| # taz.de -- Cellistin über Dmitri Schostakowitsch: „Er würde sich die Händ… | |
| > Mit Krisen kannte Dmitri Schostakowitsch sich aus. Ein Gespräch mit | |
| > Elizabeth Wilson, deren Vortrag über den Komponisten wegen Corona | |
| > ausfallen musste. | |
| Bild: Musikalisches Genie der Krise: Dmitri Schostakowitsch | |
| taz: Frau Wilson, bevor wir zu Schostakowitsch kommen, müssen wir über die | |
| Coronapandemie reden. Vor Kurzem waren die Deutschen noch selbstsicher, sie | |
| dachten, das Virus könne ihnen nichts anhaben. Als nahe Turin lebende | |
| Britin, wie beurteilen Sie die Lage in Italien, was erwarten Sie von | |
| Europa? | |
| Elizabeth Wilson: Auch hier in der Region glaubten die Menschen zunächst | |
| nicht, dass das Virus aus der Lombardei herüberschwappen würde. Als es sich | |
| hier ausbreitete, fühlte sich Norditalien im Stich gelassen. Nachdem die | |
| erste Panik abflaute, ist Italien zu großer Form aufgelaufen. Die Menschen | |
| helfen sich gegenseitig, so gut sie können. PflegerInnen und ÄrztInnen sind | |
| wahre Helden. | |
| Europa muss stärker kooperieren, um die Ausbreitung wenigstens zu | |
| verlangsamen. Ich hoffe, daraus entsteht ein Lernprozess, was für uns als | |
| Gesellschaften überlebenswichtig ist, was wir ändern müssen. Wenn wir diese | |
| Krise überstehen, können wir nicht weitermachen wie bisher. | |
| Dieser Tage sollten Sie in der Berliner Barenboim-Said-Akademie den | |
| Eröffnungsvortrag der „Edward-Said-Tage“ halten. Die Veranstaltung wurde | |
| jetzt natürlich abgesagt. Sie wollten über das künstlerische Erbe des | |
| Komponisten Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) sprechen. Was sagt uns sein | |
| Künstlerethos gerade jetzt? | |
| Seine Karriere fand inmitten der [1][Wirren des 20. Jahrhunderts statt], | |
| was ihm jahrzehntelange prekäre Lebensumstände bescherte. Weil er eine | |
| sensible Persönlichkeit war, hat er den Krisenzustand umso heftiger | |
| wahrgenommen und in seine Musik eingeschrieben. Was hätte Schostakowitsch | |
| zum Coronavirus gesagt? Durch die Erfahrung der Armut, in der er aufwuchs, | |
| war er für seine penible Reinlichkeit bekannt. Er hätte sich jetzt ständig | |
| die Hände gewaschen. | |
| All jenen, die nach wie vor in einer Diktatur leben, die unschuldig im | |
| Gefängnis sitzen, dient seine unbeugsame Kunst als enorme Inspiration. Aber | |
| auch für alle anderen steht sein Werk als Mahnmal, dass eine | |
| Schreckensherrschaft wie jene unter Stalin niemals wieder geschehen darf. | |
| Als Musikstudent in der jungen Sowjetunion der 1920er begleitete er | |
| Stummfilme am Piano. Wie hielt er es mit der Sowjetavantgarde in Film, | |
| Literatur und bildender Kunst? | |
| Da sein Vater früh verstorben war, musste Schostakowitsch als Teenager die | |
| Familie ernähren. Stummfilmbegleitung fiel ihm nicht leicht: Er spielte | |
| etwa zu einer Doku über schwedische Wasservögel und verstörte so die | |
| Zuschauer im Saal, weil er banale Szenen mit schrägen Improvisationen | |
| garnierte. 1928 erhielt er trotzdem einen Auftrag und komponierte für den | |
| Experimentalfilm „Das neue Babylon“ in der Regie von Kosinzew/Trauberg, die | |
| zur Avantgardegruppe „Fabrik der exzentrischen Schauspieler“ gehörten. | |
| Er dachte sich dafür kontraintuitive Musik aus, die dem Geschehen auf der | |
| Leinwand widersprach. Seine Theater- und Ballettmusiken standen zunächst | |
| im Einklang mit der neuen proletarischen Ideologie und entgingen so der | |
| Zensur. Ende der 1920er, Anfang der 1930er entstanden die mächtigen | |
| proletarischen Gewerkschaften und wandten sich explizit gegen Avantgarde. | |
| Das Ringen um künstlerische Freiheit wurde für Schostakowitsch und den mit | |
| ihm befreundeten Schriftsteller Daniil Charms gefährlich. Deshalb waren | |
| Auftragsarbeiten für den Film kreative Schlupflöcher und zugleich dringend | |
| benötigte Einnahmequellen. | |
| Die Sowjetunion propagierte ein neues Menschenbild. Inwieweit stimmte er | |
| damit überein? | |
| Nach 1932, als jede Form von Opposition unterdrückt wurde und der | |
| Gewerkschaftsapparat strafferer Führung unterlag, kam Kunst unter | |
| staatliche Totalkontrolle. Musik bekam den Auftrag, offiziell Propaganda zu | |
| verbreiten. Und der neue Sowjetmensch wurde somit in Abkehr vom eher | |
| marxistisch geprägten Weltbild unmittelbar nach der Oktoberrevolution zur | |
| schwülstigen Heldenfigur. Nun ging es um die Erfüllung der Fünfjahrespläne. | |
| Das Freund-Feind-Schema war simpel: hier die sozialistische Welt, dort | |
| Kapitalisten, Ausbeutung und Dekadenz. Schostakowitsch setzte Parodie als | |
| Stilmittel bewusst ein und drückte darin Gegensätze aus, auch Emotionen, | |
| die ihm selbst fernlagen. Im Ballett „Das Goldene Zeitalter“ (1929) ging es | |
| um ein kapitalistisches Fußballteam. Das Setting wurde bei ihm subversiv | |
| mit Jazz- und Tangoelementen symbolisiert. | |
| Sowjetische Zuhörer liebten besonders diese Stellen, weshalb sich der | |
| Komponist dem Vorwurf des Formalismus ausgesetzt sah. | |
| Die musikalische Moderne beginnt mit Gustav Mahler. Inwieweit führte | |
| Schostakowitsch dessen Tradition fort? | |
| Seine Musik klingt absolut modern, zudem führt sie russische | |
| Traditionslinien nach Strawinsky und Mussorgsky weiter. Selbstverständlich | |
| bekam er Entwicklungen im Ausland mit. Anfang der 1920er gastierten Paul | |
| Hindemith und Alban Berg in Leningrad. Bergs Oper „Wozzeck“ war Blaupause | |
| für seine Oper „Lady Macbeth“: In beiden Werken geht es um die Themen | |
| Leidenschaft und Gewalt. | |
| Und richtig: Mahlers Sinfonien standen Pate für das sinfonische Werk von | |
| Schostakowitsch. Interessant ist, dass sein bester Kumpel Iwan Sollertinski | |
| das Werk Mahlers in der Sowjetunion einführte. Er gründete in den 1920ern | |
| eine Mahler-Gesellschaft und veröffentlichte 1934 das erste russische Buch | |
| über den Wiener, just zu dem Zeitpunkt, als Mahlers Musik in | |
| Nazideutschland wegen antisemitischer Vorurteile nicht mehr gespielt wurde. | |
| Wie konnte Schostakowitsch dem sozialistischen Realismus entsprechen, der | |
| in den 1930ern gefordert wurde? | |
| Das stellte ihn vor Rätsel. Wie sollte ein literaturwissenschaftlicher | |
| Begriff in Musik übersetzt werden, jenseits davon, dass Realismus in | |
| tonaler Musik zum Ausdruck kommen muss? Dazu die Idee der Heroisierung der | |
| Arbeiterklasse: In einem ersten Schritt taufte Schostakowitsch seine | |
| avantgardistische 3. Sinfonie 1929/30 „Sinfonie 1. Mai“. | |
| Da half wiederum Iwan Sollertinski und schlug Mahler als Modell vor. Denn | |
| der Österreicher überführte Idiome aus der Volksmusik und der urbanen | |
| Singkultur in sein sinfonisches Werk. Durch Mahler wurde es möglich, einen | |
| Militärmarsch zu zitieren. Schostakowitsch nahm solche kompositorischen | |
| Impulse in seine 4. Sinfonie mit auf. | |
| Warum wurde im Januar 1936 in der Prawda eine vernichtende Kritik über ihn | |
| abgedruckt? | |
| Stalin sah eine Aufführung seiner Oper „Lady Macbeth“ am Bolschoi-Theater. | |
| Der Plot hat den Machthaber elektrisiert: eine Frau, die für die Gunst | |
| ihres Liebhabers andere Männer ermordet. Die Rezension stammte von David | |
| Zaslawski, der wiederum in seinen Memoiren behauptete, er habe ausdrücklich | |
| Schostakowitschs Talent gelobt. | |
| Es lässt sich nicht ermitteln, ob diese Stelle zensiert wurde. | |
| Schostakowitsch wurde in einer zweiten vernichtenden Kritik im Februar 1937 | |
| erneut an den Pranger gestellt. Darin ging es um sein Ballett „Der helle | |
| Bach“, das von einer Kolchose handelt. | |
| Im seinem Roman [2][„The Noise of Time“] (2016), der sich maßgeblich auf | |
| Ihre Forschungen stützt, legt Julian Barnes dem Komponisten Folgendes in | |
| den Mund: „Kunst gehört ebenso wenig den Menschen und der Partei wie früher | |
| dem Adel. Kunst ist ein Seufzer der Geschichte, den man aus dem Getöse der | |
| Zeitläufte heraushören kann.“ Trifft Barnes den Ethos des Komponisten? | |
| So ein Statement wäre für Schostakowitsch lebensgefährlich gewesen, wenn er | |
| es in der Öffentlichkeit geäußert hätte. In Russland sprach man von ihm als | |
| Meister des Subtextes. Er verstand sich sehr gut darauf, sein Werk so zu | |
| gestalten, dass Interpretationsspielräume offenblieben. | |
| Er wollte, dass sein sinfonisches Werk als pure Musik begriffen wird, | |
| während seine Zeitgenossen glaubten, er sei Chronist der sowjetischen | |
| Gesellschaft. Natürlich tröstete seine Musik die Menschen in schweren | |
| Zeiten, sie hörten darin ein Echo der brutalen stalinistischen | |
| Verfolgungen, aber auch des Wahnsinns im Zweiten Weltkrieg. Dessen war sich | |
| der Komponist bewusst. | |
| Schostakowitsch wurde von Stalin zum Sündenbock abgestempelt, sein Leben | |
| geriet aus den Fugen. Wie hat er überlebt? | |
| Schostakowitsch ging nicht mehr zu den Treffen der Gewerkschaft. Sein | |
| Schwager, seine Schwiegermutter und eine der beiden Schwestern mussten | |
| jedoch ins Exil oder kamen in Haft. Er selbst entging direkter Gewalt. In | |
| der Komposition der 5. Sinfonie zitiert er etwa aus einem Gedicht von | |
| Puschkin, das davon handelt, wie eine Malerin ihre Gemälde übermalt. Er | |
| versuchte den Wahnsinn musikalisch abzubilden. | |
| Indem er das Finale im vierten Satz in D-Dur quälend lange hat ausklingen | |
| lassen? | |
| Das ist äußerst kompromisslos, natürlich war die Dur-Coda eine bombastische | |
| Apotheose der sowjetischen Gesellschaft, damit entsprach er gleichzeitig | |
| dem sozialistischen Realismus, eine irre Gratwanderung. Das zentrale Motiv | |
| im kontemplativen dritten Satz wurde wiederum mit der Shakespeare-Figur des | |
| Hamlet als selbstbewusstem, kämpferischem Monarchen verglichen, der trotz | |
| aller Widerstände lösungsorientiert und moralisch intakt bleibt. Zum | |
| Missvergnügen von Stalin. Umso mehr liebte die sowjetische Öffentlichkeit | |
| dieses Werk. | |
| Und dann geschah das Wunder, dass die 5. Sinfonie plötzlich als | |
| Schostakowitschs Antwort auf die Kritik der Apparatschiks akzeptiert wurde. | |
| Das währte nur kurz, 1942 im Zweiten Weltkrieg konnte er mit seiner Familie | |
| im letzten Moment aus dem von der Wehrmacht belagerten Leningrad flüchten. | |
| Von 1948 bis zu Stalins Tod 1953 wurde Schostakowitsch dann | |
| Kosmopolitanismus vorgeworfen, eine kaum verhüllte Form von Antisemitismus. | |
| In jener Zeit komponierte er für die Schublade. | |
| In Ihrem Buch erwähnen Sie seine Kosenamen. Dem Terror zum Trotz haben ihn | |
| FreundInnen und Fans verehrt und zärtlich Mitja, Dmitri Dimitrewitsch oder | |
| Stochtakowitsch genannt. | |
| Stochtakowitsch heißt so viel wie „Was-ist-los-owitsch“. Als ich 1964 nach | |
| Moskau zum Studieren ans Konservatorium kam, war sein Werk weit über | |
| Musikkreise hinaus geschätzt, man sprach ehrfürchtig von ihm als Meister. | |
| Es war bekannt, wie sehr sein Privatleben unter der Verfolgung Stalins | |
| gelitten hatte. In der Öffentlichkeit zu stehen bereitete ihm große Mühen. | |
| Am Konservatorium galt die Regel, ihn am besten nicht zu stören. | |
| Wie war es als britische Musikstudentin im Moskau der 1960er? | |
| Ich musste sehr aufpassen, was ich wem wo und wie sagte. Mein Alltag wurde | |
| erst erträglich, als ich Freunde fand. Mit ihnen habe ich ausgiebig gelacht | |
| und bald gelernt, dass die Menschen das Gegenteil meinten von dem, wie sie | |
| es sagten. Mir kam diese Doppeldeutigkeit vor, als hätte sie sich George | |
| Orwell ausgedacht. Um Politik ging es so gut wie nie, dafür wurde | |
| leidenschaftlich über Sport, Liebe und Kino diskutiert. | |
| Obwohl sie nicht reisen konnten, kannten sich die Moskowiter bestens in | |
| Paris aus, weil sie alles von Balzac und Proust gelesen hatten. Der | |
| Bildungsgrad zu Sowjetzeiten war höher als heute. Wenige waren wohlhabend, | |
| fast niemand konnte reisen, aber alle kamen in den Genuss von Bildung. | |
| Heute ist die Kluft zwischen Reich und Arm riesig. | |
| Wie ist der Stellenwert von Schostakowitsch im gegenwärtigen Russland? | |
| Als ich die Recherche für mein Buch um 1980 aufgenommen hatte, war sein | |
| Werk für die zeitgenössische Musik kaum noch relevant, das änderte sich | |
| erst allmählich. Meine Arbeit nach 1989 erschwerte dann die | |
| Wendehalskultur: Leute aus dem politischen Apparat, die behaupteten, sie | |
| seien immer schon Förderer von ihm gewesen. Es begann ein zäher Konflikt um | |
| Deutungshoheit. | |
| Das Werk von Dmitri Schostakowitsch ist zwar heute wieder anerkannt, mich | |
| schockiert aber, wie wenig junge RussInnen über sein Leben und seine Zeit | |
| wissen. | |
| 29 Mar 2020 | |
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