Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- SPD Berlin vor dem Parteitag: Beziehungsstatus: kompliziert
> Nach der Dauerkrise herrscht in der Hauptstadt-SPD eine Art Burgfrieden.
> Die CDU lästert, der Koalitionspartner habe nun gleich mehrere
> Machtzentren.
Bild: Suchbild mit Saleh: Die neuen SPD-Chef:innen Böcker-Giannini und Hikel m…
Berlin taz | Raed Saleh will nicht zurückschauen. „Nach jedem Tal kommt ein
Berg“, sagt der SPD-Fraktionschef an einem grauen Herbsttag in seinem
riesigen Arbeitszimmer im dritten Stock des Abgeordnetenhauses. Eine weiße
Ledersitzecke, ein leerer Besprechungstisch, ein penibel aufgeräumter
Schreibtisch. [1][Saleh steht seit Ende 2011 an der Spitze seiner
Fraktion.] Das ist sein Reich. Er sagt: „Hier im Parlament spielt die
Musik.“ Und dass er seinen Job „leidenschaftlich gern“ mache, „weil ich
sehr viel an sozialdemokratischen Inhalten umsetzen kann“.
Saleh betont häufig, worauf er alles stolz ist – um dann zu betonen, dass
er das Wort „stolz“ nicht häufig benutze. Stolz ist er vor allem auf die
von „seiner“ SPD vor Jahren durchgesetzten kostenlosen Angebote im Kita-
und Schulbereich, die er [2][in der jüngsten 3-Milliarden-Sparrunde der
schwarz-roten Koalition] gegen alle Widerstände verteidigt habe.
Und stolz ist er auch auf die „vielen Beschlüsse im Mietenbereich“ oder die
Einigung mit der CDU auf das Wahlalter 16. „Wir haben fünf Ressorts, in
denen wir gestalten können, und eine Fraktion, die als Regierungsfraktion
dazu beiträgt, dass gute Gesetze beschlossen werden.“ Hört man Saleh zu,
gewinnt man das Gefühl: Da sitzt einer, der ist rundum zufrieden damit, wie
es ist.
Zur Erinnerung: Es ist nur ein halbes Jahr her, da hieß es in seiner
eigenen Partei, Saleh müsse nach über 12 Jahren im Amt endlich abtreten.
Der Mann sei Geschichte, das „System Saleh“ am Ende. Vorausgegangen war
Salehs verlorener Kampf um die Parteispitze gegen zwei konkurrierende Duos.
## Die Basis sah es anders
2020 war der Spandauer auch noch Vorsitzender des SPD-Landesverbands neben
Franziska Giffey geworden – und meinte, das unbedingt bleiben zu müssen.
Die SPD-Basis sah das etwas anders. Am Ende sprachen sich bei einer
Mitgliederbefragung nur 1.300 der gut 18.000 Berliner
Sozialdemokrat:innen dafür aus, dass Saleh im Amt bleibt.
Sowohl der Regierenden Bürgermeisterin und nachmaligen Wirtschaftssenatorin
Giffey als auch Saleh wurde das schlechte Abschneiden der SPD bei der
Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus 2023 angelastet. Intern dominierten
erbitterte Grabenkämpfe zwischen Parteilinken und -rechten und dem Lager um
Saleh, das dazwischen lavierte. Kurzum: Die Stimmung war mies.
Giffey hatte dann auch von sich aus erklärt, beim Parteitag im Mai dieses
Jahres nicht mehr als Landeschefin anzutreten. Für Saleh kam das nicht
infrage – mit dem bekannten Ergebnis. „Er hatte einfach Angst, Macht
abgeben zu müssen“, sagt ein Saleh-Kritiker.
Das Rennen um den Parteivorsitz machten letztlich [3][Neuköllns
Bezirksbürgermeister Martin Hikel und die Berliner Ex-Sportstaatssekretärin
Nicola Böcker-Giannini], die dem rechten Flügel zugerechnet werden. Saleh
dagegen taumelte, seine Zukunft an der Spitze der SPD-Fraktion wurde nun
gleich mit zur Disposition gestellt. So erklärte Hikel, angesichts des
Votums der Parteimitglieder würden ja auch die Abgeordneten „nicht
ignorieren, dass es [4][den Willen zu einem Neustart] gibt“.
## Showdown auf offener Bühne
Allein, eine klare Mehrheit der SPD-Abgeordneten im Landesparlament
ignorierte sehr wohl. In einer Kampfabstimmung um den Fraktionsvorsitz
setzte sich Saleh mit 25 zu 8 Stimmen gegen den von seinen linken
Kritiker:innen aufgestellten Kandidaten Matthias Kollatz durch. „Ich
bin sehr stolz auf meine Fraktion, eine sehr starke Fraktion“, [5][sagte
Saleh nach der Entscheidung].
Seit diesem Showdown auf offener Bühne herrscht in der Landes-SPD eine Art
Burgfrieden zwischen Linken, Rechten und Saleh-Vertrauten. Auch Martin
Hikel, der im Mai in einem Interview zur Empörung des folgenden Parteitags
festgestellt hatte, die Partei sei „inhaltlich ziemlich tot“, gibt sich
heute moderater im Ton. Er glaube, „dass einige Formulierungen von damals
falsch verstanden wurden“, sagt Hikel. „Die Aussage bezog sich nicht auf
fehlende Inhalte, sondern auf die Beliebigkeit einiger Inhalte aufgrund
mangelnder Orientierung.“
Auffällig ist: Der nach der Wahl von Hikel und Böcker-Giannini
[6][vorhergesagte „Rechtsruck“ der SPD] ist bislang ausgeblieben. Etliche
Beschlüsse des neuen Landesvorstands, etwa zur Haushalts- und
Migrationspolitik, tragen eine dezidiert „linke“ Handschrift. Hikel und
Böcker-Giannini selbst lehnen die Etikettierung als „rechts“ ab. Also alles
nur ein Missverständnis?
„Die Frage zeigt doch sehr gut, wie sehr dieses Schema bereits aus der Zeit
gefallen ist“, sagt Nicola Böcker-Giannini zur Rechts-links-Debatte. Ihr
und Martin Hikel sei es ein Anliegen, „eine sozialdemokratische Politik zu
machen, die die Mitte der Gesellschaft adressiert“. Schließlich stehe
Berlin vor besonderen Herausforderungen, die es zu lösen gelte. „Und die
Berlinerinnen und Berliner erwarten darauf zu Recht Antworten, die in der
Realität des Alltags funktionieren.“
## Debatte ums Gratis-Mittagessen
Ganz so einfach ist es nicht. Denn selbstverständlich gibt es weiter die
Parteilinken und die Vertrauten von Fraktionschef Saleh – und beide
zusammen stellen die Mehrheit im geschäftsführenden Landesvorstand.
Exemplarisch zu beobachten war das Ungleichgewicht bei dem von den neuen
Parteivorsitzenden gestarteten [7][Großangriff auf das Gratis-Mittagessen
für alle Grundschüler:innen], ein Projekt, das sowohl Saleh als auch
das linke Lager verteidigen. Der Vorstand kassierte den Vorstoß der
Chef:innen im Sommer dann auch umgehend wieder ein.
Nicht anders sieht es bei den Vertreter:innen der SPD in der
Landesregierung aus. Auch hier ist das Rechts-links-Schema keineswegs „aus
der Zeit gefallen“. So gilt etwa Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe als
Parteilinke, Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey als Rechte. Der
Beziehungsstatus der beiden sei kompliziert, wird kolportiert.
Beim Koalitionspartner CDU wird auch deshalb immer wieder gelästert, dass
man nicht genau wisse, wer denn nun eigentlich die SPD führt. Dass es
mindestens drei Machtzentren in der Partei gebe: erstens den
selbstbewussten Fraktionschef Saleh und seinen engsten Vertrauten, den
Haushaltspolitiker Torsten Schneider, zweitens die Senator:innen, die sich
gegenseitig das Leben schwer machten, und schließlich drittens die
„pragmatischen“ Landesvorsitzenden Hikel und Böcker-Giannini, die
ungünstigerweise von „Linken“ eingerahmt seien. In genau dieser
Reihenfolge: Fraktion, Senat, Partei.
Hikel und Böcker-Giannini geben sich davon nach außen herzlich
unbeeindruckt. „In der SPD haben wir viele starke Stimmen und Köpfe für die
Themen und Inhalte der Berliner Sozialdemokratie – darauf sind wir stolz“,
sagt Böcker-Giannini. Eine „breite Aufstellung der
Verantwortungsträger:innen innerhalb der SPD Berlin“ sei „daher eine
unserer großen Stärken – an der Spitze der Partei, in der Fraktionsführung
und im Senat“. So kann man es auch formulieren.
## Saleh hat in Berlin „noch eine Menge vor“
Die neuen Landesvorsitzenden sind bemüht, den rechten und den linken Flügel
per Sacharbeit zusammenzubringen. Auch der von Hikel und Böcker-Giannini
[8][im September gestartete parteiinterne „Zukunftsprozess Berlin 2035“]
muss in diesem Zusammenhang gesehen werden: Bis Mitte kommenden Jahres
sollen sich Parteimitglieder und Vertreter:innen der Stadtgesellschaft
in sechs „Zukunftswerkstätten“ zu bestimmten Schwerpunkten einbringen. Die
Ergebnisse der Diskussionen sollen dann teilweise in das Programm für die
Abgeordnetenhauswahl 2026 einfließen.
Hikel sagt: „In unserer Partei und den rund 18.000 Mitgliedern stecken jede
Menge Ideen und Expertise – die wollen wir nutzen und so gemeinsam ein
Konzept entwickelt.“ Es gehe darum, „offen und ohne Denkverbote in diesen
Prozess zu gehen“ und dabei alle einzubinden.
Der Ansatz kommt nach dem vorangegangenen Top-down-Politikansatz von Giffey
und Saleh gut an in der Partei. „Natürlich ist der Prozess Berlin 2035 vor
allem eine Reaktion darauf, was wir für ein Bild abgeben. Der inhaltliche
Ansatz von Raed Saleh mit der gebührenfreien Bildung hat bei den Wählern
ebenso wenig gezogen wie Franziska Giffey als Person. Daher ist der
Strategieprozess erst mal gut“, sagt ein Kritiker der Parteichef:innen
vom linken Parteiflügel. Die Frage sei, was daraus folge. Bestimmen zuletzt
doch Hikel und Böcker-Giannini, welche der vielen Ideen passend gemacht und
zu den neuen „Leitlinien“ der Partei erklärt werden? Ausgang offen.
Wenn sich die Berliner SPD an diesem Samstag zum Parteitag trifft – dem
ersten seit der Wahl der neuen Landesvorsitzenden –, soll es vornehmlich um
andere Dinge gehen. Die Parteitagschoreografie will sich aus gegebenem
Anlass auf den Bundestagswahlkampf konzentrieren, auf die innerparteilich
wenig umstrittenen Themen Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Motto: Bloß
keine Konflikte.
Raed Saleh wird da sein. Selbstverständlich. „Ich bringe mich natürlich
überall ein, was meine Partei betrifft“, sagt er. Nach seiner Niederlage um
den Parteivorsitz hielt sich kurz das Gerücht, er liebäugele damit, in die
Bundespolitik zu wechseln. Saleh dementierte. Und er dementiert auch jetzt,
wo sich angesichts der Neuwahlen die Frage ganz konkret stellt: „Eine
Kandidatur für den Bundestag schließe ich aus. Mein Platz ist klar in
Berlin. Ich habe in Berlin noch eine Menge vor.“ Manche in der Partei
begreifen das vermutlich als Drohung.
21 Nov 2024
## LINKS
[1] /Berlins-SPD-Chef-Saleh/!5985138
[2] /Sparhaushalt-von-CDU-und-SPD-in-Berlin/!6047224
[3] /Neue-Doppelspitze-der-Berliner-SPD/!6012676
[4] /Machtkampf-in-der-SPD-Berlin/!6003288
[5] /Berliner-SPD-Fraktionschef/!6012220
[6] /Neue-Landesvorsitzende-der-Berliner-SPD/!6008924
[7] /Debatte-um-kostenloses-Schulmittagessen/!6025295
[8] /Neuausrichtung-der-Berliner-SPD/!6039403
## AUTOREN
Rainer Rutz
## TAGS
Schwarz-rote Koalition in Berlin
SPD Berlin
Raed Saleh
SPD-Parteitag
Franziska Giffey
Raed Saleh
Schwarz-rote Koalition in Berlin
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
SPD Berlin
Focus
SPD Berlin
Schwarz-rote Koalition in Berlin
SPD
## ARTIKEL ZUM THEMA
SPD Berlin in der Krise: Testballon-Fahrten mit Raed Saleh
Die Berliner SPD-Führung will von Spekulationen um die Spitzenkandidatur
für die Wahl 2026 nichts wissen. Dabei ist die Diskussion längst entbrannt.
SPD in der Krise: Vorwärts – und nicht vergessen
Berlins SPD-Spitze startet PR-Kampagne für den Prozess der
Parteierneuerung. Der Gesamtkurs stößt bei linken Genoss:innen auf
wachsenden Unmut.
Bundestagswahlkampf der SPD Berlin: Rolf Mützenich ist müde
Beim Stimmenfang für die Bundestagswahl setzt die Berliner SPD in Spandau
auf Promiunterstützung. Der hiesige Direktkandidat ist ein schweigsamer
Typ.
Bundestagswahlkampf der SPD Berlin: Michael Müller soll aufs Abstellgleis gesc…
Für Berlins Ex-Regierenden wird die Luft dünn: Die SPD-Parteilinke will die
sicheren Listenplätze für die Wahl komplett mit ihren Leuten besetzen.
Parteitag der SPD Berlin: Die Macht der Männer
Berlins SPD vertagt die Entscheidung, ob eine Frau die Landesliste zur Wahl
anführen soll. Auch sonst ist die Stimmung auf dem Parteitag eher mäßig.
Falschmeldung bei Focus Online: Fiese Frauen mit Schürhaken gegen Merz
„Focus Online“ hat fälschlich berichtet, die SPD plane eine Kampagne mit
Frauen, die Angst vor Merz haben. Das bringt vor allem Frauen in
Misskredit.
Neuausrichtung der Berliner SPD: Vorläufig unbestimmt
Berlins SPD startet ihren parteiinternen „Zukunftsprozess“. Die neue
Doppelspitze sagt, sie wolle erst mal hören, was die Mitglieder sich
wünschen.
Raed Saleh und die Vergesellschaftung: Plötzlich Kommunist
SPD-Fraktionschef Saleh fordert vom Senat mehr Tempo beim Rahmengesetz zur
Vergesellschaftung. Die Reaktionen auf den Vorstoß fallen sarkastisch aus.
Neue Doppelspitze der Berliner SPD: Ins Ziel geschleppt
Die Hauptstadt-SPD wählt die Parteirechten Martin Hikel und Nicola
Böcker-Giannini mit magerer Zustimmung zu ihren neuen Landesvorsitzenden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.