# taz.de -- Aktivist über Anti-Hamas-Protest in Gaza: „Wir wollten sie stür… | |
> Hamza Howidy hat gegen die Hamas demonstriert. Der internationalen | |
> Pro-Palästina-Bewegung wirft er Verherrlichung der Islamisten vor. | |
Bild: „Wir wollen leben“, steht auf dem Schild. Palästinenser demonstriere… | |
Hamza Howidy ist 26 und wurde in Gaza geboren. Er studierte an der | |
Islamischen Universität in Gaza. Erstmals nahm er 2019 an Protesten teil, | |
die sich gegen schlechte Lebensbedingungen im Gazastreifen und die | |
Herrschaft der Hamas richteten. Nachdem er 2023 nach weiteren Protesten | |
verhaftet wurde, verließ er seinen Geburtsort. Wegen seiner Kritik an der | |
Hamas wurde er mehrfach angegriffen und bedroht. Derzeit befindet er sich | |
in einer Geflüchtetenunterkunft in Deutschland. | |
wochentaz: Herr Howidy, 2019 haben Sie an den „We want to live-Protesten im | |
Gazastreifen teilgenommen. Worum ging es bei diesen Protesten? | |
Hamza Howidy: Ich sollte 2019 mein Studium abschließen, also habe ich meine | |
Zukunft zu planen begonnen und mich für Jobs beworben. Aber die | |
wirtschaftlichen Bedingungen waren wirklich schlecht, und die Hamas | |
verfolgte eine Politik, die nur Hamas-Mitglieder im öffentlichen Dienst | |
vorsah, nicht Leute wie mich – ganz zu schweigen von der massiven | |
Korruption. Die Menschen wollten die Hamas stürzen, aber wir waren nicht | |
mutig genug, das öffentlich zu sagen, also versteckten wir uns hinter dem | |
Slogan „Wir wollen leben“. Wir forderten angemessene Lebensbedingungen, | |
mehr Arbeitsplätze – und Wahlen. Denn Wahlen gab es in Palästina nur ein | |
einziges Mal, im Jahr 2006. Wir gingen auf die Straße, aber nach 20, 30 | |
Minuten wurden wir von Hamas-Milizen angegriffen. Ich wurde von einem | |
Hamas-Mann direkt neben mir festgehalten, der undercover unterwegs war. Wir | |
wurden verhaftet und nach Dschabalia im nördlichen Gazastreifen gebracht. | |
Ich war drei Wochen dort und wurde gefoltert, meine Familie konnte das | |
Bestechungsgeld zahlen. Wer das Geld nicht hatte, blieb monatelang dort. | |
Haben Sie Solidarität erfahren? | |
Als wir freikamen, waren wir schockiert, weil niemand unsere Freilassung | |
gefordert hatte. Wir hatten nicht erwartet, dass | |
Menschenrechtsorganisationen, die Palästinensische Autonomiebehörde oder | |
die arabischen Länder uns so im Stich lassen würden. Deshalb warteten wir | |
viele Jahre, bis wir im Juni 2023 erneut protestierten. | |
Kurz bevor Israel infolge des Angriffs der Hamas am 7. Oktober in den | |
Gazastreifen einrückte, haben Sie Gaza verlassen. Warum? | |
Ich hatte die Hoffnung verloren. Nachdem ich zum zweiten Mal an den „We | |
want to live“-Demonstrationen teilgenommen hatte, wurde ich erneut | |
verhaftet und gefoltert. Es gab wieder keinerlei Medienberichterstattung | |
oder gar einen Aufruf zur Freilassung. Also bewarb ich mich um ein | |
türkisches Visum, verließ Gaza durch den Übergang in Rafah nach Ägypten, | |
kam dann von Ägypten in die Türkei, von der Türkei mit einem | |
Flüchtlingsschiff nach Griechenland und von Griechenland nach Deutschland. | |
Haben Sie Kontakt zu Freunden und Familienangehörigen, die noch in Gaza | |
sind? Wie ist ihre Situation? | |
Ja, ich spreche ein- bis zweimal pro Woche mit ihnen. Die Situation dort | |
lässt sich nicht mit Worten beschreiben. Sie leiden unter dem Mangel an | |
Nahrung und Wasser, unter dem ständigen Bombardement, unter der | |
Vertreibung. Ihre Häuser, Schulen, Krankenhäuser, alles ist zerstört. Sie | |
schlafen buchstäblich in Zelten auf der Straße. Es ist schrecklich. | |
Wie denkt die Öffentlichkeit in Gaza heute über die Hamas? | |
Vor dem Krieg haben die Menschen zwischen der Hamas als politischer | |
Bewegung und der Hamas als Widerstandsbewegung unterschieden. Als | |
politische Bewegung mochte in Gaza niemand die Hamas, weil sie ständig | |
versagt hat und die Menschen darüber total verärgert waren. Aber was das | |
Narrativ des Widerstands angeht, haben die Menschen leider daran geglaubt. | |
Sie glaubten, dass die Hamas sie vor dem „großen Feind“, oder wie auch | |
immer sie es nennen, beschützt. Das war das Szenario vor dem 7. Oktober. In | |
der Zwischenzeit haben die Leute verstanden, wie die Hamas die | |
Palästinenser manipuliert und benutzt, sei es als menschlicher Schutzschild | |
oder zur Finanzierung ihrer Bankkonten. Mittlerweile haben sogar | |
Hamas-Offizielle öffentlich eingestanden dass mindestens 50 Prozent der | |
Bevölkerung im Gazastreifen die Hamas nicht will. Inzwischen nehme ich an, | |
dass die Mehrheit die Hamas nicht will. | |
Ist es aktuell möglich, in Gaza gegen die Hamas zu protestieren? | |
Einige haben es versucht. Sie haben vor dem Haus von Jahia Sinwar | |
[ranghöchster Anführer der Hamas in Gaza; Anm. d. Red.] protestiert, sie | |
haben im Norden protestiert. Aber jedes Mal reagiert die Hamas auf dieselbe | |
Art und Weise: Sie schießen. Ich persönlich würde nicht versuchen zu | |
protestieren, wenn ich damit rechnen muss, dass auf mich geschossen wird. | |
Ohne Schutz, und den gibt es nicht, rechne ich leider nicht mit Protest. | |
Wie hat sich in Gaza die Haltung zu Israel entwickelt? | |
Als die israelische Regierung gewählt wurde, hieß es, es sei die am | |
weitesten rechts stehende israelische Regierung, die es je gegeben habe. | |
Als wir dann die Reaktion Israels auf die Gräueltaten der Hamas vom 7. | |
Oktober sahen, waren wir entsetzt. Wir waren Militäroperationen gewöhnt, | |
wir hatten mindestens alle zwei oder drei Jahre eine. Da beschränkte sich | |
die Reaktion der israelischen Armee auf die Einrichtungen der Hamas und | |
ihre Mitglieder. Aber in diesem Krieg war die Reaktion massiv, und ich | |
persönlich glaube nicht, dass die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte | |
(IDF) die richtigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben, um die Zahl der | |
zivilen Opfer zu minimieren. | |
Ist es so, dass viele Menschen in Gaza glauben, Israel gehe aktiv gegen die | |
Zivilbevölkerung vor? | |
Die Menschen im Gazastreifen glauben, dass Israel sie irgendwie nach | |
Ägypten drängen will, dass sie den Gazastreifen verlassen sollen. Diese | |
Angst ist nachvollziehbar, weil die Palästinenser seit ihrer Vertreibung im | |
Jahr 1948 mit einem Trauma leben. | |
Im Mai haben Sie alle Ihre Beiträge auf der Plattform X gelöscht. Sie | |
schrieben, dass Ihre „Wut auf die Hamas“ Sie „blind gemacht“ habe „f�… | |
viele Verbrechen, die an meinem Volk begangen wurden und nicht zu | |
rechtfertigen sind“. Was war der Auslöser? | |
Ich war entsetzt, denn viele meiner Freunde, von denen ich sicher weiß, | |
dass sie nicht in militärische Aktivitäten verwickelt sind, von denen ich | |
sicher weiß, dass sie Zivilisten sind, habe ich einen nach dem anderen | |
sterben sehen. Ich hatte das Gefühl, sie zu verraten, wenn ich nichts dazu | |
sage. Auf der anderen Seite wurde ich, um ehrlich zu sein, von einigen | |
meiner Landsleute angegriffen und war mit einer Verleumdungskampagne gegen | |
mich und meine Familie konfrontiert. | |
Verstehen Sie, wenn Palästinenser*innen oder propalästinensische | |
Aktivist*innen sich weigern, über die Hamas zu sprechen, weil sie | |
meinen, dass die Brutalität Israels viel schlimmer sei? | |
Eigentlich bin ich nicht hier, um Israel zu verteidigen, aber wenn die | |
Protestierenden sagen, dass Israel schlimmere Verbrechen begeht als die | |
Hamas, sollten sie sich die Frage stellen: Was wäre, wenn die Hamas über | |
die militärischen Kapazitäten der IDF verfügen würde? Ich glaube, es wäre | |
ein Albtraum für alle. Ich denke, dass die Aktivist*innen Angst haben, | |
als Alibi benutzt zu werden, um zu rechtfertigen, was mit den | |
Zivilist*innen in Gaza und im Westjordanland geschieht. Andererseits | |
zeigen die Menschen gerne mit dem Finger auf Israel und machen es für alles | |
verantwortlich. Das ist nicht nur auf den Nahen Osten oder die arabische | |
Welt beschränkt, sondern geschieht auch im Westen. Also ja, Israel verdient | |
einige Kritik und trägt einige Schuld; aber nein, nicht die alleinige. | |
Was halten Sie von den propalästinensischen Protesten, die in westlichen | |
Ländern stattfinden? Glauben Sie, dass ein Boykott Israels helfen kann, | |
diesen Krieg zu beenden? | |
Ich bin kein Fan von Boykotten. Wenn wir alles boykottieren, werden wir | |
keine Einigung zwischen den Palästinensern und den Israelis erreichen, | |
stattdessen wird der Konflikt noch schwieriger zu lösen sein. Wir hätten | |
die Linke in Israel unterstützen können, aber das haben wir nicht getan. Zu | |
den Protesten generell: Ich habe schon mehrfach erwähnt, dass ich die | |
Proteste, die zur Versöhnung und zum Frieden zwischen den Palästinensern | |
und den Israelis aufrufen, die die sofortige Freilassung der Geiseln und | |
einen Waffenstillstand fordern, unterstütze. [1][Aber wenn sich diese | |
Proteste hinter der palästinensischen Sache verstecken und Antisemitismus | |
äußern oder bestimmte Terrorregime wie die Hamas oder die Hisbollah | |
verherrlichen, dann ist es meiner Meinung nach besser, wenn wir darauf | |
verzichten.] | |
Sind Sie mit dem deutschen Diskurs zu diesem Thema in Berührung gekommen? | |
Ich habe mich daran nicht beteiligt. Aber er gleicht dem, was an den | |
US-Universitäten und in anderen westlichen Ländern zu hören ist. Leider ist | |
der Diskurs oft einseitig und fordert nur einen Waffenstillstand, den ich | |
persönlich zwar befürworte, aber diese Verengung auf den Waffenstillstand | |
verschließt die Augen vor dem, was Hamas-Vertreter immer wieder sagen: dass | |
es, selbst wenn es jetzt einen Waffenstillstand gäbe, nur eine Frage der | |
Zeit wäre, bis sie einen neuen Krieg beginnen würden. Ich glaube, dass die | |
Forderung nach einem Waffenstillstand allein, ohne Entwaffnung der Hamas, | |
[2][ohne Sturz der Hamas], ohne sofortige Freilassung der Geiseln, | |
niemandem etwas bringt, weder Palästinensern noch Israelis. | |
Wie sehen Sie die Aussichten für die Palästinenser im Westjordanland | |
angesichts der jüngsten Militäroperationen der IDF dort? | |
Ich habe die Nachrichten verfolgt und bin schockiert, dass die israelische | |
Regierung die Siedlungen im Westjordanland ausbaut und in alle Städte | |
eindringt, die sie eigentlich nicht betreten darf. Wenn die derzeitige | |
israelische Regierung nicht ersetzt wird, [3][wird im Westjordanland etwas | |
passieren.] Man kann nicht erwarten, dass die Menschen dort tatenlos | |
zusehen, wie die israelische Armee jeden Tag kommt, wie die Siedlungen | |
expandieren und die Gewalt der Siedler zunimmt. | |
Würden Sie nach Gaza zurückkehren, wenn es Frieden gäbe? | |
Sofort, ja. Ich mag Deutschland, aber der Sommer hier ist nichts für mich. | |
13 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Konstantin Nowotny | |
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