Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buch „Das Echo der Zeit“: Ein Chor aus Cowboys singt das Schma …
> In „Das Echo der Zeit“ erzählt Jeremy Eichler fesselnd über
> musikalisch-politische Verstrickungen in der ersten Hälfte des 20.
> Jahrhunderts in Europa.
Bild: Die zerstörte Kathedrale von Coventry 1940
Was sagt uns die Musik von gestern? Wie ist ihre Entstehungszeit in sie
eingeschrieben, wie hat sie auf große gesellschaftliche Katastrophen
reagiert? Können wir nachempfinden, wie sie in den Ohren des Publikums
geklungen haben mag, das ihrer Uraufführung beiwohnte?
Jeremy Eichler erzählt in „Das Echo der Zeit“ unter anderem eindringlich
von Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“, einem nur
siebenminütigen, in Zwölftontechnik komponierten Stück für Sprecher,
Orchester und Männerchor von 1947. Schönberg, frühzeitig in die USA
emigriert, hatte schon in den frühen dreißiger Jahren mit großer Klarheit
begriffen, [1][was der jüdischen Bevölkerung Europas drohte.] Nach dem
Krieg war er der Erste, der sich traute, vom Grauen der Shoah mit
musikalischen Mitteln zu erzählen.
Da der eigentliche Auftraggeber des Werkes zögerte, es aufzuführen,
übertrug der Komponist die Uraufführungsrechte an ein kleines
Amateurorchester in Albuquerque, das von einem Wiener Exilanten geleitet
wurde. Und so erlebte „A Survivor from Warsaw“, schreibt Eichler, am 4.
November 1948 „eine der seltsamsten Premieren der Musikgeschichte“, „mit
einem Chor aus Cowboys“.
Das Publikum in New Mexico feierte das Werk frenetisch, berührt von dem
Gefühl, dass die dissonanten Tonwelten eines Komponisten, mit dessen
radikaler Modernität man sonst oft Schwierigkeiten hatte, in diesem Fall
„dem Wesen des Textes merkwürdig angemessen“ waren, wie es im begleitenden
Programmheft hieß.
## In Zeiten von Krieg und Verfolgung
Wie das Publikum bei der Uraufführung in Deutschland reagierte, die 1950
erfolgte, schreibt Eichler nicht, weiß aber zu berichten, dass viele
Mitwirkende das Werk für geschmacklos oder gar für „Unrat“ hielten. Und
dabei war die Erwähnung von Gaskammern für diese Aufführung sogar aus dem
Text gestrichen worden.
„A Survivor from Warsaw“ steht gewissermaßen im Zentrum von „Das Echo der
Zeit“: Zum einen findet sich diese Werkgeschichte etwa in der Mitte des
Buches, zudem widmet der Autor sich ihr mit großer Ausführlichkeit. Und vor
allem bündelt sich hier mit besonderer Deutlichkeit eine Reihe von Fragen,
die Eichler immer wieder aufnimmt: zuvorderst jene, was es bedeute, nach
Auschwitz Musik zu schreiben.
Jeremy Eichler, Musikkritiker beim Boston Globe und promoviert in
europäischer Geschichte, hat mit „Das Echo der Zeit“ ein fundiert
recherchiertes, stilistisch brillantes Buch geschrieben, das beide
Fachdisziplinen aufs Beste vereint und dessen Lektüre in der deutschen
Übersetzung von Dieter Fuchs nicht nur lehrreich, sondern auch ein
ästhetischer Genuss ist. Exemplarisch zeichnet Eichler Lebenswege
europäischer MusikerInnen in Zeiten von [2][Krieg und Verfolgung im 20.
Jahrhundert] nach und stellt ihr Handeln und kreatives Schaffen in den
politischen Kontext der Zeit.
Dazu reist er auch, wenn möglich, dorthin, wo die Künstler einst gelebt
haben, oder geht an historischen Orten den unsichtbaren Spuren
erschütternder historischer Ereignisse nach. In Garmisch-Partenkirchen
besucht er die Villa von Richard Strauss, in der immer noch zu sehen ist,
an welcher Stelle der Komponist auf dem Schreibtisch seinen Arm abzulegen
pflegte. In Coventry besichtigt er die von deutschen Bomben zerstörte
Kathedrale, deren Ruine neben dem Neubau steht, der 1962 mit der
Uraufführung von Benjamin Brittens „War Requiem“ eingeweiht wurde.
## Mit Musik gegen deutsche Soldaten
In Kiew streift Eichler durch jenes Gelände, das einst die Schlucht Babyn
Jar war, in der am 30. September 1941 [3][über 33.000 jüdische Menschen
ermordet wurden], und die später zugeschüttet wurde. Als der noch junge
Jewgenij Jewtuschenko Anfang der sechziger Jahre das Gebiet besuchte, war
er so erschüttert von der Tatsache, dass es dort nicht einmal ein Denkmal
für die vielen Ermordeten gab, dass er ein Gedicht darüber schrieb.
Sein „Babij Jar“ wurde zur Grundlage für [4][Dmitrij Schostakowitschs] 13.
Symphonie. Beide, Dichter und Komponist, stellten sich mit diesem Werk
[5][der sowjetischen Erinnerungskultur] an den „Großen Vaterländischen
Krieg“ entgegen, die von einem spezifisch jüdischen Leid nichts wissen
wollte.
Schostakowitsch, der in vielen seiner Werke sehr direkt auf politische
Ereignisse reagierte, war trotz seines Ruhms zeitlebens in prekärer Lage;
stets in Gefahr, vom stalinistischen Regime entweder vereinnahmt oder
verfemt zu werden. Zugute kam ihm wohl bis zuletzt, dass er mit seiner
siebten, der „Leningrader“ Symphonie ein Werk geschaffen hatte, das während
der Blockade Leningrads sogar als Verteidigungswaffe eingesetzt wurde.
Bei der Uraufführung wurden, schreibt Eichler, „in Richtung der deutschen
Truppen Lautsprecher aufgestellt“, und zitiert einstige deutsche Soldaten:
„Als sie gehört hätten, wie aus einer verhungernden Stadt Musik einer
solchen Entschlossenheit kam, sei ihnen klargeworden, dass dies ein Krieg
war, den sie nicht gewinnen konnten.“
## Trauma der Weltkriege
Schostakowitsch war mit Benjamin Britten befreundet, dessen „War Requiem“
er als „genialstes Werk des zwanzigsten Jahrhunderts“ bezeichnet haben
soll. An diesem Schlüsselwerk zeigt Eichler, dass auch die britische
Erinnerungskultur nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst kein Gedenken an die
Shoah mit einschloss.
[6][In Großbritannien wirkte] das Trauma des Ersten Weltkriegs auch nach
dem Zweiten noch so sehr nach, dass sowohl die offizielle Gedenkkultur als
auch das „War Requiem“ sich in erster Linie auf ein allgemeines
pazifistisches Grundgefühl bezogen. Britten selbst war in dieser Haltung so
konsequent, dass er während des Zweiten Weltkriegs den Dienst an der Waffe
verweigerte.
Direkt nach dem Krieg aber unternahm er gemeinsam mit Yehudi Menuhin eine
Konzerttournee durch Deutschland, um vor Überlebenden in den Lagern zu
spielen. Jeremy Eichler interpretiert dieses Engagement mit gebotener
Vorsicht als mögliches Zeichen einer Art Wiedergutmachung für Brittens
Nichtbeteiligung am Kampf gegen den Faschismus.
Generell ist Eichler merklich bestrebt, Fragen der persönlichen politischen
Verantwortung mit größtmöglicher Differenziertheit zu behandeln. Sogar im
Fall des in den dreißiger Jahren sehr ambivalent agierenden [7][Richard
Strauss, der sich anfänglich von den Nazis vereinnahmen] ließ, lässt der
Autor Verständnis für diesen Opportunismus durchklingen. Strauss hatte
jüdische Familienangehörige, die er mit seinem Namen schützen zu können
glaubte.
Die Tatsache, dass die deutsche Kulturgeschichte ohne ihre jüdischen
Protagonisten nicht zu denken ist, bildet einen unaufdringlichen
inhaltlichen Rahmen um diese fesselnde Erzählung über
musikalisch-politische Verstrickungen in der ersten Hälfte des europäischen
20. Jahrhunderts.
Nicht zufällig endet Eichlers Reise durch die kontextualisierte
Musikgeschichte am Leipziger Denkmal für Felix Mendelssohn Bartholdy:
einer originalgetreuen Kopie der monumentalen Statue, die 1938 von den
Nazis zerstört wurde. Dieses neue Denkmal, 2008 eingeweiht, steht nun aber
nicht mehr, wie das Original, vor dem Gewandhaus, sondern etwas versteckt
in einer kleinen Grünanlage.
31 Oct 2024
## LINKS
[1] /125-Jahre-Wiener-Volksoper/!5981652
[2] /Konzert-wuerdigt-Mieczysaw-Weinberg/!6004570
[3] /Gedichte-von-Marianna-Kijanowska/!6028923
[4] /Cellistin-ueber-Dmitri-Schostakowitsch/!5671139
[5] /Konzeptalbum-ueber-Putin/!5993055
[6] /Musical-Cable-Street-in-London/!5995768
[7] /Richard-Strauss-auf-allen-Buehnen/!5987013
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
wochentaz
Politisches Buch
Musikgeschichte
Musik
Weltkrieg
Judenverfolgung
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
Theater
Städtebaupolitik
Richard Strauss
## ARTIKEL ZUM THEMA
Buch über jüdische Komponisten im Exil: Von nun an nur noch Filmmusik
Flucht und erzwungene Selbstreflexion: Michael Haas blickt in seinem Buch
„Die Musik der Fremde“ auf Schicksale jüdischer Komponisten im Exil.
Bürgerchor in Dresden: Ungehörte Menetekel
Vor 20 Jahren wurde Volker Löschs Inszenierung der Dresdner „Weber“
verboten. Ein Buch erinnert an dessen Bürgerchor, der die Wutbürgerbewegung
vorausahnte.
Essay von Sebastian Moll: Die NS-Geschichte wegbetonieren
Sebastian Moll liefert mit seinem Essay „Das Würfelhaus“ einen
psychogeografischen Abriss über den Städtebau von Frankfurt am Main.
Richard Strauss auf allen Bühnen: Dem Faschismus angeschmiegt
Richard Strauss' Opern stehen 2024 auf fast allen Spielplänen. Dabei
bestand seine Kunst darin, sich mit faschistischen Machthabern zu
arrangieren.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.