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# taz.de -- Flüchtlingscamp im Westjordanland: Kein Staat in Sicht
> Israel führt immer häufiger Razzien im Westjordanland durch, Hunderte
> Palästinenser starben bereits. Unterwegs mit einer Ersthelferin.
Bild: Ersthelferin Dalia Hodeidah in den Straßen von Tulkarem. Im Hintergrund …
Tulkarem taz | An diesem Freitagmorgen ist es ruhig im Flüchtlingscamp von
Tulkarem. Die Läden bleiben geschlossen, die Menschen daheim – es herrscht
Generalstreik. In der Nacht zuvor wurden bei einer Razzia des
israelischen Militärs in dem [1][vom Palästinenserhilfswerk UNRWA]
betriebenen Camp im nördlichen Westjordanland drei junge Männer getötet.
Dalia Hodeidah war die ganze Nacht auf. In einer Uniform des
palästinensischen Roten Halbmonds, sorgfältig geschminkt, aber mit müden
Augen sitzt sie auf dem Sofa im Wohnzimmer ihrer Familie. Für den Roten
Halbmond ist sie im Camp als Ersthelferin im Einsatz: wenn sich ein Kind
verletzt oder ein älterer Mensch einen Herzinfarkt erleidet – und wenn die
israelische Armee bei ihren Razzien das gesamte Camp abriegelt und somit
eine medizinische Versorgung außerhalb unmöglich wird.
Auf einem Tischchen hinter Hodeidah steht ein Bild ihres Bruders, im
Hintergrund ein Bild der Al-Aksa-Moschee. „Der Märtyrer Mahmoud Ali
Hodeidah“, ist darauf zu lesen und: „13. November 2023“.
Er sei einer der ersten Märtyrer des Camps gewesen, sagt sie. Vor dem Krieg
habe er als Bauarbeiter in Israel gearbeitet, zu den Terrormilizen Hamas
oder Palästinensischer Islamischer Dschihad, die beide im Camp präsent
sind, habe er nie gehört. Auch vor dem Haus der Familie im Camp hängt sein
Bild. Im Gegensatz zu den vielen Märtyrerplakaten, die hier an den Wänden
die Straßen säumen, ist auf Mahmoud Hodeidahs Bild kein Logo der Milizen zu
sehen.
## Die Milizen zeigen Präsenz
Als ihr Bruder im November starb, war sie – wie auch in der Nacht zuvor –
als Ersthelferin im Camp unterwegs, sagt sie. „Jemand hat mir erzählt, dass
er verletzt wurde“, erinnert sie sich. „Da hatte ich schon das Gefühl, dass
er tot ist.“
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am [2][7. Oktober] nehmen die Razzien
gegen palästinensische Milizen im Westjordanland zu – und fordern immer
mehr Opfer. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums der Palästinensischen
Autonomiebehörde (PA) sind seit dem 7. Oktober 520 Palästinenserinnen und
Palästinenser im Westjordanland ums Leben gekommen, darunter 111
Minderjährige und fünf Frauen. Besonders im Norden des Gebiets – in den
Städten Tulkarem, Nablus und Dschenin – knallt es häufig.
Alle drei Orte liegen im A-Gebiet, einem von drei Gebieten, in die das
Westjordanland unterteilt ist. Während die C-Gebiete, zu denen die
israelischen Siedlungen gehören, alleine von Israel kontrolliert werden,
werden die B-Gebiete von Israel und der PA gemeinsam verwaltet. Die
A-Gebiete sollten alleine von der PA kontrolliert werden – eigentlich.
Denn wer nach Tulkarem oder durch Nablus fährt, merkt schnell: Das Sagen
haben auch hier das israelische Militär – und die Milizen. Einen
palästinensischen Staat, wie ihn etwa Spanien, Irland und Norwegen
anerkennen wollen, der die Kontrolle über das gesamte Territorium des
Westjordanlands und Gaza ausübte, [3][gibt es nicht.]
Die Milizen zeigen offen Präsenz, vor allem in den Flüchtlingscamps der
Gegend, die meist kurz nach 1948 für aus dem heutigen Israel Geflohene und
Vertriebene entstanden sind. Man findet ihre Logos nicht nur auf
Märtyrerplakaten, sondern sieht sie auch am helllichten Tag. In einem Auto,
das durch das Camp Tulkarem fährt, sitzen vier junge Männer, ein
Scharfschützengewehr in der Mittelkonsole, die Kopfbinden der Hamas um die
Nackenstützen der Sitze gebunden. Sie grüßen freundlich.
Die [4][zunehmende Zahl an Razzien des israelischen Militärs] waren ein
Grund für Dalia Hodeidah und die anderen freiwilligen Ersthelfer des
Roten Halbmonds, im Camp eine Erste-Hilfe-Station einzurichten. Um den Raum
zu finden, muss man ihr von ihrem Haus am Rande des Camps tiefer hinein in
die engen Gassen folgen. Die sind teils so schmal, dass kein Auto
hindurchpasst. 30.000 Menschen leben hier.
Hodeidah läuft über eine aufgerissene Straße, vorbei an einem zerstörten
Haus – beides das Ergebnis einer Militärrazzia. Tiefer im Camp sind über
den Straßen zwischen den Häuserfronten Plastikplanen aufgespannt, gehalten
von Schrauben in den Wänden der Gebäude. Sie schützen auch vor der Sonne,
aber in erster Linie vor den Drohnen des israelischen Militärs. Ihr
monotones Surren ist auch über dem Camp zu hören.
Unter den Planen stoßen zwei junge Männer zu Dalia Hodeidah. Einer von
ihnen ist Nimer Fayad. Auch er ist freiwilliger Ersthelfer beim
palästinensischen Roten Halbmond, der andere stellt sich nicht vor. Die
kleine Gruppe läuft an einem Café vorbei. Für einen kurzen Moment ist die
mit Folie verklebte Tür geöffnet. Drinnen sitzen bewaffnete Männer in
dunkler Kleidung. Fayad gibt ihnen rasch ein Zeichen, und die Tür schließt
sich. Auch durch die ebenfalls verklebten Fenster ist kein Blick mehr zu
erhaschen.
Der Notversorgungsraum, den die Freiwilligen eingerichtet haben – mit
Unterstützung der internationalen Organisation Ärzte ohne Grenzen – ist
vollkommen zerstört. [5][Den Boden bedecken Scherben und Plastikflaschen],
in denen einmal Kochsalzlösung war. Kleine Schnitte in das weiche Material
haben sie ihres Inhalts entleert. Das Werk israelischer Soldaten, sagen
Hodeidah und Fayad.
Fayad arbeitete vor dem Krieg als Krankenpfleger in Israel. Gleich nach dem
7. Oktober wurde ihm die Genehmigung dafür entzogen – damit verlor er
seinen Job.
Es gibt eine Menge Checkpoints im Westjordanland. Teils an der Grenze zu
Israel, aber einige liegen auch zwischen den Städten. Viele wurden seit dem
7. Oktober geschlossen – teils wochenlang und immer wieder, ohne Vorwarnung
an die Bevölkerung. Bis heute gibt es etwa in die Stadt Nablus, das Herz
der Region um Tulkarem, nur zwei Zufahrtsmöglichkeiten. Mit fest
installierten orange Metallschranken kann das israelische Militär außerdem
die Wege im Westjordanland ganz einfach blockieren und wieder öffnen.
Nimer Fayad sucht nun nach einer neuen Arbeitsstelle. In Ramallah zu
arbeiten, das könnte er sich vorstellen. Aber es ist nicht so einfach.
Obwohl Ramallah und Tulkarem nur 80 Kilometer voneinander entfernt liegen,
braucht man für die Strecke oft Stunden. Den Blockaden auf den kleinen
Straßen durch die Hügel auszuweichen dauert lang. Ein zusammenhängendes
palästinensisches Staatsgebiet, wo sich dessen Bürger frei bewegen könnten,
gibt es nicht.
Im Camp öffnet schließlich doch ein Imbiss. Er verkauft frische, heiße
Falafel in Pitabroten, Kinder stehen Schlange. Ein junger Mann kauft eine
große Portion Hummus. Drei unschuldige junge Männer seien in der Nacht
getötet worden, sagt er, eine Tragödie. Der Palästinensische Islamische
Dschihad bestätigt später, dass die Männer für die Miliz gekämpft haben.
Über dem Brutzeln des heißen Öls ist das Surren einer Drohne zu hören.
25 May 2024
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## AUTOREN
Lisa Schneider
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