# taz.de -- Nahost-Konflikt: Regelmäßiger Dialog reicht nicht aus | |
> Die EU mahnt Israel, sieht aber von konkreten Maßnahmen ab. Derweil geht | |
> die Vertreibung im Westjordanland weiter, und die Not in Gaza spitzt sich | |
> zu. | |
Die palästinensischen Gebiete gerieten über den Krieg zwischen Israel und | |
Iran in den Schatten der Weltöffentlichkeit. Gleichzeitig verschlechtert | |
sich die Lage stetig. Im Gazastreifen setzt Israel seine Kampagne der | |
ethnischen Säuberung fort. Nahezu täglich schießen israelische Soldaten auf | |
die Menschen an den [1][Verteilstationen]. Weit über 400 Palästinenser und | |
Palästinenserinnen sollen bislang zu Tode gekommen sein. | |
Kaum 50 Kilometer entfernt riegelte die israelische Armee [2][das | |
Westjordanland] ab und errichtete weitere Kontrollpunkte, die die | |
Bewegungsfreiheit der 3,2 Millionen Palästinenser und Palästinenserinnen in | |
diesem Gebiet massiv einschränken. Hinzu kommen die fortgesetzte | |
systematische [3][Zerstörung ziviler Infrastruktur] in den | |
Flüchtlingslagern und die schleichende Annexion palästinensischer Gebiete. | |
All diese Maßnahmen untergraben den Weg zu einer Zweistaatenlösung. | |
Israel festigt das Apartheidregime in den besetzten Gebieten und macht jede | |
Lösung des Konflikts zur Utopie. Die militärische Aggression im | |
Westjordanland führt zu weiterer Destabilisierung. Die Europäische Union | |
sollte endlich konkrete Maßnahmen gegen die Übergriffe in den | |
palästinensischen Gebieten ergreifen. Die bisherige Haltung der EU, mit | |
Israel in einen Dialog zu treten anstatt Sanktionen zu erwägen, hat nicht | |
dazu geführt, die Brutalität der Besatzung im Westjordanland zu stoppen | |
oder auch nur einzuschränken. | |
Die EU hat zwar die Expansion der Siedlungen und die Vertreibung von | |
Beduinengemeinschaften im besetzten palästinensischen Gebiet ebenso | |
verurteilt wie Forderungen von Koalitionspolitikern, die Moschee auf dem | |
Tempelberg zu zerstören. Konkret kam daraufhin aber nicht mehr als der | |
Vorschlag, einen „regelmäßigen und strukturierten Dialog mit der | |
israelischen Regierung über diese Fragen“ zu führen. Ohne Erfolg. | |
## Sanktionen nur gegen Einzelne | |
Ähnlich lief die Diskussion der Mitgliedsstaaten Anfang 2020 ins Leere, als | |
es darum ging, die Finanzierung der Europäischen Nachbarschaftsinitiative | |
für Israel zu überdenken, die Handelsvereinbarungen zu überprüfen und das | |
Assoziierungsabkommen als Reaktion auf die israelischen Schritte zur | |
Annexion von Teilen des Westjordanlandes auszusetzen. | |
Letzthin rechtfertigte der [4][EU-Assoziationsrat ein Treffen mit Israel] | |
damit, es sei eine Gelegenheit, die Beziehungen zu überprüfen und die | |
Notwendigkeit eines Waffenstillstands im Gazastreifen und eines | |
ungehinderten Zugangs für humanitäre Hilfe zu bekräftigen. Man wolle den | |
Dialog aufrechterhalten und kein Tribunal für Israel abzuhalten, verlautete | |
von Delegierten. Nur wenige Wochen später nahm Israel seine | |
Zerstörungskampagne im Gazastreifen wieder auf und blockierte fast drei | |
Monate lang die [5][Lieferung humanitärer Hilfe]. | |
Im Westjordanland hat die israelische Regierung unterdessen die Annexion | |
von Gebieten weiter vorangetrieben und ihre Vision der „[6][jüdischen | |
Vorherrschaft]“ über die Palästinenser zementiert. Die EU hat im März | |
dieses Jahres erneut umfassende wirtschaftliche Maßnahmen gegen Israel ins | |
Gespräch gebracht, als sie erklärte, sie werde ihr Assoziierungsabkommen | |
überprüfen und möglicherweise europäischen Unternehmen die Tätigkeit im | |
israelisch besetzten Westjordanland untersagen. | |
Übrig geblieben sind Sanktionen gegen eine Handvoll Einzelpersonen und | |
Einrichtungen der Siedlerbewegung. Die israelischen Streitkräfte sind | |
dabei, die Architektur des Westjordanlandes aktiv umzugestalten. Mit der im | |
Januar begonnenen [7][Operation „Eiserne Mauer]“ wird die Räumung von | |
Flüchtlingslagern erzwungen, in denen bewaffnete palästinensische Gruppen | |
untergebracht sind. Mindestens 40.000 Menschen sind vertrieben worden. | |
## Vertreibung aus „Groß-Israel“ | |
Israels Armee geht mit einem präzedenzlosen Ausmaß von Brutalität im | |
Westjordanland vor, bombardiert aus der Luft und setzt Drohnen zum Angriff | |
ein. Offizielle Begründung ist die Verfolgung palästinensischer Milizen. | |
Tatsächlich treibt die Operation einen größeren Plan der israelischen | |
Extremisten voran. Die Hardliner in der Regierung wollen die israelische | |
Kontrolle festigen und die Palästinenser verdrängen, um ein „Groß-Israel“ | |
zu schaffen. | |
Die Sorge der Palästinenser im Westjordanland wächst, dass Israel | |
rechtsextreme Drohungen wahr machen und sie in die Nachbarländer | |
zwangsumsiedeln könnte, was, wie jordanische Beamte gewarnt haben, ein | |
existenzielles Risiko für die Stabilität ihres Landes wäre und als | |
„Kriegshandlung“ angesehen werden würde. Die Vertreibung wird zudem durch | |
die israelischen Gesetzesreformen vorangetrieben, um Landenteignungen in | |
den noch besetzten Gebieten zu erleichtern. | |
Von den Maßnahmen ist auch die palästinensische Gemeinschaft in | |
Ostjerusalem betroffen. Im Mai wurde der umstrittene [8][„E1“-Plan] zum Bau | |
von 3.412 Wohneinheiten für israelische Siedler wieder aufgegriffen. Die EU | |
lehnt den Bau ab, der den Ring von [9][Siedlungen rund um Jerusalem] | |
perfekt machen und so die palästinensische Bevölkerung in Ostjerusalem vom | |
Westjordanland abschneiden würde. Zudem bedeutet der Bau die Vertreibung | |
der dort lebenden Beduinen. | |
Die Pläne für das E1-Gebiet sind gut 30 Jahre alt, wurden aufgrund von | |
internationalem Protest aber immer wieder auf Eis gelegt. Ebenfalls im Mai | |
genehmigte Israel den Bau von nicht weniger als 22 neuen Siedlungen, | |
einschließlich der Anerkennung bestehender informeller und auch aus | |
israelischer Sicht bislang illegaler Siedlungen. Die Zukunft für die | |
Palästinenser im Westjordanland sieht düster aus. | |
## Keine einheitliche Haltung in der EU | |
Die Zerstückelung, Schrumpfung und Isolierung der palästinensischen Gebiete | |
und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen werden die Fähigkeit | |
der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), das begrenzte Gebiet, das sie | |
angeblich kontrolliert, zu verwalten, stark beeinträchtigen. Seit Jahren | |
befindet sich die PA in einer hartnäckigen Finanzkrise. | |
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas genießt in den Augen der Palästinenser | |
kaum noch Legitimität. | |
Da die Palästinenser durch die israelische Gewalt – angetrieben durch das | |
Projekt Groß-Israel – zunehmend brutalisiert werden und sich die | |
Bedingungen ihres täglichen Lebens verschlechtern, kann nicht | |
ausgeschlossen werden, dass sie früher oder später nach neuen Formen des | |
bewaffneten Widerstands suchen. Auf der Tagung des Rates „Auswärtige | |
Angelegenheiten“ am [10][23. Juni konnten sich die Mitgliedsstaaten der EU | |
wieder nicht einigen]. Das Assoziierungsabkommen hat weiterhin Bestand. | |
Letztendlich wird auch die jüngste Konfrontation zwischen Israel und Iran | |
dazu beitragen, von Maßnahmen gegen die israelische Politik im | |
Westjordanland und vor allem gegen das militärische Vorgehen der Armee im | |
Gazastreifen vorläufig abzusehen. Dies wäre jedoch ein Fehler. Die | |
besetzten palästinensischen Gebiete sind seit langem ein regionaler | |
Krisenherd, insbesondere in den letzten 20 Monaten. | |
Wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs sich ernsthaft mit der | |
eskalierenden Unsicherheit auseinandersetzen und ihre politische | |
Glaubwürdigkeit in der Region bewahren wollen, müssen sie Israel in | |
irgendeiner Form zur Rechenschaft ziehen für Handlungen, die eindeutig | |
gegen die eigenen Menschenrechtsstandards und die seit langem bestehenden | |
roten Linien der EU verstoßen. | |
## Handelsstopp mit Siedlungsbetrieben | |
Die Mitgliedsstaaten müssen Maßnahmen ergreifen, um Druck auf Israel | |
auszuüben, damit nicht nur die brutalen Angriffe und die Beschränkungen für | |
die Lieferung von Hilfsgütern in den Gazastreifen enden. Auch das brutale | |
Vorgehen des Militärs im Westjordanland muss aufhören, um die drohende | |
Massenvertreibung der palästinensischen Bevölkerung zu verhindern. | |
Der diplomatische Druck, der von der [11][Anerkennung eines | |
palästinensischen Staates] durch Norwegen, Irland, Spanien und später | |
Slowenien ausging, blieb leider genauso unwirksam, um Israel diplomatisch | |
unter Druck zu setzen, wie frühere Anerkennungen durch europäische Staaten. | |
Um zu verhindern, dass Israel die territoriale Grundlage eines künftigen | |
Staates Palästina untergräbt, sind substanziellere Maßnahmen erforderlich. | |
Mangelnde Einstimmigkeit in der EU aufgrund der anhaltenden Unterstützung | |
Israels durch Länder wie Ungarn bedeutet, dass eine vollständige Aussetzung | |
des Assoziierungsabkommens unwahrscheinlich ist. Eine qualifizierte | |
Mehrheit der Mitgliedstaaten könnte jedoch immer noch Teile des Abkommens | |
aussetzen, die sich auf präferenzielle Handelszölle und den Zugang Israels | |
zu Programmen wie Horizon Europe beziehen. Dies würde dazu beitragen, | |
Israel wegen seines Vorgehens im Gazastreifen und im Westjordanland einen | |
Preis aufzuerlegen. | |
Es kann auch mehr getan werden, um gegen das Siedlungsprojekt Israels | |
vorzugehen, das im Westjordanland schon lange im Gange ist und aktuell | |
sogar für den Gazastreifen erneut relevant zu werden scheint. Ein | |
Handelsverbot mit jüdischen Betrieben im Westjordanland und ein Verbot von | |
Investitionen in Siedlungen sind Maßnahmen, die auch mit qualifizierter | |
Mehrheit umgesetzt werden könnten. Möglich wäre zudem die Ausweitung | |
bestehender Sanktionen auf israelische Einrichtungen wie die Siedlungsräte. | |
Wenn die EU Schritte unternimmt, um israelische Verstöße gegen | |
internationale Normen einzudämmen, könnte das Staatenbündnis auch endlich | |
beginnen, seine Ambitionen als geopolitischer Akteur zu verwirklichen, der | |
in der Lage ist, einen wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf der | |
Weltbühne geltend zu machen. Anstatt Israel immer wieder zu ermöglichen, | |
die roten Linien der EU zu überschreiten, ohne dass Konsequenzen zu | |
fürchten sind, sollten die Mitgliedsstaaten dagegen vorgehen, um die | |
regionale Stabilität zu festigen und eine Zweistaatenlösung zu | |
unterstützen. | |
6 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Verteilungszentren-in-Gaza/!6088611 | |
[2] https://www.aljazeera.com/features/2025/6/15/why-has-israel-put-west-bank-u… | |
[3] /Vorfall-im-Westjordanland/!6086184 | |
[4] /Assoziationsrat-EU-Israel/!6071241 | |
[5] /Humanitaere-Lage-in-Gaza/!5996322 | |
[6] https://www.haaretz.com/opinion/2025-05-09/ty-article-opinion/.premium/smot… | |
[7] https://www.haaretz.com/israel-news/2025-01-30/ty-article-magazine/.premium… | |
[8] /Israelische-Siedlungstrategie/!5077951 | |
[9] https://www.middleeasteye.net/news/israel-advance-e1-settlement-project-wou… | |
[10] https://www.spiegel.de/ausland/israel-eu-verzichtet-auf-aussetzung-von-ass… | |
[11] /Anerkennung-Palaestinas/!6009153 | |
## AUTOREN | |
Tahani Mustafa | |
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