# taz.de -- Demokratie als Krise: Kleiner Mann gern groß | |
> Die Leipziger Autoritarismusstudie liefert schlüssige Erklärungen für die | |
> mächtige, autoritäre Wende. Der entgegenzutreten ist nötig – und möglic… | |
Bild: Ist die parlamentarische Demokratie wirklich der Gegenpol zum Autoritaris… | |
Der kleine Mann ist jung und alt, ist Mann und Frau. Er ist ein bisschen | |
mehr ost als west, auf jeden Fall aber deutsch. Der kleine Mann ist in der | |
Mehrheit, aber niemand hört auf seine Sorgen. „Die da oben“ nehmen und | |
lachen ihn aus. Der „kleine Mann“ (TM) ist wirklich überall zu finden, und | |
er ist schlecht gelaunt. Er neigt zum Autoritarismus und zu | |
menschenfeindlichen, gern schon mal rechtsextremen Einstellungen. So | |
zumindest können wir es der in dieser Woche erschienenen | |
[1][Autoritarismus-Studie] der Leipziger Universität oder auch der ähnlich | |
gelagerten [2][Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung] entnehmen. | |
Um ein paar halbe Prozent Zustimmung zu einzelnen der abgefragten | |
Einstellungen oder die generelle Ausrichtung dieser Studien lässt sich | |
sicher streiten. Aber insgesamt sind die Ergebnisse doch plausibel. | |
Letztlich erzählen sie das, was ganz offensichtlich auch die | |
Politiker*innen aller im Bundestag vertretenen Parteien längst als | |
gesellschaftlichen Trend identifiziert haben. Anders ist [3][die autoritäre | |
Wende] im öffentlichen Diskurs ja kaum erklärbar denn als Übereinkunft | |
zwischen dem sprichwörtlichen kleinen und dem hoffnungsvollen starken Mann. | |
Grüne, die sich für eine mögliche Koalition mit der Merz-CDU fein machen, | |
und Linke, die Wagenknecht und ihrer Reichweite hinterhertrauern, dürfen | |
sich durchaus mitgemeint fühlen. | |
Alle wollen eine Mitte, eine Norm repräsentieren, die seltsam vage bleibt. | |
Pragmatisch fluide und gefährlich durchlässig ist die Grenze zum anderen, | |
zum Unnormalen, das doch immer eindeutig markiert wird. Aggression und | |
Herablassung gegen „Ausländer“ oder „Arbeitslose“ – nicht Menschen, … | |
Label, oder auch gleich Aktenzeichen. Der Ideenwettbewerb aussichtsreicher | |
politischer Parteien schrumpft immer mehr zusammen auf einen engen Raum der | |
Konkurrenz um feine Nuancen böswilliger Repression. Wir haben die Wahl. | |
Die Autoritarismusstudie zitiert den [4][Soziologen Steffen Mau], dessen | |
hauptsächlicher Forschungsgegenstand Ostdeutschland ist, mit dem Begriff | |
der Involvierungsverdrossenheit. Das meint die abnehmende Bereitschaft zu | |
eigener politischer Aktivität in Teilen der Bevölkerung. Wer sich dem | |
brodelnden Morast autoritärer Heilserwartung zu nähern wagt, der hier vor | |
aller Augen seinem Reichsparteitag entgegenreift, weiß, wohin die Mischung | |
aus Gleichgültigkeit und delegiertem Angsthass führt. | |
## Was erwarten wir von der Demokratie? | |
Die Demokratie selbst wird laut der Studien eigenartigerweise noch immer | |
von einer überwältigenden Mehrheit für eine prinzipiell gute Staatsform | |
gehalten. Dem liegt eventuell ein Missverständnis zugrunde. Schließlich ist | |
ein sehr großer Teil der Befragten gleichzeitig der Auffassung, dass die | |
konkrete Ausgestaltung der Staatsform derzeit sehr zu wünschen übrig lässt. | |
Es scheint von der Demokratie erwartet zu werden, dass sie nicht dem Schutz | |
von Minderheiten und dem zivilen Interessenausgleich dient, sondern der | |
widerspruchsfreien Durchsetzung eines übermächtigen Mehrheitswillens. Die | |
Quelle dieses Willens hat ihre selbstverständliche, alles unterwerfende | |
Mitte immer bei denen, die grad sprechen. Die Parteien taumeln dieser | |
offensichtlich autoritären Erwartungshaltung mit ihrer verstörenden | |
Fetischisierung von Machtworten, Härte, Tacheles und ihrer lächerlichen, | |
gespielten Volksnähe eiligen Schrittes entgegen. | |
In dieser parlamentarischen Demokratie erfreut sich derzeit keine Kraft | |
nennenswerter Unterstützung, die sich unmissverständlich und kompromisslos | |
gegen autoritäre Modelle politischer Macht wendet. Angesichts dessen wird | |
erstaunlich selten die Frage gestellt, ob die parlamentarische Demokratie | |
wirklich der geborene Gegenpol zum Autoritarismus ist. Kann sie nicht | |
genauso gut komplementär funktionieren? Sie wäre dann eben ein | |
plebiszitärer Mechanismus zur periodischen Verifizierung einer Übereinkunft | |
zwischen dem kleinem und dem starkem Mann. Ganz zweifellos gibt es für ein | |
solches Arrangement doch einen messbaren Bedarf, dem sich die Aspiranten | |
auf das Kanzleramt nur zu gern andienen. | |
Nun ist der Hang zum Autoritarismus keine exklusive Erscheinungsform der | |
einen oder anderen politischen Grundausrichtung. Aber es gibt Humus, auf | |
dem er besonders gut gedeiht. | |
## Politische Mobilisierung | |
Wiederum Steffen Mau gibt in seiner Beurteilung, woher die spezifisch | |
ostdeutsche Involvierungsverdrossenheit kommt, einen wichtigen Hinweis. | |
So sieht er einen Grund für die Entfremdung in der historischen | |
[5][„Übernutzung des nationalen Potenzials politischer Mobilisierung“] seit | |
dem Untergang der DDR. Diese Übernutzung des nationalen Potenzials ist auch | |
in Westdeutschland zu beobachten. | |
Denn selbstverständlich ist die nationale Erzählung eine besonders einfache | |
Methode, um der vagen Norm einen jederzeit abrufbaren, | |
gemeinschaftsbildenden Rahmen, bei Bedarf auch stacheldrahtbewehrten | |
Schutzwall zu geben. Der definiert dann ein Außen und ein Innen. Da kommen | |
die Guten ins Töpfchen und die Schlechten in Abschiebehaft. Doch damit | |
nicht genug, denn autoritärer wie nationaler Reflex können jederzeit | |
beliebige andere Abweichungen als Feindbild markieren. Die enge Verbindung | |
zwischen beispielsweise Antifeminismus und Antisemitismus mit dem | |
untersuchten Autoritarismus stellt die Leipziger Studie gesondert heraus. | |
Über die rabiate Selbstbestätigung des Innen über alltäglichen Rassismus, | |
Transfeindlichkeit, [6][Ableismus] und deren lebensbedrohlichen Folgen | |
haben wir da noch gar nicht gesprochen. | |
Unter gegebenen Bedingungen ist die Herausforderung deshalb, die | |
Autoritarismusstudie anders zu lesen, denn als Anleitung zur | |
populistischen Wahlkampfführung. Die Beschäftigung mit der wenig | |
erbaulichen Datenlage ist schon allein deshalb nötig, um zu realisieren, | |
dass Autoritarismus der parlamentarischen Demokratie nicht zwingend | |
wesensfremd ist und sich nicht ohne Weiteres abwählen lässt. | |
Vielleicht ist es ja ein Anfang, genau das festzustellen: Die | |
parlamentarische Demokratie ist nicht das Ziel, sie ist ein Weg. Sie | |
überlässt uns die Entscheidung, ist selber aber noch keine, ist nicht aus | |
sich heraus gut, solidarisch und so weiter. Das können wir nur selber sein. | |
Das bedeutet für jene, die überhaupt noch die Wahl haben und nicht ohnehin | |
schon ausgeschlossen sind, aktiv die autoritäre Übereinkunft aufzukündigen. | |
Schweigen, Relativieren und all die anderen Strategien zur Vermeidung der | |
unbequemen Konfrontation, also zum Erhalt der eigenen privilegierten | |
Position, ist Kompliz*innenschaft mit der Unmenschlichkeit und der | |
Brutalität. | |
Alle vier Jahre das kleinere Übel zu wählen, genügt leider auch nicht. Denn | |
Hass lässt sich tatsächlich delegieren – Humanität aber nicht. Für die | |
müssen wir uns jeden Tag selber aufs Neue entscheiden – und dürfen diese | |
Entscheidung deshalb auch immer wieder von anderen einfordern. Es ist | |
schließlich nie zu spät, vom verdrossenen kleinen Mann zum involvierten | |
Menschen zu werden. | |
17 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Leipziger-Autoritarismus-Studie-2024/!6045748 | |
[2] https://www.fes.de/referat-demokratie-gesellschaft-und-innovation/gegen-rec… | |
[3] /Analyse-der-Wahlergebnisse-seit-1994/!6033149 | |
[4] /taz-Talk-mit-Soziologe-Steffen-Mau/!6022132 | |
[5] https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/soziologie-warum-es-immer-noch-o… | |
[6] /Behindertenfeindliche-Uebergriffe/!6016147 | |
## AUTOREN | |
Daniél Kretschmar | |
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