# taz.de -- Konzeptalbum über Putin: Vladimir, der Schlächter | |
> Ein britisches Musikerduo bringt auf seinem Debütalbum düstere russische | |
> Gewaltgeschichte in Einklang mit der Atmosphäre seiner Wahlheimat Berlin. | |
Bild: Ausschnitt des Albumcovers von The Tsar | |
Im Berliner Funkhaus an der Nalepastraße tröpfeln Töne aus einem Klavier. | |
Tief und verstörend zuerst, dann hoch und einsam. In diese belebte Stille | |
in dem geisterhaften alten DDR-Gebäude flechten sich entschleunigt perlende | |
Dur-Noten, flankiert von zärtlich intonierten Moll-Akkorden. | |
Melancholie durchzieht die Improvisation. Der britische Künstler Robert | |
Connor hat den Raum gute fünf Minuten für sich, bevor sich eine tiefe | |
Stimme auf den Klaviersound setzt. Mit den Zeilen „As circles are rejoined | |
and war begins / My friend in madness at the bar still sings“ katapultiert | |
sein Kollege Hywel John seine Zuhörerschaft aus dem kontemplativen | |
Musikhören hinaus. | |
Er verkündet die für ihn wichtigen Koordinaten im ersten Satz: In Europa | |
herrscht wieder Krieg. Und: Ort der Handlung ist eine namenlose Bar in | |
Berlin. Johns Stimme wirkt gehetzt. | |
Und das kommt glaubwürdig daher, bei Hywel John, der eigentlich als | |
Schauspieler und Dramaturg arbeitet, so, als ob er von jemandem verfolgt | |
würde. In den nächsten 30 Minuten wird er sich rezitierend durch Zeiten und | |
Orte bewegen und Berlin als Setting trotzdem nicht verlassen. | |
Connor ist Schotte und John Waliser. Im ehemaligen Funkhaus des | |
DDR-Rundfunks hat das Duo mit „The Tsar“ sein gemeinsames Debütalbum | |
aufgenommen und widmet es der Wahlheimat. | |
Johns Poem lässt ein „Ich“ sprechen, das für alle Zeitebenen durchlässig | |
ist. Dennoch kommt der russische Angriffskrieg in der Ukraine als Thema | |
immer wieder an die Textoberfläche, etwa als ukrainischer Baum, der in | |
Sichtweite steht und befreit werden muss. | |
## Gewaltiger Bewusstseinsstrom | |
Der Monolog mutet an wie ein gewaltiger Bewusstseinsstrom, der sich aus | |
jemandem im Berliner Nachtleben herauspresst. Bilder werden skizziert, in | |
denen sich die Epochen regelmäßig überlappen. Der Zweite Weltkrieg rückt in | |
Johns Vortrag ebenfalls nah. Die UdSSR beziehungsweise Russland auch. | |
Darum streut er in sein Langgedicht immer wieder deutsche und auch | |
russische Worte: Nein und njet, ja und da sowie Deutsche, genau, Schwein | |
und Führer. Ironie liegt ihm fern. | |
Der Blick von „The Tsar“ auf Berlin ist melancholisch-empathisch. Im | |
Bewusstseinsstrom entsteht ein Blick auf eine Metropole, der durch die | |
Banalitäten des Alltags hindurch sieht und pathosfrei in die Tiefe geht. | |
Connor webt dazu einen Klangteppich am Klavier, der dieselbe dramaturgische | |
Funktion hat wie expressionistische Stummfilm-Musik. [1][Vor hundert Jahren | |
sorgte Dmitri Schostakowitsch] als Pianist für Stimmung, Spaß und Spannung | |
im Kino. | |
Und 2024 sitzt Connor am Flügel im Funkhaus und schafft eine eigenständige | |
Klangebene zu dem galoppierenden Text. Was dazu führt, dass man nicht | |
selten mehrere Assoziationsebenen vorm inneren Auge hat. So entwickelt | |
Connor Moll-Tonfolgen, die sich wie langsam schaukelnde Wellen anfühlen. | |
Während der Text von Bunkern, spielenden Kindern und einem gewissen Vlad in | |
der Bar erzählt, schieben sich die Piano-Wellen immer deutlicher nach vorn. | |
[2][Bilder entwickeln sich, in denen Berlin von friedlich-unaufgeregten | |
Wellen langsam geflutet wird, ein Gemälde von bizarrer Schönheit.] | |
Das einzige Gegenüber, das Johns „Ich“ anspricht, ist Vlad. Vlad ist die | |
Abkürzung von Wladimir. Ein russischer Allerweltsvorname – und der Vorname | |
Putins. Johns „Ich“ textet Vlad an, ohne den Diktator explizit zu nennen: | |
„Tsars aren’t real / Don’t you see? / You’re not really rich, nor great… | |
And if you get your wish to butcher for eternity / The ditch you dig for | |
everyone will be yours too.“ | |
Unaufgeregt und gesund-respektlos wird hier das Theatrale in den | |
Repräsentationsformen von totalitären Staaten beim Theater, also der | |
Fiktion, verortet und nicht in der Realität. Im nächsten Satz wird Vlad | |
Größe abgesprochen. Dann die lapidare Feststellung: „Und wenn du in | |
Ewigkeit regieren wirst und vielen eine Grube gräbst, fällst irgendwann | |
auch du hinein.“ | |
Im letzten Satz haucht John erschöpft: „Keine Angst mehr. Niemals.“ Dazu | |
laufen Connors Finger von Moll nach Dur. Akkorde schwingen sich nach oben, | |
Leichtigkeit breitet sich aus. Kurz ist sogar die Melancholie verschwunden. | |
Der extrem tiefe Mollton, der zum Finale erklingt, wirkt wie ein | |
Vorschlaghammer. Jetzt schnell auf den Kopf konzentrieren: Da ist noch das | |
friedlich geflutete Berlin. | |
25 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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