| # taz.de -- Historiker Herf über Antisemitismus: „Genau das Gegenteil war de… | |
| > Der US-amerikanische Historiker Jeffrey Herf forscht zu Antisemitismus. | |
| > Er spricht darüber, wie historische Ignoranz zur Ablehnung Israels | |
| > beiträgt. | |
| Bild: Gründung des Staates Israel am 14.5.1948 | |
| wochentaz: Herr Herf, in Ihrem neuesten Buch geht es um die „Drei Gesichter | |
| des Antisemitismus“ – um Islamisten, Rechte und Linke. Die stehen oft im | |
| Gegensatz zueinander. Wie kommen Sie auf diese unheilige Allianz? | |
| Jeffrey Herf: Nach dem 7. Oktober gab es in Europa und den USA Menschen, | |
| die die Massaker der Hamas in einen historischen Kontext stellten: den der | |
| israelischen Unterdrückung der Palästinenser. Mit dem Wesen der Hamas | |
| wollten sie sich nicht befassen. Dies hat zu einer sehr merkwürdigen | |
| Situation geführt: Menschen, die sich selbst als links oder liberal | |
| betrachten, nehmen eine Organisation billigend in Kauf, die ihre Wurzeln in | |
| einer Mischung aus religiösem Fundamentalismus und dem | |
| Vernichtungsantisemitismus der Nazis hat. Die Hamas ist eine Bewegung der | |
| extremen Rechten: Ihre Auslegung der islamischen Religion ist islamistisch, | |
| ihre entsetzlichen Ansichten über Frauen, Queers, Juden und natürlich über | |
| die Demokratie sind rechts. Warum also machen sich junge Linke unkritisch | |
| für sie stark? Nun, sie definieren Israel als einen rassistischen Staat. | |
| Wer gegen Israel kämpft, muss also auf der richtigen Seite stehen. | |
| Aber hat diese Einordnung nicht vielmehr mit der humanitären Katastrophe zu | |
| tun, zu der Gaza durch die israelische Gegenoffensive geworden ist? | |
| Lassen Sie mich eines sagen: Dies ist ein furchtbarer Krieg! Wir alle | |
| sollten entsetzt sein über Tausende von Menschen, die in diesem Krieg | |
| gestorben sind. Sowohl israelische Soldaten als auch Zivilisten in Gaza. | |
| Als Historiker stelle ich mir aber die Frage: Warum findet dieser Krieg | |
| statt? Ich denke, der Hauptgrund für diesen Krieg sind nicht die Fehler der | |
| israelischen Regierung – ich und alle meine Freunde in Israel haben das | |
| Netanjahu-Regime stets kritisiert. Der Grund, warum dieser Krieg | |
| stattfindet, ist die fundamentalistische Überzeugung der Hamas. Gäbe es die | |
| Hamas nicht, wäre keiner dieser Menschen tot. Die Hamas hat 40 Jahre lang | |
| klar und unverblümt gesagt, was sie mit Juden tun wird. In diesen vielen | |
| Jahren erhielten ihre Drohungen nicht die Aufmerksamkeit, die sie | |
| verdienten. Manche tun es bis heute nicht. Das frustriert mich als | |
| Historiker. | |
| Die Hamas gibt es erst seit 1987. Das von den Kritikern Israels beklagte | |
| Leid der Palästinenser aber gibt es seit der Staatsgründung Israels im Jahr | |
| 1948. Sparen Sie diesen historischen Kontext nicht aus? | |
| Wenn wir „die Amerikaner“ oder „die Deutschen“ sagen, wissen wir, dass … | |
| verallgemeinerte Aussagen über komplexe Gesellschaften treffen und dass es | |
| viele Deutsche und viele Amerikaner mit unterschiedlichen Meinungen gibt. | |
| Dasselbe sollte auch für die Palästinenser gelten. Die Hamas ist eine | |
| eigenständige Organisation mit einer eigenständigen Ideologie, die nur | |
| behauptet, für die Palästinenser zu sprechen. In Wirklichkeit spricht sie | |
| zugunsten ihrer Führer. Ein großer Teil dieses Missverständnisses besteht | |
| darin, dass viele die Geschichte einfach nicht kennen. Während des Kalten | |
| Krieges betrachteten der Sowjetblock und Teile der westlichen Linken die | |
| Sache „der Palästinenser“, vertreten durch die PLO, als ein Sonderanliegen | |
| der globalen Linken. In einer Art magischem Denken hat die Hamas, eine | |
| Organisation der extremen Rechten, von diesen ideologischen Gewohnheiten | |
| profitiert. Es ist absurd, wie [1][Judith Butler zu behaupten, die Hamas | |
| sei Teil der globalen Linken]. Aber die Propagandabemühungen der | |
| Sowjetunion waren sehr erfolgreich darin, Israel als rassistisch und | |
| kolonial darzustellen. | |
| Propalästinensische Aktivisten sagen immer wieder: Israel sei 1948 nur | |
| durch die Unterstützung ehemaliger Kolonialmächte wie Großbritannien oder | |
| von Imperien wie den USA, die Israel als Satellitenstaat nutzen, ermöglicht | |
| worden. [2][In Ihrem Buch „Israel’s Moment“] widersprechen Sie dieser | |
| These. Warum? | |
| In den entscheidenden Jahren von 1947-49 waren die Sowjetunion, Polen, | |
| Ungarn und die Tschechoslowakei sehr wichtig für die Gründung des Staates | |
| Israel. Sowohl durch ihre politische und diplomatische Unterstützung bei | |
| den Vereinten Nationen als auch, was die Tschechen betrifft, durch die | |
| Lieferung von Waffen an die Zionisten in Palästina. Dies stand in krassem | |
| Gegensatz zu der Opposition gegen die Gründung des Staates Israel im | |
| britischen Außenministerium und im Außenministerium in Washington, D.C. | |
| Deren Argument war ein zweifaches: Erstens dachten sie, dass der Staat | |
| Israel ein Verbündeter der Sowjetunion sein würde, da Juden als | |
| Sympathisanten der Kommunisten galten. Und zweitens würde der Staat Israel | |
| den westeuropäischen und amerikanischen Zugang zum arabischen Öl | |
| untergraben. Aus Sicht amerikanischer Linker war der Staat Israel 1948 ein | |
| antiimperialistisches Projekt, ein Projekt gegen den britischen | |
| Imperialismus und die Kolonialmächte. | |
| Und wann änderte sich diese Sichtweise? | |
| Als Stalin erkannte, dass der neue Staat Israel eher einer | |
| sozialdemokratischen Tradition folgte und kein Verbündeter der Sowjetunion | |
| sein würde. Zu diesem Zeitpunkt, während der anti-kosmopolitischen | |
| Säuberungen in den frühen 1950er Jahren, begann Stalins Propagandaapparat, | |
| Israel als ein Produkt des westlichen Imperialismus darzustellen. Diese | |
| Geschichte von Zionismus und Imperialismus, von Israel und den USA, | |
| entsprach überhaupt nicht den Ereignissen von 1948. Genau das Gegenteil war | |
| der Fall. Aber diese Geschichte wurde jahrzehntelang gebetsmühlenartig | |
| wiederholt. Jetzt ist sie bei Teilen der westlichen Linken fest verankert, | |
| aber es ist nicht das, was passiert ist. Israels wichtigster Verbündeter | |
| von 1948 bis 1967 war Frankreich. Und diese Unterstützung kam von | |
| französischen Sozialisten, französischen Liberalen und Veteranen der | |
| Résistance. | |
| Radikale Stimmen der Gegenwart sagen, Israel sei seit seiner Gründung ein | |
| genozidaler Staat, der darauf abzielt, die Palästinenser zu vernichten. | |
| Tatsächlich steigt die Zahl der zivilen Opfer im Gazastreifen gerade | |
| bedrohlich. Als Historiker, der seit Jahren zu Israels Geschichte forscht: | |
| Wie reagieren Sie auf aktuelle Annahmen, dass für das Entstehen und die | |
| Popularität der Hamas die Staatsgründung Israels und infolge die sogenannte | |
| Nakba, die Vertreibung von geschätzt 750.000 Palästinensern, verantwortlich | |
| ist? | |
| Im Jahr 1947 hatte das Arabische Hochkomitee die Möglichkeit, als Ergebnis | |
| des UN-Teilungsplans einen eigenen Staat zu bilden. [3][Mohammed Amin | |
| al-Husseini, der Großmufti von Jerusalem, ein Nazikollaborateur] und | |
| damaliger Führer des Arabischen Hochkomitees, traf die schreckliche | |
| Entscheidung, stattdessen in den Krieg zu ziehen. Wenn man einen Krieg | |
| beginnt und ihn verliert, ist das eine Katastrophe. In diesem Sinne ist der | |
| Begriff Nakba, die Katastrophe, anwendbar. Insbesondere nach dem Ende des | |
| Kalten Krieges gab es immer wieder Möglichkeiten, einen arabischen Staat im | |
| Westjordanland und im Gazastreifen zu gründen. Hamas und PLO haben das | |
| stets verhindert. Den Grund dafür findet man in der Hamas-Charta von 1988: | |
| Ein jüdischer Staat in Palästina ist in keiner Form akzeptabel. Wenn man | |
| alle Kompromisse ausschlägt, muss man die Verantwortung dafür übernehmen, | |
| dass die Konsequenz auch der schreckliche Zustand der Gegenwart ist. Ich | |
| denke übrigens auch, dass die Hamas eine große Verantwortung für die | |
| Existenz von rechten Regierungen in Israel trägt. | |
| Warum? | |
| Was Israel braucht, ist eine zentristische Regierung links der Mitte. Es | |
| braucht nicht die Regierung, die es jetzt hat. Aber die Angst, die die | |
| Hamas seit Jahrzehnten verbreitet, hat Netanjahu stets zur Wiederwahl | |
| verholfen. Frieden wird es nur geben mit einer Generation von | |
| Palästinensern, die die Verantwortung für die Fehler ihrer eigenen Führung | |
| nicht auf Israel abwälzt. In Israel gibt es viele Menschen, die die | |
| Verantwortung für Fehler ihrer Regierung übernehmen. Sie protestieren jeden | |
| Tag gegen Netanjahu und haben auch nach dem 7. Oktober nicht damit | |
| aufgehört. Dieser Konflikt hat aber noch immer zwei Seiten. | |
| 4 May 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jonathan Guggenberger | |
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