# taz.de -- Jüdische Realitäten in Deutschland: Offenbarungseid in der Kultur | |
> Eine Tagung in Frankfurt am Main kreiste um jüdisches Leben in | |
> Deutschland. Viele Juden fühlen sich von der Mehrheitsgesellschaft | |
> verraten. | |
Bild: In Düsseldorf wird mit der Fahne gegen die Feinde Israels, in Israel wir… | |
Es war eine an bitteren Befunden und traurigen Artikulationen mehr als | |
reiche Fachtagung, zu der in Frankfurt am Main unter dem Titel „Jüdisches | |
Leben in Deutschland – im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Autonomie“ | |
ins Jüdische Museum geladen wurde. Denn zum Ausdruck kam am Montag durch | |
verschiedene Redner:innen ein überwiegendes Gefühl der Enttäuschung, der | |
Einsamkeit und des Verrats. Der Adressat: die nichtjüdische deutsche | |
Mehrheitsgesellschaft. | |
Schon zum Auftakt der von [1][Shelly Kupferberg] moderierten Tagung, die in | |
der Manier schneller Schlagabtäusche und hellwacher, diskursiver | |
„Nummernrevues“, wie die Gastgeberin es treffend bezeichnete, auf der Bühne | |
daherkam, brachte der Präsident des Zentralrats der Juden Josef Schuster | |
vor, unter welcher Ausgrenzung jüdische Kulturschaffende seit dem 7. | |
Oktober stünden. „Ihr gehört nicht zu uns“, sei die Message der sich | |
angesichts der Lage in Israel und auch in der jüdischen Diaspora | |
wegduckenden Kulturszene. | |
Der stille Boykott israelischer und jüdischer Künstler:innen ist längst | |
ein offenes Geheimnis. Wer dieser Tage mit Israelis und auch mit jüdischen | |
Deutschen spricht, die sich nicht ostentativ vom jüdischen Staat | |
distanzieren, erhält immer häufiger die Aussage zu hören: „Ich bekomme | |
keine Einladungen mehr“, wie [2][zuletzt der Schriftsteller Etgar Keret es | |
im Interview mit der taz kundtat.] | |
## „Antisemiten diskutieren, was Antisemitismus ist“ | |
Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Sprecher der | |
Initiative Kulturelle Integration, der nach Schuster das Podium einnahm, | |
sprach im selben Zusammenhang Klartext: „Ich schäme mich für Boykotte von | |
Kulturverantwortlichen.“ Publizist Michel Friedman sprach gar von einem | |
„Offenbarungseid in der Kultur“. Die Situation sei mitunter so weit | |
gediehen, dass Antisemiten darüber diskutierten, was [3][Antisemitismus] | |
sei, und ihre eigenen Definitionen mitlieferten. Wohl ein Seitenhieb in | |
Richtung derjenigen in Wissenschaft und Publizistik, die unentwegt gegen | |
die IHRA-Definition argumentieren, zuletzt auch in der Diskussion um die | |
von einem breiten Parteienbündnis getragene Bundestagsresolution zum | |
Antisemitismus. | |
Friedman verwies zudem auf eine neue, vom Rechtsextremismus der AfD | |
geprägte Realität für Juden in Deutschland, die sich auch durch den | |
„banalen Judenhass“ radikaler Muslime verschärfe. Spoken Word Artist Anna | |
Syrkina brachte den innerjüdischen Diskurs seit dem 7. Oktober in ihrem | |
Performancetext „Dazwischen“ auf den Punkt: „Ein Jahr ist vergangen, es | |
fühlt sich wie ein langer Tag an.“ | |
Im Panel „Jüdische Widerständigkeit“ suchten Yael Kupferberg, Frederek | |
Musall, Doron Rabinovici und Ron Segal zunächst nach einem | |
Autonomiebegriff, der ins innerjüdische Selbstgespräch führen soll, um eine | |
gesellschaftliche Standpunktverortung zu ermöglichen, so Yael Kupferberg. | |
„Wo stehen wir gesellschaftlich?“, fragte die Professorin an der | |
Martin-Buber-Professur in Frankfurt am Main. | |
## Dort gegen die Regierung, hier gegen Antizionisten | |
Viele einstige Solidaritäten und Freundschaften sind nach dem 7. Oktober | |
zerbrochen, darin stimmte das vierköpfige Podium überein. Schriftsteller | |
Doron Rabinovici äußerte seine tiefe Enttäuschung über | |
Verlässlichgeglaubte, mitunter im Freundeskreis, sowie eine ambivalente | |
Gefühlslage gegenüber „falschen Leuten, die plötzlich das Richtige sagten�… | |
Jüdischer Widerstand zeige sich für ihn idealerweise im Hochhalten der | |
israelischen Flagge bei Demonstrationen in Israel gegen den „Justizputsch“ | |
der Netanjahu-Regierung sowie im demonstrativen Behaupten gegenüber | |
antiisraelischen Demonstranten, etwa in seiner Heimatstadt Wien. Dies | |
bedeute harte Kante gegenüber Feinden, aber auch gegenüber vermeintlichen | |
Freunden. „Widerstand kann es nur geben, wenn man eine eigene Stimme | |
findet.“ | |
Von einer eigenen, autonomen jüdischen Stimme hatte zuvor auch der | |
Soziologe Natan Sznaider gesprochen, von einer, die sich unabhängig von den | |
Diskursen der Mehrheitsgesellschaft und den Debatten Radikaler | |
selbstbewusst zu behaupten verstehe. „Antisemitismus kann nicht verboten | |
werden, da helfen keine Resolutionen.“ | |
Frederek Musall, Professor für Jüdische Studien an der Uni Würzburg, der | |
angesichts der Gaza-Proteste an Universitäten als Mediator auftritt, | |
betonte, dass er noch nie einer solchen Feindseligkeit begegnet sei wie | |
zuletzt in Hörsälen, wo er mit „From the River to the Sea“-Parolen begrü… | |
worden sei. Es zeige sich aber seit dem 7. Oktober auch eine nie da | |
gewesene Solidarität, aus ihr könne sich eine besondere Form des | |
Widerstandes speisen, die auf Zugewandtheit und Freundschaft beruhe. | |
Menschen, die sie nach dem 7. Oktober zeigten, sei er dankbar: „Es tut gut, | |
nicht erklären zu müssen, wie ich mich fühle.“ | |
19 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Shelly-Kupferberg-und-ihr-Buch-Isidor/!5876127 | |
[2] /Etgar-Keret-ueber-Boykotte-und-Literatur/!6046827 | |
[3] /Antisemitismus/!t5007709 | |
## AUTOREN | |
Chris Schinke | |
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