinerung | |
Sie alle. Mittlerweile rede ich also auch schon so. Dabei weiß ich doch, | |
dass nicht wenige PalästinenserInnen nach dem Massaker am 7. Oktober | |
geschockt waren, dass sie Beileid bekundeten. Sie sind nicht alle so, | |
genauso wie wir nicht alle so sind. Was als Schmerz im Umgang spürbar wird | |
– die Empathielosigkeit und die Verallgemeinerungen seitens | |
palästinensischer gegenüber nichtpalästinensischen oder jüdischen Menschen | |
– ist oft Ausdruck eines viel größeren Leids. | |
Wohin können sich PalästinenserInnen noch wenden? Deutsche PolitikerInnen | |
nehmen zwar endlich das Wort Waffenstillstand in den Mund. Jedoch | |
umständlich, so wie Bundeskanzler Scholz: Die Palästinenser würden ihren | |
eigenen Hungertod „riskieren“. In Israel plädieren immer noch 80 Prozent | |
der Bevölkerung für eine Weiterführung des Krieges. Dann wieder, fast 70 | |
Prozent der PalästinerInnen unterstützen die Hamas-Aktionen. Unwillkürlich | |
baut sich ein weiteres Gefühl auf: Wir spüren Schmerz und fügen selbst | |
Schmerz zu. | |
Spätestens jetzt steht der Spruch „From the River to the Sea“ nicht mehr | |
allein da. Ich spüre Gleichzeitigkeiten der Gefühle, Verschiebungen, | |
Überlagerungen. Das erlebe ich auch bei Freunden in Israel. So hatte der | |
[4][Künstler Ronen Eidelman einen Brief initiiert], den tausende | |
israelische KünstlerInnen gegen die fehlende Erwähnung der Hamas-Verbrechen | |
in einem [5][vorherigen Brief von internationalen Künstlern im Oktober | |
2023] unterschrieben hatten. Auch [6][deutsche Medien hatten darüber | |
berichtet]. | |
Im Februar 2024, vier Monate später, war Eidelman kurz in Berlin. | |
Mittlerweile hat [7][Judith Butler klar gemacht, dass die Hamas-Taten in | |
ihr Grauen auslösen]. Mittlerweile ist Gaza in großen Teilen zerstört. | |
Eidelman sagt rückblickend: „Ich stehe zu jedem Wort, was ich in dem Brief | |
geschrieben habe. Aber ich weiß auch, heute würde ich diesen Brief nicht | |
mehr schreiben.“ | |
## Höhere Todeszahlen in Gaza, anhaltender Terror | |
Was mir Eidelman einst im Vertrauen sagte, darf ich jetzt veröffentlichen. | |
Auch bei ihm haben sich die Gefühle verschoben oder überlagert. Gefühle | |
sind nichts Statisches. Ja, da ist das Sicherheitsbedürfnis der Israelis | |
nach der Hamas-Attacke, da ist das Bedürfnis, die Täter bestraft zu sehen. | |
Aber, da ist auch die Schuld angesichts der massiven zivilen Verluste durch | |
diesen Krieg, das Wissen, dass auch dieser Krieg kaum mehr als Zerstörung | |
bringt – und nicht die Zerstörung der Hamas. | |
Da sind die viel höheren Todeszahlen in Gaza, der anhaltende Terror. Dann | |
wieder gibt es die traumatischen Erinnerungen an die Pogrome, den | |
Holocaust. Eigentlich müssten wir alle, im Herzen gebrochen, ein Ende der | |
Gewalt fordern. Warum ist das nicht so? | |
Zu den emotionalen Frames, in denen wir über den Krieg in Nahost sprechen, | |
fügt sich der stete Verweis auf die Empathielosigkeit der Palästinenser ein | |
wenig zu gut. Eine Szene in Ramallah wurde im taz-Podcast beschrieben: In | |
einem Restaurant hätten Palästinenser nach der Al-Jazeera-Übertragung über | |
israelische Geiseln einfach weiter gegessen. | |
Dagegen steht das israelische Fernsehen: Dort fragt niemand mehr nach den | |
zivilen Opfern in Gaza. Eine solche Frage hatte schon im letzten Gaza-Krieg | |
eine Fernsehmoderatorin ihren Job gekostet. Der Verweis auf die angeblichen | |
Fehler der israelkritischen Camps wird immer vehementer. So wurde den | |
Preisträgern des Dokumentarfilms „No Other Land“ der diesjährigen Berlina… | |
vorgeworfen, sie hätten die Massaker der Hamas nicht genannt und einseitig | |
ihre Palästinasolidarität bekundet. Eigentlich haben sie einen sofortigen | |
Waffenstillstand in Gaza gefordert. Immer wieder reden wir durch den | |
Verweis nur über die Unsensibilität der Sprechenden und nicht über einen | |
Waffenstillstand. | |
## Krieg mit Gefühlen | |
Deshalb steht mit der Wiederholung solcher Verweise medial eine Art | |
emotionaler Konditionierung im Raum. Die psychologische Analyse der | |
Massenmedien der Philosophen Max Horkheimer und Theodor Adorno hat eine | |
mediale Konditionierung und Regulierung der Affekte bereits ausführlich | |
belegt. Während im israelischen Fernsehen die Geschichten der Opfer vom | |
Hamas-Massaker, die Geschichten der Geiseln in Gaza, nahezu in | |
Dauerschleife, erzählt werden, kann der Krieg in Gaza weitergehen. In | |
Deutschland wird die deutsche Schuld im Holocaust durch Israels Sicherheit | |
als deutsche Staatsräson übersetzt, Waffenlieferungen erscheinen | |
alternativlos. Das ist kein Spiel mit Emotionen, das ist ein Krieg mit | |
Gefühlen. | |
Deswegen habe ich nicht nur ein Unbehagen bei den „River“-Sprüchen, sondern | |
auch bei den Verweisen darauf. Ja, unter Palästinensern gibt es | |
Antisemitismus, ja, in den palästinensischen Territorien leben nicht nur | |
gute Menschen. Viele sagen, dass ihnen der Krieg in Gaza klein und | |
gerechtfertigt erscheint, wenn sie vom Massaker der Hamas hören. Wenn | |
dieselben Menschen vom Krieg in Gaza hören, erscheint ihnen dagegen das | |
Hamas-Massaker klein. Wir sind alle zerrissen. Vielleicht geht nicht beides | |
gleichzeitig. | |
Die fehlende Empathie der in Deutschland weitaus weniger repräsentierten | |
PalästinenserInnen jedoch betonen zu wollen, dient der Fortführung des | |
Krieges – und zeigt nur unsere schlechte Seite. Am Ende werden bestimmt | |
viele Ja-Aber-Linke gewesen sein wollen. Aber dann müsste schon längst, | |
auch auf Seite 1 dieser Zeitung, stehen: Waffenstillstand, sofort. | |
4 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Abgebrochener-Palaestina-Kongress/!6004241 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=ZBtAtsdco-8 | |
[3] /Antisemitismus-Debatte-in-Deutschland/!5996230 | |
[4] https://www.erev-rav.com/archives/english/both-should-come-together | |
[5] https://www.artforum.com/columns/open-letter-art-community-cultural-organiz… | |
[6] https://www.monopol-magazin.de/kuenstler-beklagen-entmenschlichung-israelis… | |
[7] /Proteste-an-der-Columbia-University/!6004757 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Misselwitz | |
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