| # taz.de -- Kämpfe im Westjordanland: „Sie gehen wie in Gaza vor“ | |
| > Das israelische Militär geht nach eigenen Angaben im Westjordanland gegen | |
| > „Terrorinfrastruktur“ vor. 40.000 Palästinenser verlieren ihr Zuhause. | |
| Bild: Über eine Piste aus Schlamm: Eine junge Frau eilt durch das Camp Jenin | |
| Dschenin taz | Am Sonntagmorgen hat sich Nazmi Turkman ins geräumte | |
| Flüchtlingslager von Dschenin im Westjordanland geschlichen. Über | |
| Schutthaufen und den Schlamm der von israelischen Bulldozern aufgerissenen | |
| Straßen in eine kaum wiedererkennbare Geisterstadt, in der Armeejeeps | |
| postiert und schwere Baumaschinen am Werk sind. „Ich wollte mein Zuhause | |
| sehen, seinen Geruch riechen“, sagt der Gemüsehändler, der wie Tausende | |
| Bewohner des Camps seit Beginn der israelischen Operation dort vor mehr als | |
| einem Monat vertrieben wurde. „Mein ganzes Leben ist dort, wir konnten nur | |
| unsere Kleidung mitnehmen.“ | |
| Er sei bis auf etwa 50 Meter herangekommen, erzählt der drahtige | |
| 53-Jährige. Dann habe ihm ein israelischer Bulldozer den Weg versperrt. | |
| „Ich konnte sehen, dass alle drei Stockwerke ausgebrannt waren, die Wand im | |
| Erdgeschoss eingedrückt.“ | |
| Am 21. Januar ist die israelische Armee in das rund einen halben | |
| Quadratkilometer große, dicht bebaute Lager eingerückt. Seither wurde die | |
| Operation unter anderem auf die Flüchtlingslager von Tulkarem und Nur | |
| Schams ausgeweitet. Laut UN-Angaben wurden rund 40.000 Menschen vertrieben, | |
| so viele wie seit dem Sechstagekrieg 1967 nicht mehr, als Israel das | |
| Westjordanland besetzte. | |
| Geht es nach Israels Verteidigungsminister Israel Katz, wird Turkman sein | |
| Haus – oder was davon bleibt – so schnell nicht mehr sehen. Die Armee solle | |
| sich „auf einen langen Aufenthalt in den geräumten Lagern vorbereiten, für | |
| das kommende Jahr“, hieß es in einer Erklärung. Die Bewohner sollen „nicht | |
| zurückkehren“. Nach der Explosion dreier Busse in einem Depot nahe Tel Aviv | |
| vergangene Woche rollten am Sonntag erstmals seit der [1][Zweiten Intifada | |
| – dem palästinensischen Volksaufstand] Anfang der 2000er-Jahre – Panzer | |
| nach Dschenin. | |
| ## Bei fünf Grad Außentemparatur, zu fünft in einem Zimmer | |
| Es sind Bilder, die Turkman noch von damals kennt. Er fürchte sie nicht, | |
| sagt er und deutet auf seinen Bauch. Darin stecke noch eine Kugel, die ihn | |
| während der Besatzung und Zerstörung des Flüchtlingslagers 2002 getroffen | |
| habe: „Seit ich damals verletzt auf der Straße lag und die Panzer | |
| Zentimeter vor mir vorbeigefahren sind, habe ich keine Angst mehr.“ | |
| Turkman und seine Familie – Ehefrau, zwei Söhne und drei erwachsene Töchter | |
| – haben Zuflucht im Haus eines Blindenverbands auf der anderen Seite der | |
| Stadt gefunden. Eine Drohne mit Lautsprecher hatte sie kurz nach dem Beginn | |
| der Operation aufgefordert, das Lager zu verlassen. Seinen Cousin im | |
| Rollstuhl hätten sie durch den Schlamm getragen. Nun teilen sich fünf | |
| Männer einen Raum. Bei fünf Grad Außentemperatur sitzen sie um einen | |
| kleinen Heizstrahler. Turkman will trotzdem nach Dschenin zurückkehren: | |
| „Wenn nicht in diesem, dann im nächsten Jahr.“ | |
| Israel gibt an, in den seit der Vertreibung vieler Palästinenser aus dem | |
| heutigen Staatsgebiet Israels im Jahr 1948 bestehenden Camps gegen | |
| bewaffnete Gruppen und „Terrorinfrastruktur“ vorzugehen. Laut der | |
| israelischen Armee habe man bisher etwa 200 Waffen gefunden und | |
| konfisziert. | |
| Die Lager sind seit langem Hochburgen bewaffneter palästinensischer | |
| Milizen, das Vorgehen der Armee zerstört aber auch Straßen, die Wasser- und | |
| Stromversorgung sowie Telekommunikationsleitungen der laut UN-Angaben | |
| 13.000 bis 15.000 Bewohner. Mitunter haben Soldaten ganze Gebäudeblocks | |
| gesprengt, 120 Wohnhäuser sollen laut der lokalen Behörden zerstört sein. | |
| [2][„Sie gehen vor wie in Gaza“], sagt Turkman. | |
| ## Eine 13-Jährige als „verdächtiges Individuum“ | |
| Seit Beginn der Operation wurden mehr als 360 Menschen im Westjordanland | |
| festgenommen und rund 60 getötet, viele von ihnen Zivilisten. Eine von | |
| ihnen war die 13-jährige Rimas al-Amouri. Die Familie wohnt am Rand des | |
| Lagers und war nicht geräumt worden. „Sie ist gegen 16 Uhr zur Türe raus | |
| und wollte zum Haus über die Straße“, erzählt ihr Bruder Samer in der | |
| benachbarten Kleinstadt Burkin, wo die Familie im Haus der Großeltern | |
| trauert. Kurz darauf habe er Schüsse gehört und Rimas auf der Straße vor | |
| dem Haus liegen sehen. Weil die Soldaten weiter schossen, sei es dem | |
| zweiten Bruder Momen erst beim dritten Anlauf gelungen, seine blutende | |
| Schwester zu bergen, erzählt der 20-Jährige. | |
| Der zur Hilfe gerufene Krankenwagen [3][sei wegen der langwierigen | |
| Koordination mit der Armee erst eine halbe Stunde später eingetroffen]. Im | |
| Krankenhaus wurde ihr Tod festgestellt. Die Armee nennt Rimas in ihrer | |
| Stellungnahme ein „verdächtiges Individuum“, das Soldaten am Freitag | |
| identifiziert hätten. Als sie auf Zuruf nicht reagiert habe, hätten | |
| Soldaten auf ihren Bauchbereich gefeuert. Der Vorfall werde untersucht. | |
| „Sie sagen, sie gehen gegen Terroristen vor“, sagt Rimas’ Vater Omar, der | |
| bei der Geheimpolizei der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) arbeitet. | |
| Vor der israelischen Offensive war seine Behörde in Dschenin selbst sechs | |
| Wochen lang gegen bewaffnete palästinensische Gruppen vorgegangen. Seine | |
| Stimme zittert beim Sprechen. „Es wurde kaum mehr gekämpft, schon gar nicht | |
| in unserer Nachbarschaft. Da war nur meine 13-jährige Tochter vor der Türe. | |
| Dafür gibt es keine Entschuldigung.“ | |
| Das israelische Militär hat laut einem Bericht der Zeitung Haaretz unter | |
| Berufung auf Armeequellen seine „Feuer-Befehle“ für die Operation im | |
| Westjordanland gelockert. Laut Soldaten und Kommandeuren soll das | |
| Zentralkommando erlassen haben, dass Soldaten tödliche Schüsse auf jeden | |
| abgeben dürfen, der sich „am Boden zu schaffen macht“. So soll dem Bericht | |
| zufolge verhindert werden, dass Sprengfallen im Boden platziert werden | |
| können. | |
| Mit einer Sondererlaubnis der Armee begrub die Familie Rimas im kleinen | |
| Kreis am Samstag nahe ihrem Haus. Samer zeigt ein Video: Wenige Meter neben | |
| der Trauergemeinde überwachten israelische Soldaten das Begräbnis. | |
| ## Im Krankenhaus hängen Bilder getöteter Kämpfer | |
| Unter Palästinensern wächst angesichts des Vorgehens der Armee die Angst, | |
| Israel könne Teile der seit den Oslo-Abkommen 1993 unter die alleinige | |
| Kontrolle der PA gestellten A-Gebiete des [4][Westjordanlands wieder | |
| dauerhaft kontrollieren]. Diese machen rund 20 Prozent des Westjordanlandes | |
| aus, dort befinden sich die größeren palästinensischen Städte. In den | |
| Gebieten B, wo viele palästinensische Dörfer liegen, und C, wo sich etwa | |
| israelische Siedlungen befinden, obliegt Israel bereits die | |
| Sicherheitskontrolle. | |
| Vor der Zufahrt zum Flüchtlingslager schwanken Krankenwagen über die vom | |
| Winterregen aufgeweichte, schlammige Piste zur Notaufnahme des dort | |
| gelegenen Krankenhauses. Im Eingangsbereich hängen Bilder getöteter Ärzte | |
| neben Postern getöteter Bewaffneter. Drei junge Frauen verlassen die | |
| Notaufnahme in Richtung Camp. Wo genau das von der Armee kontrollierte | |
| Gebiet beginnt, weiß niemand. Wo eventuell Scharfschützen sitzen, ebenfalls | |
| nicht. Doch wenn Katz denke, dass sie ihre Häuser einfach aufgeben würden, | |
| „dann weiß er nicht, was Zuhause bedeutet“, sagt eine. Dann laufen sie | |
| weiter. | |
| Mitarbeit: Abed Qusini | |
| 26 Feb 2025 | |
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| Felix Wellisch | |
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