| # taz.de -- Tagung über Antisemitismus in Hamburg: Aufklärung und Lustgewinn | |
| > Was zeichnet Antisemitismus aus und wie wirken religiöse Motive in ihm | |
| > weiter? Eine Tagung im Institut für Sozialforschung versuchte sich an | |
| > Antworten. | |
| Bild: Die Hamas zielte mit ihren Bildern auf die Verdopplung ihrer Mordtaten | |
| Zur langen Liste der verloren gegangen zu scheinenden Wissensbestände | |
| gehört die Antwort auf die Frage, woher der Begriff des Antisemitismus | |
| stammt. In Deutschland kommt zum Vergessen oft das Fortwirken | |
| scholastischen Denkens dazu, das aus den Begriffen etwas über die Welt | |
| erfahren zu können meint. | |
| So kann man immer wieder das nominalistische Argument hören, das Wort | |
| „Antisemitismus“ sei schlecht gewählt – weil Arabisch ja auch eine | |
| semitische Sprache sei. Gemeint ist das oft als Anwurf gegen die Definition | |
| des Antisemitismus als moderne Form der Judenfeindlichkeit, die in jenem | |
| historischen Moment entsteht, als Juden im Zug der Aufklärung zumindest | |
| theoretisch zu gleichberechtigten Bürgern, gar zu Menschen wie alle anderen | |
| auch erklärt werden. | |
| Letzteres zeigte [1][Hannah Arendt] im 1937/38 fertig gestellten ersten | |
| Kapitel eines unvollendeten Buchprojekts, das sich der „Geschichte des | |
| Antisemitismus“ widmen sollte und bisher nur in englischer Übersetzung | |
| vorlag. Vor Kurzem ist es in der Neuedition der „Vorträge und Aufsätze. | |
| 1930 – 1938“ bei Piper erstmals auf Deutsch erschienen. | |
| Es sei kein Zufall, schrieb Arendt, dass die Juden „niemals in der ganzen | |
| traurigen Geschichte der vergangenen 150 Jahre in den Augen der anderen je | |
| lebendige Menschen wurden“. Paradoxerweise habe zwar „die deutsche | |
| Aufklärung die Sache der Juden mit den Menschenrechten theoretisch | |
| identifiziert“, jedoch hätten die deutschen Erben der Aufklärung sich | |
| darauf versteift, „die Juden mit der gesamten Menschheit zu emanzipieren“, | |
| und seien schließlich zu Antisemiten geworden. | |
| Arendt zitiert Christian Wilhelm Dohm, der 1783 schrieb: „Freilich wäre es | |
| besser, wenn die Juden mit ihren Vorurteilen gar nicht mehr da wären.“ Sie | |
| seien am besten „allmählich von der Erde zu vertilgen“. | |
| ## Analyse Hannah Arendts | |
| Die vom preußischen und anderen deutschen Staaten von oben durchgesetzte | |
| Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert und der partikulare Charakter des | |
| in Deutschland propagierten Universalismus waren auch Thema der Tagung | |
| „Hybrider Antisemitismus“ der Evangelischen Akademie der Nordkirche und des | |
| Hamburger Instituts für Sozialforschung am vergangenen Donnerstag und | |
| Freitag. | |
| Doch erschien Hannah Arendts Analyse der Genese des Antisemitismus einigen | |
| Soziologen als unzureichend, weil sie zu stark auf reale Konflikte zwischen | |
| Christen und Juden abhebe, was angesichts des oben erwähnten Texts nicht | |
| ganz nachvollziehbar erscheint. | |
| In einer Fußnote skizziert Arendt, wie es zum „Antisemitismus“ kam. In | |
| seiner „Indischen Altertumskunde“ habe Christian Lassen 1847 die | |
| Bezeichnungen „semitisch“ und „indogermanisch“ als völkische verwendet: | |
| „Lassen kennzeichnet als erster die indogermanischen Völker als die | |
| begabtesten, produktiven, kurz als die ‚guten‘ und die semitischen als die | |
| egoistischsten, gierigen, unproduktiven, kurz ‚schlechten‘.“ | |
| Die politische Umwandlung des Worts „semitisch“ in das Schlagwort | |
| Antisemitismus sowie seine alleinige Anwendung auf die Juden stamme von | |
| Wilhelm Marr um das Jahr 1870 herum. | |
| ## Kein Platz in der „Volksgemeinschaft“ | |
| Auch auf der Hamburger Tagung spielte die Herkunft dieser Selbstbezeichnung | |
| moderner Judenfeinde eine Rolle, signalisierten doch im 19. Jahrhundert | |
| deutsche Bildungsbürger damit unter anderem, dass sie als moderne Leute, | |
| denen jedes religiöse Vorurteil fremd sei, nicht etwa mit dem Judentum als | |
| Religion ein Problem hätten, sondern mit den Leuten, die Juden sind, denen | |
| qua ihres So-Seins kein Platz in der „Volksgemeinschaft“ der Deutschen | |
| zukomme: Wer ein Jude sei, könne kein Deutscher sein. | |
| „Gegen jede Religionsverfolgung nehme ich somit die Juden unbedingt in | |
| Schutz“, schrieb der originale Antisemit Wilhelm Marr 1869. | |
| Der Untertitel der Tagung, „Religionskulturelle Transformationen und | |
| Gewalt“, brachte ein weiteres Problem ins Spiel. Der Theologe Jörg Herrmann | |
| konstatierte eingangs, auch heute gehöre Antisemitismus zum Alltagssound. | |
| Der Soziologe Jan Weyand bemerkte trocken, Gewalt gegen Juden sei in | |
| unserer Kultur normal seit 1.000 Jahren. | |
| Sein Kollege Werner Bergmann stellte fest, dass die Frage, warum ein unter | |
| Gebildeten weit verbreiteter Antisemitismus nicht immer zu tödlicher Gewalt | |
| führt, nur durch Veränderungen in den politischen Rahmenbedingungen zu | |
| erklären ist. Im 19. Jahrhundert sei in Deutschland kaum ein Jude getötet | |
| worden. Juden wurden verprügelt, ihr Eigentum zerstört. | |
| ## Religiöse Motive im modernen Antisemitismus | |
| Einig war man sich, dass die Demokratisierung mit der Entstehung moderner | |
| Parteien ihren Teil dazu beitrug, den Antisemitismus auf die Straße zu | |
| bringen: Radikalisierung und Politisierung werden durch demokratische | |
| Verhältnisse begünstigt. Auch das hat bereits Arendt festgehalten. Selbst | |
| eine verbreitete Antipathie gegen Juden werde „erst dann gefährlich, wenn | |
| sie sich mit anderen politischen Tendenzen verkoppeln kann“. | |
| Die im Tagungstitel angesprochene Hybridität verweist auf den Umstand, dass | |
| religiöse Motive im modernen Antisemitismus weiterwirken. Umgekehrt finden | |
| sich moderne Ideen bereits in der frühen Neuzeit, wie Stefanie | |
| Schüler-Springorum in ihrem Beitrag zu „Religion und Rassismus“ zeigte. | |
| Nachdem viele spanische Juden freiwillig oder durch Zwangstaufen zu | |
| „Neuchristen“ geworden waren und in kirchliche und staatliche Ämter | |
| aufstiegen, regte sich Widerstand. Gemäß den „Statuten“ von Toledo wurden | |
| dort ab 1449 nur Menschen zu Ämtern zugelassen, die ihre „Blutreinheit“ | |
| nachweisen konnten, weil eine „Tendenz zur Häresie“ angeblich mit der | |
| Muttermilch weitergegeben werde. | |
| Dass die Emanzipation von einer problematischen Idee des Universalismus | |
| getragen war, zeigte im Geiste Hannah Arendts der Historiker Till van | |
| Rahden: „Jede Form des jüdischen Universalismus stand im Gegensatz zum | |
| moralisch überlegenen christlichen Universalismus unter dem Verdacht, | |
| partikulare Interessen zu verschleiern.“ | |
| Wer dem Antisemitismus entgegentreten möchte, solle daher nicht dem | |
| Trugschluss erliegen, es reiche aus, sich auf universalistische Prinzipien | |
| zu berufen. Jede Form des Universalismus werde notwendigerweise aus einer | |
| partikularen Position heraus formuliert. | |
| ## Jüdischer und deutscher Universalismus | |
| [2][Yael Kupferberg] gab van Rahden recht: Der deutsche Universalismus sei | |
| ein ausgedehnter christlicher Partikularismus. Die Philosophin stellte ihm | |
| den jüdischen Universalismus gegenüber, der schon in den Büchern Mose | |
| angelegt sei: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.“ | |
| Jüdisch-theologisch meine Universalismus, dass alle Menschen der Rettung | |
| würdig sind. Jüdischer Universalismus komme ohne Identifikation aus, | |
| fordere Distanz zum Objekt. Für Max Horkheimer sei klar gewesen, dass erst | |
| das jüdische Konzept eines gestaltlosen Gotts die Autonomie des Subjekts | |
| garantiere. | |
| Inwiefern die an die 60.000 Bildsequenzen der Hamas vom 7. Oktober zur | |
| Identifikation einladen, fragte der Kunsthistoriker Peter Geimer. Die | |
| Bilder der Hamas seien von Anfang an Teil der Kriegsführung gewesen: „Was | |
| sie zeigen, ist auch Geschehen, das gezeigt werden soll.“ | |
| Erzeugten die mit der Helmkamera aufgenommen Videos, in denen die Vorgänge | |
| Sehen, Filmen und Schießen verkoppelt seien, beim Betrachter Distanz oder | |
| drängten sie vielmehr auf, durch die Augen der Mörder zu sehen? „Alles | |
| scheint als Gegenstand potenzieller Vernichtung.“ Die Botschaft dieser | |
| Bilder laute: „Wir werden euch aufsuchen, wo ihr euch sicher fühlt.“ | |
| Gezielt würden in der israelischen Bevölkerung Ängste mobilisiert, die | |
| Erinnerung an den Holocaust evoziert. | |
| ## Perfides Kalkül der Hamas | |
| Der Historiker Volker Weiß ergänzte Geimers These: Die Tat sei absichtlich | |
| durch die Bilder verdoppelt worden. Die Hamas habe möglichst viele Menschen | |
| töten und entführen wollen, um jüdische Traumata zu aktivieren. Israel habe | |
| das zur härtesten Reaktion provozieren sollen. Im perfiden Kalkül der Hamas | |
| sollten eigene Bilder des Terrors sodann mit den Bildern der Opfer in Gaza | |
| überschrieben werden. | |
| An dieser Stelle hakte Schüler-Springorum ein. Es sei wenig hilfreich, dass | |
| der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Angriff der Hamas | |
| mit dem Holocaust verglichen habe. Dieser sei nicht dasselbe wie die | |
| Massenerschießungen im Holocaust. Weiß antwortete knapp, dass falsche | |
| Analogien selbstredend zu vermeiden seien – und Masha Gessens Vergleich von | |
| Gaza mit dem Warschauer Ghetto ebenso wenig hilfreich gewesen sei. | |
| Weiß zeigte, wie antisemitische Motive in der Bildsprache der westlichen | |
| Pro-Palästina-Bewegung verwendet werden. Den Slogan „Palestine will set us | |
| free“ las er als Parole einer politischen Theologie der Erlösung. | |
| Yael Kupferberg schloss an diese Frage der über Social Media verbreiteten | |
| Bilder an. Der Antisemitismus verspreche auch Lustgewinn, weswegen die | |
| Frage nach zeitgenössischer Erfahrungsmöglichkeit gestellt werden müsse: | |
| „Welche Erfahrungen können wir machen in Zeiten der Digitalität? Wie | |
| erodiert Öffentlichkeit, wenn diese durch Affektivität und Normativität | |
| geprägt ist und Reflexion nivelliert? Was passiert, wenn Erfahrungen nur im | |
| oder als Schein passiert?“ | |
| Das sind Fragen, die dringend gestellt werden müssen. Denn die Geschichte | |
| des Antisemitismus versteckt laut Hannah Arendt „immer ganz andere | |
| Tendenzen, in denen Juden nicht die entscheidende Rolle spielen“. | |
| 11 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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