# taz.de -- Buch „Opferkunst“: Auf der richtigen Seite der Geschichte | |
> Nach dem 7. Oktober: In der Novelle „Opferkunst“ erzählt Jonathan | |
> Guggenberger über eine Kunstwelt, die sich ans Behaupten ihrer | |
> politischen Relevanz klammert. | |
Bild: Überall selbsternannte Befreier, hier bei der Kunstbiennale von Venedig … | |
Ein junger Performancekünstler namens Aaron hängt inmitten der Giardini, im | |
Herzen der Kunstbiennale von Venedig, an einem Kreuz. Er ist – bis auf eine | |
locker um die Lenden geschwungene Kuffiya – nackt. Aaron hat sich mit | |
Benzin übergossen und steckt sich in Brand. Ein letztes Mal inszeniert er | |
seine Körperkunst, nun als ultimativen Akt radikalen Protests. | |
„Palestine will set us free!“, sind seine letzten Worte – ein | |
widerständiger Slogan, der in Deutschland längst verboten wurde, weil | |
jüdische Lobbyisten darauf gedrängt haben. Obwohl er von einer | |
Menschenmenge umgeben ist, hindert den jungen Künstler niemand daran, sich | |
selbst zu töten. | |
[1][Jonathan Guggenbergers literarisches Debüt „Opferkunst“ – der Autor | |
schreibt auch Artikel für die taz] – beginnt mit dieser Beschreibung eines | |
Opfertods am Kreuz, der sich als Performancekunst und politisches Fanal | |
zugleich versteht. Was wie eine etwas plumpe und stark übertriebene | |
Metapher auf die Zustände der Gegenwart gelesen werden könnte, basiert | |
allerdings auf einer wahren Begebenheit. Der 25 Jahre alte Aaron Bushnell, | |
der als Soldat bei der US-Air Force diente, setzte sich im Februar 2024 vor | |
der israelischen Botschaft in Washington, D. C. selbst in Brand. | |
## Die Wirklichkeit ist der Satire einen Schritt voraus | |
Bilder seiner Tat, die er laut seiner letzten Worte für ein „freies | |
Palästina“ beging, wurden massenhaft medial konsumiert und in den Zirkeln | |
einer selbsternannten New Yorker „Intelligentsia“ gefeiert. Wie so oft | |
dieser Tage ist auch in Guggenbergers „Opferkunst“ die Wirklichkeit der | |
Satire einen Schritt voraus. | |
Giuseppe Tomasi di Lampedusa hat seinem Meisterwerk „Der Leopard“, in dem | |
er die letzten Jahre einer dem Untergang geweihten Aristokratenfamilie bis | |
ins saftige Detail fiktionalisiert, einen Brief an einen Freund | |
vorangestellt, in dem der Autor bekennt, dass Bendicò, der Hund der | |
Familie, ein zentraler Charakter, „praktisch der Schlüssel“ zu diesem Roman | |
sei. | |
Wer „Opferkunst“ liest, ist gleichermaßen gut beraten, dem Hund des | |
Ich-Erzählers Beachtung zu schenken. Das Haustier des Erzählers heißt Bel | |
Ami, ein offenkundiger Verweis auf den klassischen Roman [2][Guy de | |
Maupassants], der von einem korrupten Journalisten und seinem | |
unaufhaltsamen Aufstieg im Paris der Belle Époque erzählt. | |
## Kultur im Würgegriff | |
„Opferkunst“ ist ein Schlüsselroman, der auf 256 Seiten nonchalant mit | |
zeitgenössischen und historischen Referenzen aus Politik und Kultur um sich | |
wirft. Oder, wie es die Künstler*innen und Aktivist*innen, die sich in | |
Guggenbergers Roman tummeln, formulieren würden: „IYKYK“ – if you know, … | |
know, wenn du Bescheid weißt, weißt du Bescheid. Die Handlung ist in der | |
unmittelbaren Gegenwart angesiedelt, also dem moralischen Dilemma – um | |
nicht zu sagen der Psychose –, die das gesamte Feld der Kultur heute in | |
ihrem Würgegriff hält. | |
Guggenbergers Ich-Erzähler fasst die Ereignisse nach dem Opfertod Aarons so | |
zusammen: „In den Newsrooms wurde mit großen Löffeln der standardmäßige | |
Gifttrunk angerührt: Die Massen lockte man damit gefügig in den Glauben, | |
Aarons Martyrium sei antisemitischer Terror gewesen und nicht die Rückkehr | |
der Moral in eine zuvor durch ironische Distanziertheit sinnlos und | |
irrelevant gewordene Gegenwartskunst. Und so kam es, dass noch bevor Aarons | |
Brandleiche abgekühlt war, die rechte Dogwhistle seitenlanger | |
Feuilleton-Aufmacher den Kommandoschritt pfiff und die Mehrheit ihr wie | |
Lemminge folgte. Bis an den Rand der Totengrube, wo schon rücklings in | |
einer Reihe aufgestellt, alle Unliebsamen standen: Die indigenen Künstler, | |
die queeren Kuratorinnen, die Ex-pats, die Palästinenserinnen, die | |
Migranten, die Hijab-Girls, die Andersdenkenden, kurz: The resistance – und | |
zum Abschuss freigegeben waren.“ | |
Dieser Ich-Erzähler, der mit Verve die totalitären Verhältnisse im | |
Deutschland der Gegenwart beklagt, ist ein in Berlin – wo sonst – lebender | |
Journalist und Aarons bester Freund. Wir nehmen Teil an seiner | |
Selbstfindung und werden zu Zeugen seiner offen zu Tage liegenden Obsession | |
mit „Ihnen“, einer Gruppe, die so ominös wie allgegenwärtig zu sein | |
scheint. | |
## Klassischer Bildungsroman | |
Diese Zwangsvorstellung führt er selbst auf seine deutsche Kindheit in den | |
Jahren der Wiedervereinigung zurück, auf die zudem der lange Schatten der | |
Kriegsverbrechen seines Nazi-Großonkels in Litauen fällt. Wir können | |
„Opferkunst“ auch als klassischen Bildungsroman lesen. | |
Als er seinen neuen Job als Leiter des Kulturressorts einer Zeitung | |
antritt, beginnt unser Erzähler, dem Ratschlag seines neuen Chefs folgend, | |
unter einem Pseudonym zu schreiben, das einen leicht jüdischen Klang hat. | |
Sein Übergangsritus besteht darin, in einem bekannten Berliner Restaurant | |
seine eigenen Werte als Veganer zu verletzen, indem er ein blutiges Steak | |
mampft, um den Deal mit seinem neuen Chef zu besiegeln. Wird es ihm nun | |
gelingen, sich von seiner Obsession zu befreien und endlich zu dem Mann zu | |
werden, der er immer schon werden sollte? | |
Guggenberger ist ein scharfsinniger Beobachter der Absurditäten, mit denen | |
wir uns dieser Tage konfrontiert sehen: etwa dem Narzissmus von | |
selbsternannten „Social Justice Warriors“, die behaupten, sich für die | |
Belange der Palästinenser einzusetzen, aber die wenigen tapferen | |
dissidenten Stimmen aus Gaza wie [3][Hamza Howidy, der sich gegen den | |
Terror der Hamas wendet], niederbrüllen. | |
Oder mit der radikalen Selbstbezogenheit jener Kunstbetriebsfiguren, die | |
darüber klagen, zum Schweigen gebracht zu werden, aber ständig in führenden | |
Medien zu Wort kommen, um dort jede Chance auf einen konstruktiven Dialog | |
zu sabotieren, indem sie jeden und jede boykottieren, canceln und | |
drangsalieren, die nicht mit ihrer verzerrten Wahrnehmung der Realität | |
übereinstimmen. | |
## So treffend wie komisch | |
Es ist beeindruckend, wie es Guggenberger gelingt, diese Absurditäten zu | |
einer Erzählung auszuformen, die so treffend wie komisch ist – wobei | |
Letzteres davon abhängt, wie alarmiert man vom aktuellen Gang der Dinge | |
ist. Kein Detail bleibt unbeachtet, wenn reale Ereignisse der jüngeren | |
Vergangenheit und Fiktion ineinanderfließen. | |
Aber auch Kontinuitäten zwischen Vergangenheit und Gegenwart werden | |
meisterhaft heraufbeschworen, etwa der Antisemitismus-Skandal um | |
Fassbinders Frankfurter Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ od… | |
die Geschichte des litauischen, in die USA ausgewanderten [4][Künstlers | |
Jonas Mekas], dessen Legende des Widerstands gegen die Nazi-Besatzung | |
umfassend und überzeugend vom Historiker Michael Casper als Mythos entlarvt | |
wurde. Mekas hatte als Kolumnist für eine nazifreundliche litauische | |
Zeitung gearbeitet. | |
Während der Ich-Erzähler immer tiefer in die hippen Neuköllner | |
Künstlerzirkel eindringt und immer weiter in den tonangebenden Zirkel eines | |
zunehmend sinnentleerten Kunstbetriebs aufsteigt, begegnen wir immer neuen | |
Figuren, deren Doppelmoral sich darin zeigt, dass sie ihr eigenes, noch so | |
fragwürdiges Agieren mit der Gewissheit rechtfertigen, auf der richtigen | |
Seite der Geschichte zu stehen – denn was könnte wichtiger sein als ein | |
„Genozid“? | |
## Die Echokammern der Social Media | |
Leser*innen wie mir, die Teil dieses Betriebs sind, sich ungesund lange | |
in den Echokammern von Social Media aufhalten und die scharfe Polarisierung | |
innerhalb der internationalen Kunstszene nach dem 7. Oktober erlebt haben, | |
werden viele der im Roman beschriebenen Ereignisse und Gedanken bekannt | |
vorkommen. | |
Etwa der Umstand, dass viele gebildete Künstler*innen und Autor*innen | |
seit einem Jahr allen Ernstes das Wort „Märtyrer“ benutzen, wenn sie über | |
Terroristen der Hamas und der Hizbollah sprechen, inklusive deren Führer | |
Yahya Sinwar, Ismail Haniyeh und Hassan Nasrallah. | |
Beim Lesen nagte zunehmend die Frage an mir, wie eine Leserin, die mit den | |
Vorgängen in der Kunstszene nicht vertraut ist, die fiktionalisierten | |
Ereignisse in „Opferkunst“ wahrnehmen würde. Als übertrieben zugespitzte | |
Metaphern? | |
Die Antwort auf diese Frage könnte lauten: So, wie Lampedusas „Leopard“ | |
den Niedergang einer sizilianischen Aristokratenkaste beschreibt, die es | |
sich allzu bequem gemacht hat, fängt Guggenbergers „Opferkunst“ die letzten | |
Atemzüge einer Kunstwelt ein, die auf ihrer Wichtigkeit besteht und sich um | |
jeden Preis an die Behauptung ihrer politischen und sozialen Relevanz | |
klammert. | |
## Aufgabe der liberalen Prinzipien | |
Diese kulturelle Klasse hat sich dermaßen weit von der sozialen und | |
politischen Realität entfernt, sie hat den Prozess, Sprache von ihrer | |
Bedeutung zu befreien, dermaßen weit vorangetrieben, dass sie nicht mehr | |
erkennen kann, dass sie ebenjene liberalen Prinzipien aufgegeben hat, die | |
ihre Existenz legitimieren. | |
Stattdessen glorifiziert sie den sogenannten „Widerstand“ von autoritären | |
Führern, die ihre Völker ausplündern und ermorden lassen, und von | |
Diktatoren, deren Begriff von Kunst sich darauf beschränkt, dass sie ihren | |
eigenen ideologischen Zwecken dienen soll. Es ist Zeit für was auch immer | |
nach der Wokeness kommen mag. Übersetzung aus dem Englischen von Ulrich | |
Gutmair | |
Hili Perlson ist Kunstjournalistin, Kritikerin und Dozentin. Geboren in | |
Haifa, lebt sie heute in Berlin und auf Sizilien. | |
28 Nov 2024 | |
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